Warum wir ins Theater gehen
von Daniel Schreiber
Falk Richters neue Theaterstücke, die in diesem Band versammelt sind, waren für mich ein Grund, warum ich in den vergangenen Jahren ins Theater gegangen bin. Vielen anderen Zuschauern ging das genauso. Denn diese Stücke finden eine genuine Antwort auf die Frage, warum es sich immer noch lohnt, ins Theater zu gehen.
Das explosive Zentrum, um das „Fear“, „Je suis Fassbinder“, „Città del Vaticano“, „Safe Places“ und „Verräter“ kreisen und auf das sie auf unnachgiebige, ja manische und repetitive Weise immer wieder zurückkommen, ist der politische Erdrutsch, den wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Ich kann mich an keine Zeit meines Lebens erinnern, in der die politische Mitte in Deutschland so sehr wegzubrechen drohte. Der Aufschwung rechtsnationaler Bewegungen ist natürlich ein internationales Phänomen, das in vielerlei Hinsicht als eine populistische Gegenreaktion auf die Globalisierung verstanden werden kann. In Deutschland jedoch trafen uns diese Entwicklungen aufgrund unserer historischen Erfahrungen und ihrer scheinbaren Aufarbeitung überraschend. Ungläubig müssen wir dabei zusehen, wie völkische Ideologien medial wieder in den Mittelpunkt gerückt werden, wie Menschen in Talkshows sitzen und offen gegen Ausländer, Schwule und Lesben hetzen, ungläubig müssen wir von Anschlägen auf Flüchtlinge und Flüchtlingsheime lesen. Die Gruppierungen und Köpfe dieses Rechtsrucks umgeben sich dabei noch mit dem zynischen Opfer-Nimbus mutiger, vom Mainstream unterdrückter Gruppen, die das sagen, was das Volk angeblich denke. Das Kalkül dieser Gruppen scheint dabei vor allem in einem Frontalangriff auf die Grundfesten unserer Demokratie zu liegen. Auch angesichts von Brexit und Trumpismus, von Putins weltweit wachsendem Einfluss und Erdog˘ansMachtausbau sorgen diese Entwicklungen für das Gefühl, dass in den vergangenen beiden Jahren eine Ära der Stabilität zu Ende gegangen ist, von der viele von uns geglaubt hatten, sie würde für immer andauern.
Richter geht diese Themen an, indem er erzählerische, dokumentarische, agitatorische, satirische, lyrische und performative Strategien auf wirkungsvolle Weise vereint. Das Resultat ist ein Theater, das mit allen Mitteln um die Aufmerksamkeit des Publikums ringt und dabei in seinem eigenen Erregungspotential kalkuliert über das Ziel hinausschießt. Und genau in diesen Momenten der Erregungsüberschreitung legt Richter den Finger in die Wunde der Veränderungen, die unser öffentlicher Diskurs und unsere politischen Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren durchlaufen haben. Veränderungen, die sich vor allem in einer merklichen Erhöhung der Lautstärke der politischen Diskussion und in einem Aufpeitschen kollektiver Stimmungen äußern. Wie die von Daniel Lommatzsch verkörperte Figur in „Verräter“ erklärt: „(D)as ganze rechtsnationale Brainwashing der letzten Monate hat die Sprache derart ausgehöhlt, dass alles, was nicht mehr so voll erregungszustandsmäßig knallt, irgendwie lahm oder impotent klingt“. Falk Richters Stücke kann man in diesem Sinne als theatrale Interventionen verstehen, welche die Erregungslogik, die unsere Öffentlichkeit heute bestimmt, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen versucht. Mit Wut gegen Wutbürger. Mit Agitprop gegen rechte Propaganda. Mit aggressiver Satire gegen eine Ideologie, die über weite Strecken selbst wie eine unfreiwillige Satire wirkt. Mit öffentlicher Mobilmachung also gegen öffentliche Mobilmachung.