Infame Erzähler, unmögliche Stimmen

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1. Suspekte Erzähler.

Was kann die Literaturwissenschaft zu einem Gespräch über gefährliche Perspektivübernahmen beitragen, an dem unter anderem auch Polizisten, Gerichtsgutachter und Juristen beteiligt sind? Weniger ihr Material, also Geschichten, denn Geschichten erzählen – das können auch die Ermittler, die Anwälte, die Richter und die Gutachter; und sie tun es, wie man seit Langem weiß, gelegentlich mit großem Raffinement. Nein, wenn die Literaturwissenschaft zu einem solchen Gespräch überhaupt etwas beizusteuern hat, dann kann es nur ihr Wissen über diskursive Formen sein – über bestimmte Formen des Darstellens, ohne die etwa ein Begriff wie „Täterperspektive“ gar nicht denkbar wäre. Deshalb handelt dieser Beitrag auch nicht von einem bestimmten Fall, einer bestimmten „infamen Perspektive“, sondern von der strukturellen Infamie eines bestimmten Typus von Perspektive.

„Infame Perspektiven“ – Die Installation, Foto Niklas Harmsen
„Infame Perspektiven“ – Die Installation, Foto Niklas Harmsen

Dieses Interesse an Darstellungsformen hat auch damit zu tun, dass die inhaltliche „Skandalkompetenz“ der Literatur in den letzten hundert Jahren zunehmend von anderen Medien in den Schatten gestellt worden ist. „Das Infame“, so einer der Teilnehmer des Symposions, „hat die Bücher verlassen“, um sich anderswo einzunisten – zum Beispiel im Internet. Auch wenn man dies angesichts der ungebrochenen Beliebtheit literarischer Skandale bezweifeln darf, so ist doch unverkennbar, dass Literaturskandale in aller Regel nicht nur von Inhalten ausgelöst werden. Sie sind vielmehr untrennbar von Fragen der erzählerischen Perspektive, ja sie erscheinen primär perspektivisch bedingt. Das galt bereits für klassische Skandaltexte wie Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, Flauberts Madame Bovary oder Nabokovs Lolita, die jeweils mit erzähltechnischen – und das heißt hier: perspektivischen – Zumutungen aufwarteten; es galt in jüngerer Zeit auch für die Debatten um Jonathan Littells Les bienveillantes.1

Nun spielt das Wort „Perspektive“ im technischen Vokabular der Erzählforschung heute keine große Rolle mehr. Dafür mag es in deskriptiver Hinsicht gute Gründe geben, in psychologischer Hinsicht aber ist es ein Nachteil, denn dadurch gerät eine der elementaren Funktionen erzählender Literatur aus dem Blick: Sie stellt ein seit Jahrhunderten betriebenes, gewaltiges Laboratorium der Perspektivübernahme dar; und ihre Attraktivität für Leser beruht nicht zuletzt darauf, dass sie deren Fähigkeit und Bereitschaft dazu immer neu herausfordert. Wenn man, von Routine und Jargon verleitet, nur noch mit der Klassifikation von Erzählerpositionen beschäftigt ist, läuft man Gefahr, die psychologische Basis dieses unermüdlichen Experimentierens aus den Augen zu verlieren. Es ist freilich unverkennbar, dass es im Perspektivenlabor der Literatur bestimmte Grundformen gibt, die jeweils ihre eigene Geschichte haben. Eine von ihnen ist die Ich-Erzählung. Innerhalb der jahrhundertealten Geschichte dieser Form zeichnet sich wiederum ein Typus ab, den man als infame Ich-Erzählung bezeichnen kann. Sie stellt, wie zu zeigen sein wird, in gewissem Sinne den Inbegriff dieses Typus dar.

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