Infame Erzähler, unmögliche Stimmen

von

4. Die Infamie des Lesers
Was folgt aus diesem literarischen Beispiel, was folgt überhaupt aus dem Beispiel der Literatur für die Frage nach der infamen (der bösen, der gefährlichen, der kranken, der kränkenden) Perspektive? Unter dem Einfluss der Kognitionswissenschaft ist es üblich geworden, die frivole Tätigkeit des Romanlesens mit einem sittsamen Bezug zur sozialen Selbstbehauptung zu versehen, indem man Fiktionen als eine Art Trainingsprogramm für Perspektivübernahme bestimmt.30 Die infamen oder unmöglichen Perspektiven, von denen die Rede war, wären dann lediglich die etwas härteren Trainingseinheiten im Programm. Diese Logik des selbstoptimierenden workout auf den Umgang mit Literatur zu übertragen, ist ebenso konformistisch wie intellektuell unbefriedigend. Die Übertragung krankt nicht zuletzt an der Schwäche des Begriffs „Perspektivübernahme“. Um zu erklären, auf welche Weise Erzähler wie Nabokovs Humbert Humbert oder Faulkners Benjy ihre Leser erreichen, muss man die Beziehung zwischen Text und Leser komplexer konstruieren. Was der Begriff „Perspektivübernahme“ ausblendet – und ausblenden soll –, ist die Tatsache, dass Texte wie die genannten ihre Leser immer auch in ein libidinöses Geschehen verstricken, eine Beziehung, ein Hin und Her von Zu- und Abneigung, mit anderen Worten, eine Identifizierung. Dieser Begriff lässt sich hier nicht länger vermeiden: Erzähler sind Ich-Modelle, und wer diese Modelle verstehen will, kann auf die Begriffe der Ich-Psychologie nicht verzichten.

Vor diesem Hintergrund kann man die Trainingslager-Geschichte ein wenig umformulieren: Eine der Funktionen von Literatur besteht darin, im geschützten Raum des Lesens das Durchleben bestimmter Identifizierungen zu ermöglichen. Dass von der Inszenierung infamer Perspektiven eine identifikatorische Verführung ausgeht, ist angesichts unzähliger Skandalerfolge nicht zu leugnen. Die Abwehr, die diesen Inszenierungen entgegenschlägt, ist also in gewissem Sinne berechtigt. Sie hat allerdings da unrecht, wo sie einen Alles-oder-nichts-Begriff von Identifizierung zugrunde legt. Hinter diesem steht ein archaisches Konzept vom Ich als abgeschlossener Einheit. Wenn man dagegen – psychoanalytisch – vom Ich als einer konfliktiven, prinzipiell „unheilen“ Struktur ausgeht, dann kann man auch partielle Identifizierungen, spielerische, reversible, widersprüchliche oder sich selbst negierende Identifizierungen denken.

Damit sind wir bei der Infamie des Lesers, um die es natürlich implizit die ganze Zeit schon ging. Lässt man solche partiellen Identifizierungen zu, dann wird es leichter, zu verstehen, was Leser bei der Art von Büchern suchen, von der die Rede war. Vielleicht müssen sie durchspielen, was sie nicht sein wollen und doch zu sein fürchten. Man liest auch, um das Unheilvolle in sich zu benennen und mit ihm Fühlung zu halten; um sich abzugrenzen von dem, was Angst macht – unter anderem die Angst, es zu sein. Man liest auch, um Stellvertreter zu aktivieren, die man belasten kann. Das erinnert noch einmal an die Sündenbock-Funktion, von der im Zusammenhang mit Benjy die Rede war. Eine solche Ausweitung der identifikatorischen Zone kann nur eine widerwillige, zwiespältige, fragmentarische sein. Sie schafft eine Bindung zwischen Leser und Text, die nichts mit Sympathie zu tun hat und trotzdem stark sein kann.

1 Dazu: Martin von Koppenfels: Schwarzer Peter. Der Fall Littell, die Leser und die Täter, Göttingen 2012.
2 Dazu: Jochen Schulte-Sasse: „Perspektive/Perspektivismus“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, hrsg. von Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/Friedrich Wolfzettel, Stuttgart 2010, S. 758–778, hier S. 769 f.
3 Dazu: William F. Edmiston: „Focalization and the first-Person Narrator: A Revision of the Theory“, in: Poetics Today, 10.4 (1989), S. 729–744.
4 Vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler, München 2007, S. 236.
5 Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M. 1999, Bd. 13, S. 286; Jacques Lacan: Les écrits techniques de Freud, Paris 1974, S. 22.
6 Zu unterscheiden von der Art, wie Michel Foucault in „La vie des hommes infames“ (Dits et écrits II, 1976–1988, Paris 2001, S. 237–253) den Begriff „Infamie“ gebraucht. Er konstruiert ihn etymologisch als bloße Negation des „Sprechens“ (fari). „Infam“ sind für Foucault nicht diejenigen, die in Verruf, sondern die in gar keinen Ruf geraten sind, weil ihre Verbrechen zu banal waren.
Einen anderen, mit dem Akt des Schreibens verknüpften Begriff von Infamie deutet Foucault allerdings an, wenn er den von ihm herausgegebenen Bericht des Mörders Pierre Rivière als „Teil der kriminellen Tat“ bezeichnet. Als ein exemplarisches Dokument der infamen Ich-Perspektive im hier vertretenen Sinn erweist sich Rivières Bericht durch das entscheidende erste Wort: „Moi, Pierre Riviere, ayant égorgé ma mére, ma soeur et mon frére …“ (Moi, Pierre Rivière, hrsg. v. Michel Foucault, Paris 1973, S. 89. Dazu: ebd., S. 322; sowie Geisenhanslüke: „Foucault, die Infamie und die Literatur“, in: Achim Geisenhanslüke/Martin Löhnig (Hg.): Infamie. Ehre und Ehrverlust in literarischen und juristischen Diskursen, Regenstauf 2012, S. 32).
7 Eigentlich eine Fußnote: Fjodor Dostojewski: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, übers. von Swetlana Geier, Frankfurt a. M. 2006, S. 7.
8 Fjodor Dostojewski: Böse Geister, Frankfurt a. M. 2009, S. 591.
9 Jorge Luis Borges: El Aleph, Buenos Aires 1989, S. 85.
10 Quelle: „Romance Writers of America“ (http://www.rwa.org/p/cm/ld/fid=580). Letzter Aufruf: 20.9.2014.
11 Schulte-Sasse: „Perspektive/Perspektivismus“, S. 778, spricht von der „Entwertung perspektivischen Erzählens“ im 20. Jahrhundert.
12 William Faulkner: The Sound and the Fury, Vintage International Edition, New York 1990, S. 180. Zitate von jetzt an mit bloßer Seitenangabe in Klammern.
13 „Faulkner discusses The Sound and the Fury“, in: Twentieth Century Interpretations of The Sound and the Fury, hrsg. v. Michael H. Cowan, Englewood Cliffs 1968, S. 14–24, hier S. 15.
14 George R. Stewart, Joseph M. Backus: „Each in Its Ordered Place: Structure and Narrative in ‚Benjy’s Section‘ of The Sound and the Fury“, in: American Literature, 29.4 (1958), S. 440–456, hier S. 449.
15 „Faulkner discusses The Sound and the Fury“, S. 14, S. 16.
16 „told by someone only capable of knowing what happened, but not why …“ (ebd.).
17 John T. Matthews: „The Discovery of Loss in The Sound and the Fury“, in: William
Faulkner’s The Sound and The Fury, hrsg. v. Harold Bloom, New York 1988, S. 79–102,
hier S. 87.
18 Marco Roth: „Rise of the Neuronovel“, in: n+1 Nr. 15 (14. Sept. 2009) – http://nplusonemag.com/rise-neuronovel.
19 Matthews („The Discovery of Loss“, S. 89) spricht von „eternal childhood“.
20 „Faulkner’s exploitation of idiocy“ ist daher in letzter Zeit zum Stein des Anstoßes geworden (Maria Truchan-Tataryn: „Textual Abuse. Faulkner’s Benjy“, in: Journal of Medical Humanities, 26. 2/3 (2005), S. 159–172, hier S. 163). Diese Art der ideologiekritischen Lektüre kann – ja muss – immerhin den phantasmatischen Charakter einer Figur wie Benjy anerkennen. Doch sie ist nicht in der Lage, darin etwas anderes zu sehen als ein diskursgeschichtliches Dokument.
21 Vgl. Roth: „Rise of the Neuronovel“.
22 Patrick Samway, Gentry Silver: „In The Sound and the Fury, Benjy Compson Most Likely suffers from Autism“, in: Faulkner Journal of Japan, 12 (2010, online), S. 1–27. Die dort und anderswo vertretene Autismus-Diagnose stellt zumindest einen halben Anachronismus dar. Zur Zeit der Entstehung von The Sound and the Fury war das heute so bezeichnete Syndrom noch nicht klar vom Krankheitsbild der Schizophrenie geschieden.
23 Matthews: „The Discovery of Loss“, S. 88.
24 Vgl. ebd., S. 87.
25 „Faulkner discusses The Sound and the Fury“, S. 14.
26 Stewart, Backus: „Each in Its Ordered Place“, S. 452.
27 Vgl. René Girard: A Theater of Envy. William Shakespeare, Oxford, New York 1991, S. 273. Dazu auch: René Girard: Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt a. M. 1986.
28 Twentieth Century Interpretations of „The Sound and the Fury“, S. 7.
29 „Faulkner discusses The Sound and the Fury“, S. 14.
30 Sehr plakativ: Lisa Zunshine: „Why is Reading a Detective Story a Lot like Lifting Weights at the Gym“, in: dies. (Hrsg.): Why We Read Fiction, Columbus 2006, S. 123–128. Vgl. auch: Martin von Koppenfels: „Fiktionen fremden Bewusstseins“, in: Other Minds. Die Gedanken und Gefühle anderer, hrsg. v. Ricarda Schubotz, Paderborn 2008, S. 7–18, hier S. 14.

Aus S. 16–30.

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