Scipione Maffei, La Merope und Vittorio Alfieri, Merope
Die aufklärerische Tragödie zwischen Mitleidsästhetik und Erhabenheit
von Daniel Winkler
Der Merope-Stoff macht die von einem schweren Schicksal gezeichnete Frau von Kresphontes zum Thema: Bevor die Handlung beginnt, hat sie bereits zwei ihrer Kinder und ihren Mann verloren, durch die Hand von dessen Bruder Polyphontes, der diesen als Herrscher von Messene ablöst. Der Stoff stammt aus der griechischen Antike und geht historisch gesehen auf das Dramenfragment1 Kresphontes des Theaterautors Euripides zurück. Ihre Präsenz im 18. Jahrhundert verdankt die Geschichte um die Mutter Merope v. a. der Erwähnung durch Aristoteles in seiner Poetik, die in der Renaissance in Italien eine intensive Rezeption erfuhr. Der Stoff avanciert aber erst im 18. Jahrhundert zu einem europaweit populären Tragödiensujet, auch wenn es schon zuvor einige Bearbeitungen gab. Nachdem Apostolo Zeno auf Basis des Stoffes ein Libretto verfasst hat (1711), das noch im gleichen Jahr von Francesco Gasparini vertont und im Dezember im San Cassiano in Venedig uraufgeführt wird, schreibt der Veroneser Kunstsammler Scipione Maffei kurz darauf die Tragödie La Merope, die in der Folge (1713–14) von dem Schauspieler und Theaterreformer Luigi Riccoboni umgesetzt wird. Der erfolgreichen Aufführungsserie in Venedig folgen im Laufe des 18. Jahrhunderts zahlreiche Auflagen des Stückes sowie Neubearbeitungen durch andere Autoren wie Voltaire und Vittorio Alfieri, der die kompakteste aller Merope-Tragödien verfasst. Begleitet wird dieser Boom des Stoffes aber auch von intensiven poetologischen Debatten über die Frage nach der angemessenen Form der Tragödie im Zeitalter der Aufklärung. Diese poetologischen und theatergeschichtlichen Aspekte sollen hier, nach einigen Ausführungen zum Stoff selbst, anhand von Maffeis und Alfieris Tragödien, die diesbezüglich die extremen Pole der Merope-Welle bilden, ins Zentrum gerückt werden.2
Ein antiker Stoff und die aristotelische Poetik
Maffei verfasst auf Grundlage des Stoffes seine einzige Tragödie3 und legt die Geschichte folgendermaßen an: Polifonte herrscht über Messene und will sich mit Merope, der Witwe seines Bruders, vermählen, um von deren Popularität im Volk zu profitieren, sowie einen noch lebenden Sohn töten lassen. Denn Merope konnte ihren jüngsten Sohn zu ihrem Vater nach Arkadien retten. Er konnte vom neuen Herrscher trotz des Aussetzens eines Preises nicht gefunden werden und kehrt schließlich, erwachsen und verkleidet als sein eigener Mörder, unter dem Namen Egisto nach Messene zurück. Er verrät selbst seinem Großvater nichts von der Mission, stellt sich Polifonte als Preisanwärter vor und verspricht, ihm Cresfonte Junior auszuliefern. Da Merope mittels eines Dieners vom Verschwinden ihres Sohnes aus Arkadien erfahren hat, vermutet sie nach einiger Zeit, dass Polifontes neuer Gast dessen Mörder ist. Sie will diesen, unterstützt von ihrer Getreuen Ismene, aus Rache umbringen. Doch im letzten Augenblick erkennt sie dank dem Insistieren ihres ehemaligen Getreuen Polidoro, mit dem sie ihren Sohn vor 15 Jahren nach Arkadien geschickt hatte und den dieser bis jetzt für seinen Vater hält, erst diesen und schließlich ihren Sohn wieder. Egisto rächt sich nach der Aufklärung der Familienverhältnisse so stellvertretend an Polifonte und bringt diesen um. Nach vollbrachter Tat folgt Meropes letzter lebender Sohn unter Zustimmung des Volkes seinem Vater nach und wird König von Messene.