Mittendrin

Neue Theaterstücke aus China

von und

Für China war das moderne Sprechtheater ein vollständiger „Import“. Im Jahr 1907 gründete eine Gruppe chinesischer Studenten, die in Japan studierten, eine Theaterkompagnie in Tokio und eine weitere in Shanghai. Sie spielten sogenanntes „Neues Theater“ (xin xi) oder „Kultiviertes Theater“ (wenming xi), welches aus mehreren Akten, lediglich einem ungefähren Entwurf der Handlung und improvisiertem Spiel bestand. Dies gilt gemeinhin als der Beginn des chinesischen Sprechtheaters.

Die Vierte-Mai-Bewegung (Wusi yundong) im Jahr 1919 stellte die Übernahme westlicher Kultur, einschließlich der Literatur und des Theaters, als eine geschichtliche Notwendigkeit dar und war von enormer Bedeutung für die kulturelle Entwicklung Chinas. Für die Mitglieder dieser Bewegung stand außer Frage, dass gesellschaftliche Reformen in China notwendig waren, weshalb Henrik Ibsen und sein gesellschaftskritisches Theater zum ersten gehörten, was von der kulturellen Elite Chinas vorgestellt und empfohlen wurde. Auch andere Strömungen des modernen westlichen Theaters wie Symbolismus, Futurismus und Expressionismus wurden in China eingeführt. 1928 übersetzte der Dramatiker Hong Shen das englische „drama“ als „Sprechtheater“ (huaju) ins Chinesische. Damit war für die moderne westliche Schauspielkunst eine akkurate chinesische Bezeichnung gefunden.

Zwischen den zwanziger und späten vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts erlebte China unruhige Zeiten, die von Bürgerkrieg, japanischer Invasion und einer desolaten wirtschaftlichen Lage bestimmt waren. Das moderne chinesische Theater war in dieser Zeit von linken Strömungen beherrscht: Die Kommunistische Partei Chinas forderte ein „Proletarisches Theater“ und vor allem der revolutionäre Kampf und der Krieg gegen Japan bestimmten zu jener Zeit die Themen. Zugleich sorgte der Einfluss von Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ dafür, dass einige junge Autoren wegweisende Stücke gegen das feudalistische System schufen. Der berühmteste unter ihnen war Cao Yu, der mit seinen in den dreißiger Jahren entstandenen Stücken „Gewitter“ (Leiyu), „Sonnenaufgang“ (Richu) und „Wildnis“ (Yuanye) das moderne Drama in China maßgeblich weiterentwickelte. Die vierziger Jahre waren geprägt von herausragenden Vertretern des Realismus, wie beispielsweise Guo Moruo, Yang Hansheng, Xia Yan und Wu Zuguang. Nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 wurde der Aufbau von Theatern sowie die theatralische Ausbildung und das Schreiben und Aufführen von Stücken von staatlicher Seite großzügig unterstützt, woraufhin das moderne Sprechtheater eine Blütezeit erlebte. Lao Shes 1957 entstandenes und 1958 uraufgeführtes Stück „Teehaus“ (Chaguan) stellte einen Meilenstein in der Weiterentwicklung des Theaters im „neuen China“ dar. Da viele westliche Länder die Volksrepublik damals noch nicht anerkannten, hatte vor allem der Austausch mit der Sowjetunion großen Einfluss auf die Theaterpraxis in China. Konstantin Sergejewitsch Stanislawskis Theorien waren die Grundlage für die Schauspiel-Ausbildung und der Realismus wurde zur Hauptströmung des dramatischen Schaffens. Nach Ausbruch der sogenannten Kulturrevolution im Jahr 1966 erlebte das chinesische Theater seine zehn dunkelsten Jahre: Nur einige wenige Werke, deren Inhalte vermeintlich den Idealen der Revolution entsprachen, wurden zur Aufführung freigegeben, die große Mehrheit der Stücke durfte aus politischen Gründen nicht gespielt werden.

Ende der siebziger Jahre belebte die Reform- und Öffnungspolitik nicht nur die chinesische Wirtschaft, sondern legte auch eine solide Basis für eine florierende Kunstund Kulturlandschaft. Es begann eine Zeit des Experimentierens in vielerlei Richtungen und zugleich wurden auf den Bühnen zahlreiche westliche Klassiker gezeigt, was wiederum das theatralische Schaffen beeinflusste. Anfang der achtziger Jahre leitete Lin Zhaohua mit seiner Inszenierung von Gao Xingjians Stück „Alarmsignal“ (Juedui xinhao) einen Boom der kleinen Bühnen (xiao juchang) ein. In den neunziger Jahren hatte sich das Sprechtheater auf kleiner Bühne bereits über das ganze Land verbreitet und wurde zu einem wichtigen Baustein für die zeitgenössische chinesische Theaterwelt. Bis heute profitiert die Theaterlandschaft Chinas von dieser Tendenz und weist nicht zuletzt ihretwegen eine besondere Vielfalt auf: Zahlreiche Regisseure haben als Alternative zu den staatlichen Bühnen kleine Studios gegründet, wo sie zusätzlich zu ihrer Tätigkeit für die Staatstheater ihre ganz eigenen Stücke erarbeiten können. In den letzten zehn Jahren gab es besonders viele junge Künstler, die ihre eigenen Ensembles gründeten, Stücke ganz unterschiedlicher Art schrieben, an zahlreichen verschiedenen Orten zur Aufführung brachten und damit ein sehr junges Publikum anzogen. Auf internationalen Theaterfestivals in Beijing und Shanghai werden inzwischen häufig deutsche und andere europäische Stücke gespielt, während chinesische Stücke immer öfter Gastspiele bei europäischen Festivals geben.

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