Kein platter Naturalismus. Gert Voss über Thomas Ostermeier

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Zum ersten Mal hörte ich von Thomas Ostermeier, als ich bei den Festwochen in Wien seine Inszenierung Shoppen & Ficken sah. Ich war begeistert, ging zu ihm und seiner Truppe schnaufend in den fünften Stock, und da saß er, schüchtern und stumm, ich konnte meine Lobpreisung gar nicht richtig an den Mann bringen. Das hole ich nun nach.

Foto Jan Pappelbaum
Thomas Ostermeier beim „Hamlet“-Gastspiel in Venedig, 2012. Foto Jan Pappelbaum

Diese Inszenierung war von ungeheurer Realität und Theatralität im besten Sinn. Da gab es keinen platten Naturalismus, keine simple Umsetzung von Wirklichkeit auf die Bühne. Ostermeier hat genial Bilder erfunden und Verkörperungen, die aus der Theaterfantasie kommen und die eigentlich unspielbare Brutalität in diesem Stück real und zugleich unsichtbar darstellten. Gerade der Weg der Übersetzung in eine Theatersprache regte meine Fantasie und Empathie tausendfach mehr an.

Ich schätze seine Humanität, wie er mit den Menschen in den Stücken umgeht, wie er mit mir als Zuschauer umgeht, wie er mit seinen Schauspielern umgeht. Sie „erblühen“ bei ihm, haben Authentizität, weil sie ihre Selbstständigkeit entwickeln dürfen und die eigene Fantasie. Er selbst ist ein vorzüglicher Zuhörer und Zuschauer, respektiert Einwände, sagt bei Proben erst dann etwas, wenn man ihn fragt, er lässt den Spielern Zeit, zu entwickeln, und er gibt sich nicht schnell zufrieden. Er fördert im besten Sinn.

Nachdem ich mit ihm Baumeister Solness von Ibsen und Maß für Maß von Shakespeare gemacht habe, beide Stücke hat er außerordentlich klug und verantwortungsbewusst interpretiert und umgearbeitet, ist er für mich ein ganz wichtiger Regisseur geworden, von dem ich sehr viel gelernt habe durch seine Art zu arbeiten. Ähnlich wie Peter Zadek besitzt Ostermeier die Fähigkeit, mit ungewöhnlichen und sehr eindringlichen Mitteln Wahrheit auf der Bühne darzustellen. Seine Arbeitsweise war für mich sehr beglückend, weil er keinen Druck ausübt, sich langsam und geduldig vortastet, genau beobachtet. Durch diese Freiheit und Leichtfüßigkeit entstand eine große Wahrhaftigkeit und Authentizität, aber gleichzeitig auch eine Art von Geheimnis über den Menschen, das er nicht versucht aufzuklären oder zu vereinfachen.

Mit Thomas zu proben ist wirklich wie eine große Abenteuerreise. Seine Neugier und seine Genauigkeit beim Zuschauen und Zuhören bewirken, dass an jedem Tag völlig Neues entdeckt werden kann. Er hat eine große Behutsamkeit im Umgang mit allen „Bühnenarbeitern“, und so entsteht eine große Unternehmungslust bei allen.

Er hat ein absolut musikalisches Ohr und ein absolutes Gehör für theaternde Töne und Theaterverlogenheit, das bewahrt seine Inszenierungen vor Konventionalität. Das Schöne an seiner Arbeit und der Arbeit mit seinen Schauspielern ist, dass er immer um eine Sache streitet, nicht um Formalismus.

Insgesamt möchte ich sagen, dass Thomas für mich einer meiner wichtigsten Regisseure geworden ist. An ihm persönlich mag ich, dass er immer uneitel geblieben ist und unbestechlich, sich nicht von karrieresüchtigen Gedanken treiben lässt und, last but not least, dass er sich die Welt anschaut.

Gert Voss ist wenige Tage vor Drucklegung dieses Buches nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Alle Passagen, die sich in den Gesprächen auf ihn beziehen, sind unverändert beibehalten worden.

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