In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 2018 spielten Musiker, Kammermusikensembles und Gäste der Staatskapelle Halle eine ganze Nacht lang zeitgenössische Musik im Raumbühnenbild und brachten in der künstlerischen Gesamtkoordination unserer Orchesterdirektorin Claudia Brinker mit einem Zwölf-Stunden- Konzert die neueste Folge von Farben der Moderne zur Premiere. Bei diesem Streifzug durch die musikalische Gegenwart blieb die Cocktailbar der Raumbühne selbstverständlich bis zum Morgengrauen geöffnet und die Zuschauer konnten Schlafplätze und Separees in HETEROTOPIA anmieten oder einfach im Orchestergraben schlafen, der bis zur Bühnenkante mit Schaumstoffwürfeln aufgefüllt war.
Sowohl die szenische Lesung von Clemens Meyer als auch der Neue-Musik-Marathon unserer Staatskapelle stehen beispielhaft für die Offenheit der Raumbühne nicht nur gegenüber großen Werken, sondern eben auch für kleine Formate, die innerhalb eines einzigen Tages eingerichtet, geprobt und geleuchtet werden mussten und doch zu abendfüllenden Kunst-, Theater- oder Musikveranstaltungen wurden. Durch die eindrückliche optische und räumliche Rahmung der Bühneninstallation und das diskursive Umfeld unseres Eröffnungsfestivals entstanden auch bei diesen flüchtigen und improvisierten Abenden wichtige künstlerische, sinnliche und gedankliche Impulse, die wieder auf die umfangreicheren Theaterproduktionen in der Raumbühne zurückwirkten. Dann stellten sich mit Laucke und Nemtsov anlässlich der Uraufführung des Auftragswerkes Sacrifice der Hallenser Dramatiker Dirk Laucke und die Berliner Komponistin Sarah Nemtsov mit einer Lecture-Performance aus Texten und Kammermusik vor und sprachen über ihr Vorhaben einer neuen politischen Opernkomposition für Halle.
In einem der vier weiteren Blöcke, in denen die Raumbühne bis Herbst 2017 für jeweils zwei bis drei Wochen aufgebaut wurde, kam im März 2017 als vieraktiges Episodendrama in Musik dann ihre abendfüllende Oper Sacrifice zur Uraufführung, welche die widersprüchlichen politischen und ideologischen Radikalisierungstendenzen unserer Gegenwart thematisiert. Ausgehend von der paradoxen Geschichte zweier deutscher Frauen auf dem Weg nach Syrien in den Dschihad, schufen die beiden ein vielstimmiges, essayistisches Musiktheaterwerk als Porträt einer medial vermittelten, krisenhaften Gegenwart. Bruchstückhaft verschränkt sich deren islamistischer Roadmovie quer durch Europa mit den disparaten Stationen dreier Journalisten an der europäischen Außengrenze, eines Flüchtenden aus Nahost und eines deutschen Ehepaares, das zwischen karitativer Selbstaufopferung und nationalistischer Abgrenzung schwankt und auseinanderdriftet. Widersprüchliche Lebenswelten und sich radikalisierende Ansätze zur Verbesserung der Welt prallen aufeinander und führen zu ideologischen Verhärtungen in der globalisierten Gesellschaft.
Musikalisch wurde Sacrifice wiederum von Michael Wendeberg geleitet und die Inszenierung entstand gemeinsam mit demselben Regieteam, mit dem ich zu Beginn der Spielzeit auch Wagners Der fliegende Holländer entwickelt hatte (der Kostümbildnerin Mechthild Feuerstein, dem Videokünstler Konrad Kästner und eben dem Bühnenbildner Sebastian Hannak). Dabei wurde die Raumbühnen-Installation ein halbes Jahr nach ihrer Eröffnung zugleich weiterentwickelt und übermalt. Die Besonderheit war bei dieser Arbeit, dass wir HETEROTOPIA bereits ein Jahr zuvor mit dem Holländer und dem Uraufführungsstoff im Kopf konzipiert hatten, noch ohne das konkrete Stück zu kennen. Wir kannten gewissermaßen das Bühnenbild, bevor die Oper existierte, und entwickelten nun beide in ständiger Wechselwirkung weiter, ließen sie sich gegenseitig beeinflussen und modifizieren. Das war ein äußerst faszinierender und im Musiktheater für mich bislang einzigartiger Arbeitsprozess, den Julia Spinola in ihrem Text für diesen Bildband ebenso reflektiert wie das Werk und seine Entstehung selber.