Theater des Erlebnisses

Die MusikTheaterStadt HETEROTOPIA in der Oper Halle

von

Als Ausgangspunkt und Material für diese musiktheatrale Expedition in die ideologische Antike und die Zukunft des Musiktheaters haben wir die beiden Hauptwerke von Richard Wagner und Karl Marx, Der Ring des Nibelungen und Das Kapital, zugrunde gelegt. Auf den Spuren der megaloman raunenden Welterzählung und der großen ökonomischen Analyse des 19. Jahrhunderts erschien über die weitere Spielzeit monatlich eine neue Ausgabe dieser Musiktheaterserie unter der Leitung von Künstlerinnen und Künstlern wie dem Autor Clemens Meyer, dem Komponisten und Konzeptkünstler Johannes Kreidler, dem Szenografen und bildenden Künstler Thomas Goerge, den Regisseurinnen Katja Czellnik und Barbara Frazier sowie der Choreografin Miriam Horwitz und dem Hausregisseur und künstlerischen Gesamtleiter der Reihe Michael v. zur Mühlen.

Nun hatten HETEROTOPIA und Das Kunstwerk der Zukunft über ihr inhaltliches Engagement hinaus vor allem eine bemerkenswerte sinnliche und haptische Qualität gemeinsam: Beide Stränge unseres Eröffnungsfestivals basierten auf Raumbühnenbildern und auf beiden Spielstätten der Oper Halle griffen begehbare Kunstinstallationen in das architektonische Raumgefüge ein. Dadurch ergab sich zu dieser Zeit im ganzen Haus der Reiz, dass die zentralen Guckkastenperspektiven aufgehoben waren und eine komplexere, mannigfaltigere und zugleich subjektivere Rezeptionshaltung an ihre Stelle treten konnte. Das warf ein neues Licht auf unser wunderschönes Theatergebäude und die traditionsreiche Kunst, die wir in ihm veranstalten. Aber vor allem ließ dieser Perspektivwechsel ein neues Verhältnis des Betrachters zum Theaterereignis, zu seinen Mitbetrachtern und letztlich auch zu sich selbst zu, die ihm auch eine offenere Form erlaubte, über die dramatischen Inhalte nachzudenken.

Theater unterscheidet sich von anderen Kunstformen als darstellende Kunst und von den anderen darstellenden Künsten in der digitalen Medienwelt ja dadurch, dass es über ein gemeinschaftliches Ereignis und Erlebnis im Hier und Jetzt funktioniert, bei dem die Kunst durch Menschen hergestellt wird, die sich im selben Raum befinden. Diese räumliche und sinnliche Unmittelbarkeit und ihr interaktives Potential werden durch die Abgeschlossenheit von Bühnen- und Zuschauerraum bei klassischen Guckkastenbühnen relativiert oder ausgehebelt, indem die theatralische Aktion sich nicht nur über eine räumliche Distanz hinweg, sondern häufig auch hinter einer fiktiven „vierten Wand“ vollzieht und so auf Perfektion und Geschlossenheit hin eingeübt wird, dass die Möglichkeit der Intervention oder intervenierenden Reaktion von Zuschauern ebenso in Vergessenheit gerät wie das Potential der Darsteller, zu variieren, zu reagieren oder gegebenenfalls auch einfach zu scheitern.

Die Raumbühne hingegen rückt den Zuschauer nicht nur näher ans Geschehen heran, sondern hebt mitunter sogar die Trennung zwischen fiktiver aktiver Handlung und realer passiver Rezeptionshaltung ganz auf, indem sie die Grenzen zwischen Zuschauerraum und Spielfläche nivelliert, wodurch in dieser neuen Rahmung auch andere Spielregeln sowohl des szenischen Spiels als auch des Zuschauens, Zuhörens und Nachvollziehens etabliert werden. Denn durch die Unmittelbarkeit und Nähe des dramatischen Ereignisses wird mitunter nicht nur das sinnliche Kunst- und Musikerleben intensiver und eindrücklicher, sondern durch die Möglichkeit des Zuschauers zur eigenen Interaktion und die direkte Konfrontation mit dem Darsteller wird jener zum potentiellen Mitspieler und begegnet diesem plötzlich auf Augenhöhe. Die Darsteller, die Figuren, die sie verkörpern, und die dramatischen Setzungen, in die sie verstrickt sind, müssen nicht mehr abgeschlossen und aus der Distanz betrachtet werden, sondern können als ein lebendiger Theaterorganismus erscheinen, in den man involviert ist und den man unwillkürlich durch die eigene Präsenz im Raum mitbeeinflusst.
So kann der Zuschauer zum Akteur und szenischen Faktor werden, ohne dass er aktiv eingreifen oder „spielen“ müsste – und der Darsteller erscheint wiederum mehr als realer Mensch, als sprechender, singender oder sich bewegender Körper, dessen Äußerungen durch den unmittelbaren Kontakt im selben Theaterraum unwillkürlich eine performative Qualität bekommen, da sie ganz unmittelbar als Text, Gesang und Bewegung erscheinen.

Meistgelesene Beiträge

Alle

auf theaterderzeit.de

Aufruhr in Permanenz

Der Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth wird 85. Ein Gespräch mit Thomas Irmer und Cornelia Klauß

Theater-News

Alle

auf theaterderzeit.de

Autorinnen und Autoren des Verlags

A - Z

Bild von Gunnar Decker

Gunnar Decker

Bild von Dorte Lena Eilers

Dorte Lena Eilers

Bild von Joachim Fiebach

Joachim Fiebach

Bild von Milo Rau

Milo Rau

Bild von Nis-Momme Stockmann

Nis-Momme Stockmann

Bild von Falk Richter

Falk Richter

Bild von Dirk Baecker

Dirk Baecker

Bild von Michael Schindhelm

Michael Schindhelm

Bild von Lutz Hübner

Lutz Hübner

Bild von Etel Adnan

Etel Adnan

Bild von Josef Bierbichler

Josef Bierbichler

Bild von Kathrin Röggla

Kathrin Röggla

Bild von Bernd Stegemann

Bernd Stegemann

Bild von Friedrich Dieckmann

Friedrich Dieckmann

Bild von Ralph Hammerthaler

Ralph Hammerthaler

Bild von Sasha Marianna Salzmann

Sasha Marianna Salzmann

Bild von Wolfgang Engler

Wolfgang Engler

Bild von Heiner Goebbels

Heiner Goebbels

Bild von Hans-Thies Lehmann

Hans-Thies Lehmann

Bild von Christine Wahl

Christine Wahl