Das Bewusstsein des realen Erlebnisses aber, das sich somit in einer Versammlungsstätte mit vielen anderen Menschen vollzieht und von politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen und Krisen unserer Zeit erzählt, kann meiner Erfahrung nach zu einer Wirkung von Musiktheater und einer Selbstwahrnehmung des Zuschauers im Theater führen, die nicht mehr von Distanz und Kontemplation geprägt ist, sondern von körperlicher und geistiger Teilhabe und Involvierung. Und so kann das interaktive Theater in unserer Raumbühne zugleich das Bewusstsein der Zuschauer davon schärfen, dass sie als Teil eines sozialen Zusammenhanges immer zugleich auch agieren und nicht nur reagieren.
Das klassische Repräsentationstheater wird dadurch idealerweise in ein „Theater des Erlebnisses“ überführt, in dem der Zuschauer ein neues Verhältnis zum Drama entwickelt, weil er es intensiver, näher und unmittelbarer als Musik, Text und szenischen Vorgang im Raum erlebt und zu einem aktiven Teil von ihm werden kann. Der Zuschauer entwickelt aber auch ein anderes Verhältnis zu sich selbst im Rezeptionsprozess von Musik und Theater, weil seine Subjektkonstitution sich in Konfrontation mit interaktiven Theatervorgängen in einem anderen Licht und einer anderen Wechselwirkung sozialer Abhängigkeiten zeigt. Und schließlich erlaubt ihm das gemeinschaftliche Theatererlebnis in einem interaktiven Raum mit vielen anderen Subjekten auch einen anderen Blickwinkel auf die gesellschaftlichen und demokratischen Zusammenhänge seiner realen Lebenswelt und ist somit eine wichtige formale Errungenschaft für ein neues, zeitgemäßes und inhaltlich politisches Musiktheater, das von den Menschen im Hier und Jetzt ausgeht.
Gleichzeitig macht ein solches „Theater des Erlebnisses“ auch einfach Spaß in seiner Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit und steht in einer langen Tradition. Sebastian Hannak erläutert im folgenden Artikel mehr über die Geschichte und die szenografische Funktionsweise von Raumbühnen und beschreibt die Beschaffenheit und Wirkungsweise unserer MusikTheaterStadt HETEROTOPIA genauer.
Auch wenn das siebenteilige Eröffnungsfestival und die drei weiteren Stückformate in HETEROTOPIA nur einen kleinen Teil des Spielplans 2016/17 ausgemacht haben und wir in unserer ersten Spielzeit an der Oper Halle neben der siebenteiligen Inszenierungsreihe Das Kunstwerk der Zukunft und zahlreichen Wiederaufnahmen auch noch sieben weitere große Premieren mit „klassischen Bühnenbildern“ in Oper und Ballett herausgebracht haben, so war die Raumbühne doch das herausragende und außergewöhnliche Musiktheaterexperiment der Saison, über dessen Ehrung mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST ich mich entsprechend freue. Der große Erfolg dieser Installation bei Publikum und Presse von nah und fern hat uns darin bestärkt, weiter nach neuen Raumkonstellationen und Perspektiven für das Musiktheater zu forschen, und so werden wir die Spielzeit 2018/19 an der Oper Halle am 14. September mit einer neuen Raumbühnenkonstellation eröffnen, die noch weit über HETEROTOPIA hinaus wachsen wird.