Recherchen 150
Wenn keiner singt, ist es still
Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019)
von Raimund Hoghe
Taschenbuch mit 160 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-233-3
„Wenn keiner singt, ist es still“, sagt Roma B. in Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Raimund Hoghe zitiert diesen Satz in seinem Porträt einer Frankfurter Hausbesitzerin, die in den 1980er Jahren gegen den Bau von Europas höchstem Hochhaus in ihrer Nachbarschaft kämpfte. Die ihr von Banken angebotenen Abfindungen in Millionenhöhe schlug sie aus und sagte Nein zur Zerstörung ihres Viertels.
Der Satz von Roma B. könnte aber auch über anderen Texten stehen, die Raimund Hoghe für dieses Buch zusammengestellt hat. Sie erzählen von Menschen, die Haltung zeigen und den eigenen Weg gehen, z. B. der von den Nazis verfolgte Tenor Joseph Schmidt, die Autoren Pier Paolo Pasolini und Hervé Guibert, der Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, Gret Palucca oder Pina Bausch, über die er zuerst schrieb und deren Dramaturg er dann in den achtziger Jahren war Und ob prominenter Künstler oder unbekannte Toilettenfrau in Wuppertal: immer geht es Raimund Hoghe um Würde und Respekt.
Der Künstler trägt die Zeit nicht, zwischen zwei Deckel gelegt, bei sich an einer Kette; er richtet sich nach dem Zeiger des Universums, weiß darum immer was die Urkuckucksuhr geschlagen.
(Else Lasker-Schüler, Das Hebräerland, 1937)
In seinem 1999 uraufgeführten Solo Lettere amorose zitiert der 1949 in Wuppertal geborene Raimund Hoghe nicht zum ersten Mal seine geistige Weggefährtin – die 1869 ebenfalls in Wuppertal gebürtige deutsch-jüdische Autorin Else Lasker-Schüler.
Lasker-Schüler schrieb 1919 einen Brief an einen Schweizer Freund mit der Bitte, er möge sie doch bei ihrem Visumsgesuch in die Schweiz unterstützen. Die Zeitachse 1869–1919–1949–1999–2019 ist eine von vielen in dem im Mai in Düsseldorf wiederaufgeführten Stück Lettere amorose, die auf eine grundlegende Methode in Hoghes Arbeit als Choreograf und Autor verweist: Raimund Hoghe ist nicht nur ein Meister der sparsamen und in ihrer Verdichtung umso eindringlicher wirkenden Gesten auf der Bühne, sondern auch ein Meister der Verschränkung von Geschichten auf vielen zeitlichen Ebenen.
So, wie die Präsenz der vor 150 Jahren geborenen Lasker-Schüler in ihrem vor 100 Jahren verfassten Brief in die Performance hineinruft, entwirft der ‚Autorenjournalist‘ Hoghe seine Interview-basierten Porträts ganz bewusst als Echokammern der Erinnerungen und der Bilder.
Sein methodischer Ansatz besteht im Zuhören und Aufzeichnen; Gesagtes wird unkorrigiert und in größtem Respekt gegenüber dem gesprochenen Wort veröffentlicht, sodass die porträtierten Personen in all ihrer situativen Befindlichkeit und in ihrem Eigensinn leuchten können. Ob von hohem oder niedrigem Bildungsstand, berühmt oder am Rande der Gesellschaft, sprachmächtig oder sprachlos, für Raimund Hoghe sind all das unerhebliche Kriterien – ihn interessieren Menschen, ob sogenannte Starschauspieler oder Autoren von Weltrang, Taxifahrer oder Reinigungskräfte.
Im Sinne seiner transluziden, existenziellen Interpretation dessen, was Menschsein bedeutet, und aus seiner tiefen Überzeugung, dass jeder Mensch ein fragiles Wesen, reich an Geschichten ist, die es wert sind, gehört zu werden, interessiert er sich für sein jeweiliges Gegenüber mit der größtmöglichen Nähe, die ihm sein forschend distanzierter und zugleich der jeweiligen Situation sich öffnender, verstehender Blick erlaubt.
Jedes Interview bleibt ein in der Konsequenz der Veröffentlichung ungeschliffener Rohling, eine aus der jeweiligen Lebenssituation seines Gegenübers festgehaltene Momentaufnahme, übersetzt in Sprache und Fotografie.
In seinen Bühnenarbeiten schafft Hoghe als Choreograf Erinnerungsräume durch minimalistische und ritualisierte Gesten, Musik und Sprache, die ein symmetrisch angeordnetes Beziehungsnetz in und mit der Architektur des Raumes weben.
In seinen Porträts ist er weniger Autor als Medium; er erschließt die Stimmen und Erinnerungsräume anderer, indem er Lebenswege von Menschen und deren Biografien sichtbar macht, die er nicht klassifiziert, sondern mit aller Sorgfalt, Hingabe und Aufmerksamkeit nebeneinander existieren lässt – in all ihren jeweiligen Daseinsverfasstheiten: Künstler mit erfolgreichen Karrieren bzw. solche, die zur Zeit der Veröffentlichung auf den Vorstufen des Erfolgs standen – wie z. B. Rose Ausländer, Elisabeth Bergner, Kazuo Ohno, Heiner Müller oder Peter Handke.
Gleichzeitig widmete Hoghe seit seinen journalistischen Anfängen seine Porträts den weniger Erfolgreichen der deutschen und österreichischen Nachkriegsgesellschaft und spürte Menschen auf, die abgekämpft, aber stolz, in ihren Lebensplanungen gescheitert, aber selbstbewusst waren. Bereits in seinen frühen Texten porträtierte er versehrte, von der Gesellschaft abgehängte Menschen am Existenzminimum wie z. B. die Toilettenfrau Maria Rüb und die Prostituierte Annemarie Slovik oder Sterbenskranke wie Andreas M., die Abschied nahmen von einer Welt, die gerade mit HIV infiziert worden war.
Das Leid der Welt – so z. B. Flucht, Vertreibung und Existenzvernichtung, gestern wie heute – lässt ihn nicht los und macht ihn zu einem ‚mit-teilenden‘, mitfühlenden Künstler und Archäologen allzu schnell verdrängter Realitäten.
Hoghe ist nicht nur Liebhaber, sondern auch im politischen Sinne engagierter Vertreter des sogenannten ‚Queeren‘ – durch seine Zuwendung stärkt er diejenigen, die gesellschaftlich als Wesen außerhalb der Norm eingestuft werden.
Seine Protagonistinnen und Protagonisten werden durch seine Aufmerksamkeit zu schönen Menschen; sie fallen nicht durchs Raster der Geschichte, sondern sie erzählen von Abnormität und Abweichung; ungeraden, weit verzweigten Lebenslinien; feingliedrigen, porösen, unsicheren, nicht abgesicherten Existenzen. Von ihrem Neuanfang, ihrer Hoffnung und ihrem Abschied vom Leben, ihrer Entblößung, ihrem Abgrund, ihrer Angst und ihren Träumen.
Hoghes Erinnerungsarbeit ist auch Trauerarbeit. Und dann plötzlich entsteht ein Witz, eine Situationskomik macht aus Weinen Lachen. Und immer wieder nimmt er sich Zeit; gibt der Empfindsamkeit für Zeit als wertvolles Gut Raum. Seine Echokammern erzeugen eine innere Zeit, die anders vergeht als die äußere Zeit. Und Zärtlichkeit.
Um einige seiner Geschichten und Porträts, die seit Mitte der 70er Jahre u. a. für DIE ZEIT und Theater heute entstanden und teilweise vergriffen sind, nicht der Geschichtsvergessenheit anheimfallen zu lassen, hat die Kunststiftung NRW sich freudig entschieden, diese gemeinsam mit dem Verlag Theater der Zeit neu zu verlegen – und dies vor einem weiteren Zeithorizont: In NRW feiern wir in diesem Jahr nicht nur den 150. Geburtstag von Else Lasker-Schüler, sondern auch den 70. Geburtstag von Raimund Hoghe sowie das 30. Jubiläum der Kunststiftung NRW, die mit diesem wunderbaren Künstler seit vielen Jahren fördernd verbunden ist.
Seinem Wirken verdanken wir Momente voller unnachahmlicher Poesie, die in seinem Tanz ebenso zum Ausdruck kommt wie in seiner Sprache. Genauigkeit und Emotion, Durchlässigkeit und Entschiedenheit verschränken sich in seinem Denken wie in seinem künstlerischen Tun auf eine Weise, die aus den Brüchen des Lebens eine Schönheit gewinnt, die alles umfasst wie eine Umarmung: das Große im Kleinen, die Ruhe in der Bewegung, die Zeit im Raum.
Wir überreichen Raimund Hoghe dieses Buch mit einer kleinen Verbeugung, ähnlich der, wie wir sie aus seinen Aufführungen kennen, und sagen: Merci.
Den Leserinnen und Lesern dieser Preziose wünschen wir eine bereichernde und inspirierende Lektüre.
Dr. Fritz Behrens
Präsident
Dr. Ursula Sinnreich
Generalsekretärin
Kapitel | Seite |
---|---|
Kapitel | Seite |
Vorwort der Kunststiftung NRWvon Ursula Sinnreich und Fritz Behrens | Seite 7 |
Vergessen – wie macht man das?Begegnungen in einem jüdischen Altenheimvon Raimund Hoghe | Seite 11 |
ÜbergängeAnmerkungen zu einigen Bildern in Pina Bauschs Kontakthofvon Raimund Hoghe | Seite 19 |
Und die Liebe höret nimmer aufBruchstücke aus dem Leben der Prostituierten Annemarie Slovik, 67von Raimund Hoghe | Seite 25 |
KontaktversuchePier Paolo Pasolini als Zeichnervon Raimund Hoghe | Seite 33 |
Doch immer war’s ein Tanzen ohne EndeNotizen zu Sankai Jukuvon Raimund Hoghe | Seite 39 |
Auf dem MönchsbergDer Schriftsteller Peter Handkevon Raimund Hoghe | Seite 45 |
„’ne einfache Frau bin ich“Die Wartefrau Maria Rübvon Raimund Hoghe | Seite 53 |
Mit nackten AugenDie Lyrikerin Rose Ausländervon Raimund Hoghe | Seite 61 |
„Ja, fürchten dürfen Sie sich nicht“Die Schauspielerin Elisabeth Bergnervon Raimund Hoghe | Seite 71 |
Die Toten beginnen zu laufenKazuo Ohno und andere Butoh-Tänzer in Berlinvon Raimund Hoghe | Seite 79 |
„Ich hab’ nie große Rollen gespielt“Die Sängerin Irmgard Urbschat-Brux, genannt Irmchenvon Raimund Hoghe | Seite 85 |
Einfache GeschichtenText für Heiner Müllervon Raimund Hoghe | Seite 91 |
„Wenn keiner singt, ist es still“Hannelore Kraus und ihr Kampf gegen das höchste Gebäude Europasvon Raimund Hoghe | Seite 95 |
Andreas nimmt Abschied vom LebenDer aidskranke Andreas M.von Raimund Hoghe | Seite 101 |
Palucca, der Tanz und das MeerDie Ausdruckstänzerin und Pädagogin Gret Paluccavon Raimund Hoghe | Seite 109 |
„Und weben der Menschheit einen wärmenden Mantel“Anmerkungen zu der Arbeit des Fotografen Stefan Mosesvon Raimund Hoghe | Seite 118 |
Die Bilder. Die Worte. Und Aids.Hervé Guiberts Mitleidsprotokoll und sein Film Die Scham oder die Schamlosigkeitvon Raimund Hoghe | Seite 123 |
Ein Stern fälltDer Sänger Joseph Schmidtvon Raimund Hoghe | Seite 131 |
Mehr als ein LebenDie Schriftstellerin Anja Lundholm und die Geschichte einer Familie in Deutschlandvon Raimund Hoghe | Seite 139 |
„So kam ich unter die Deutschen“Bruchstücke und Notizen zu den Asylbildern von Martin Rosswogvon Raimund Hoghe | Seite 146 |
Der schmale Weg ist mir zu engText über Grenzgängervon Raimund Hoghe | Seite 149 |
Nachwortvon Raimund Hoghe | Seite 154 |
Der Autor | Seite 156 |
Textnachweise | Seite 157 |
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
eBooks können Sie mit allen Geräten lesen, die das EPUB-Format lesen können.
Zum Autor
Raimund Hoghe
Weitere Beiträge von Raimund Hoghe
„Wenn keiner singt, ist es still“
Hannelore Kraus und ihr Kampf gegen das höchste Gebäude Europas
Mit nackten Augen
Die Lyrikerin Rose Ausländer
Einfache Geschichten
Text für Heiner Müller
Und die Liebe höret nimmer auf
Bruchstücke aus dem Leben der Prostituierten Annemarie Slovik, 67
„Und weben der Menschheit einen wärmenden Mantel“
Anmerkungen zu der Arbeit des Fotografen Stefan Moses
Bibliographie
Beiträge von Raimund Hoghe finden Sie in folgenden Publikationen:
Recherchen 150
Raimund Hoghe
Wenn keiner singt, ist es still
Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019)
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren