Alle Beiträge von Hans-Thies Lehmann
von Hans-Thies Lehmann
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In seinen Notizen zur Poetik des Aristoteles notiert Brecht die merkwürdige Überlegung, an die Stelle der »Nachahmung«, mit dem man das aristotelische Konzept der Mimesis übersetzt hat, den Begriff einer neuzeitlichen Darstellung zu setzen, die »vorahmend« zu nennen sei. Wie immer, so bietet sich auch hier eine zu rasche Lesart von Brechts Text an: das Theater soll in der Praxis seines Zeigens die Wirklichkeit nicht einfach wiedergeben, sondern sich in solcher Weise aufs Wirkliche beziehen,…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
Heiner Müllers ANATOMIE TITUS FALL OF ROME EIN SHAKESPEARE-KOMMENTAR, eine 1984/85 entstandene Bearbeitung gilt einem sehr frühen Text Shakespeares, wohl seinem blutrünstigsten und am meisten grotesken Werk. »Anatomie« – Körperaufschneiden und Struktur-Freilegung – verweist sogleich auf eine poetologische Fragestellung, die dem Verhältnis zwischen der Schrift der Kunst und der Realität als wesentlich Realität des Schreckens gilt. Da im Text grausame Anatomie durchaus an lebenden Körpern geübt…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
Zur Dramaturgie Heiner Müllers
von Hans-Thies Lehmann
I. Ende der 60er Jahre hat sich in Heiner Müllers Werk eine Veränderung zugetragen, die seine Texte in die Nähe zu den etwa zeitgleich entstehenden neuen Theater- und Regieformen bringt, die man als postdramatisch kennzeichnen kann.1 Zugleich setzt eine thematische Verdüsterung ein: Die stets schon vorhandene sarkastische Skepsis, die Zuspitzung zum tragischen Paradox wird augenfälliger. Wenn Müller die stabile dramatische Form, von der bis dahin noch erhebliche Reste wirksam waren, nunmehr…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
Heiner Müllers Lohndrücker in Ostberlin
von Hans-Thies Lehmann
Ein Ereignis der deutschen Theatergeschichte – hochbedeutend und zwiespältig zugleich: Am 29. Januar 1988 wurde in Ostberlin am Deutschen Theater Heiner Müllers DER LOHNDRÜCKERaufgeführt. Dreißig Jahre sind seit der Entstehung des Textes vergangen. 1956–57 verfasst, gehört er noch dem Genre des Produktionsstücks an, das in den fünfziger Jahren von der DDR-Kulturpolitik gefördert wurde. Müller behandelt die damals mehrfach gestaltete Geschichte eines »Helden der Arbeit«, der mit übermenschlicher…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
Im März 1972 wurde im Theater Brandenburg Müllers Bearbeitung von Shakespeares Tragödie MACBETH uraufgeführt. Nach eigenem Bekunden wollte Müller »Zeile für Zeile« dieses Stück, das ihm unter Shakespeares Dramen besonders wenig gefiel, übersetzend ändern. In deutlicher Wendung gegen die tradierte Rezeption, die an der Vorlage die Züge des Seelendramas noch verstärkt hatte oder göttliches Fatum walten sah, drängt er die Psychologie der Gewissensqualen rigoros an den Rand und erzählt in äußerster…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
DER HORATIER, im Herbst 1968, nach dem Prager Frühling und seiner Niederschlagung geschrieben, 1973 in Westberlin uraufgeführt, ist ein Lehrstück; nach Reiner Steinwegs Auslegung der Brecht’schen Lehrstücktheorie also ein Stück für die Spielenden selbst, die sich durch das Ausführen der sprachlichen und körperlichen Gesten und durch Rollentausch in Dialektik üben. Es handelt sich wie bei Brechts DIE HORATIER UND DIE KURATIER um ein Stück für Schüler. Die Fabel stammt von Livius, das »Modell…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
Müllers ÖDIPUS TYRANN nach Hölderlins Sophokles-Übersetzung ist äußerlich mit den Antikebearbeitungen PHILOKTET und HORATIER durch den Ödipus-Kommentar verbunden, in dem Müller seine Deutung des Ödipus-Stoffes formuliert. Der Kommentar wurde in der Rotbuchausgabe zwischen diesen beiden Texten abgedruckt, so wie auch die Ödipusbearbeitung selbst entstehungsgeschichtlich (1965) zwischen ihnen liegt. Da PHILOKTET und HORATIER als Lehrstücke/Tragödien über das Problem Stalin gelesen werden können,…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
»Wie kommen Sie denn zu Gespenstergeschichten, alter Herr?«
– »Ich? – das liegt in der Luft ...«
(Theodor Storm)
Was hat es auf sich mit dem Gespenst, was ist da zu hören, warum liegt das in der Luft, was ist sein politischer, theoretischer, ästhetischer Reiz? Daß Jacques Derrida mit seinem Buch SPECTRES DE MARX. L'ETAT DE LA DETTE, LE TRAVAIL DU DEUIL ET LA NOUVELLE INTERNATIONALE (Paris 1993) die Serie seiner Begriffe/Metaphern, in denen er Aufschub und Verzug von Bedeutung im Spiel der…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
Wie komme ich, ein Mann aus Augsburg mit vielfachen Gaben, die Welt zu sehn und darzustellen, auf diese Märkte, Cafés und Amüsierbuden, und unter solche Menschen? Vierzig Jahre und mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends. Ich habe die Liebe zu den Untergehenden und die Lust an ihrem Untergang. Es gibt wenige, die untergehen können, die mit Haut und Haaren aus den Fugen gehen, mit zerschmetterten Händen hinauskriechen. Die Mehrzahl verreckt in Vereinen. Stirbt wie eine Ratte, hört einfach…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
Schuld, Maß und Überschreitung bei Bertolt Brech
von Hans-Thies Lehmann
Schuld, Maß und Überschreitung bei Bertolt Brecht
... Sinn für eine grenzenlose und folglich notwendig übermäßige,
unberechenbare Verantwortung ...
... Gerechtigkeit beruht ... nicht auf Gleichheit, auf einem berechneten
Gleichmaß, auf einer angemessenen
Verteilung, ... sondern auf einer absoluten Asymmetrie...
... »Idee der Gerechtigkeit«: ... Forderung nach einer Gabe ohne
Austausch, ... ohne Kalkül und ohne Regel, ohne
Vernunft oder ohne Rationalität im Sinne des ordnenden,…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
FATZER sollte die Geschichte von vier Deserteuren erzählen, die 1918 in Mülheim an der Ruhr untertauchen. Sie warten und hoffen auf die Revolution, geraten bei ihren Versuchen, sich im Untergrund Nahrung zu verschaffen, und auch über andere Fragen in Konflikte untereinander und werden – so scheint es nach den Skizzen für den Schluß – am Ende aufgespürt und getötet.
Einer der vier ist Johann Fatzer, einerseits der »findigste«, andererseits radikaler Egoist. Die eine Eigenschaft ermutigt und…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
Dieser Vortrag wird sich nicht der biographischen Seite des Themas Sexualität bei Brecht widmen. Es gibt darüber inzwischen eine erhebliche Literatur, auch Filme (zuletzt von Jutta Brückner), doch hege ich eine Abneigung gegen den Effekt der Medienkultur, daß auch in dieser Debatte das Interesse an der Persönlichkeit sich in einer zerstörerischen Weise nicht nur vor das Werk, sondern sogar an dessen Stelle setzt. Warum aber sollte es uns überhaupt etwas angehen, ob ein gewisser Augsburger…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
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Zwei miteinander kommunizierende Perspektiven sind verlangt, wenn man heute vom Theatertheoretiker Brecht, der mittlerweile oft skeptischer beurteilt wird als der Dichter Brecht, ein Bild gewinnen will. Die eine wird eröffnet durch eine neue Lektüre des Konzepts episches Theater. Die andere ist der Blick auf seine Theorien im Lichte der Entwicklung des Gegenwartstheaters seit Brecht. Dieses hat eine Reihe von Formen hervorgebracht, die man post-brechtisch nennen kann, in denen aber das Erbe…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
von Hans-Thies Lehmann
I. Un-ernst, grau
... So ist das Andere, allein als solches gefaßt, nicht das Andere von Etwas, sondern das Andere an ihm selbst, d. i. das andere seiner selbst. Das Andere für sich ist das Andere an ihm selbst, hiermit das Andere seiner selbst, so das Andere des Andern, – also das in sich schlechthin Ungleiche, sich Negierende, das sich Verändernde ... (Hegel)
Für Brechts Werk gilt seine schöne Wendung über die Architekturen: »Die halbzerfallenen Bauwerke/Haben wieder das Aussehen von noch…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
Einar-Schleef@post-110901.de
von Hans-Thies Lehmann
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Eine mögliche Antwort auf die gegenwärtige Lage scheint zu lauten: Besinnung auf die einfachen Urelemente des Theaters, auf seine Archaik. Es war eine Position schon der Neoavantgarde der 50er bis 70er Jahre, dass aufwühlende Erfahrungen im Theater nur mit Hilfe von leidvollen, schmerzhaften Erfahrungen zu machen seien; Askese, Attacke, Lärm und Zerstörung als Wiedergewinnung des Archaischen, in die der Rezipient qua Schock einbezogen war, die bis zur direkten Gewalt gegen die Besucher ging.…mehr
aus dem Buch: Das Politische Schreiben
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