Alle Beiträge von Heiner Goebbels
von Heiner Goebbels und Rainer Simon
Heiner Goebbels, geboren 1952 in Neustadt an der Weinstraße, ist Komponist, Regisseur und Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus Liebig Universität Gießen. Seit 2006 ist er Präsident der Hessischen Theaterakademie und wurde zum Intendanten der Ruhrtriennale 2012 bis 2014 berufen. Für seine Hörstücke, Kompositionen für Ensemble und Orchester, szenischen Konzerte und Musiktheaterstücke erhielt er zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, unter anderem…mehr
aus dem Buch: Labor oder Fließband?
Theater als Museum oder Labor
von Heiner Goebbels
Einem klugen Hinweis und dem Archiv alter E-Mails folgend konnte ich feststellen, was mir selbst kaum aufgefallen ist: dass sich nämlich unter der Hand das Thema dieses Symposions verändert hat. Wo ursprünglich einmal von „Neuen Formen“ die Rede war, sind wir jetzt angehalten, von „Neuen Theaterrealitäten“ zu sprechen. Nun kann man das verwechseln und schnell das eine für das andere nehmen, aber de facto ist es doch ein Unterschied, ob wir über das sprechen, was inzwischen bereits zu einer…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Die Angewandte Theaterwissenschaft
von Heiner Goebbels
Für welches Theater bilden wir aus? Theater als Labor oder Museum? Um falsche Polarisierungen zu vermeiden und Missverständnissen vorzubeugen: Ich liebe Museen. Es sind Schutzräume, die wir in Zeiten der medialen Attacke mehr und mehr brauchen. Und auch das Theater kann ein Schutzraum sein, ein Museum für unsere Wahrnehmung, für all die Qualitäten, die uns verloren gehen können, für das entdeckende Sehen und Hören zum Beispiel. „Ein Museum der Sätze“, wie Canetti es einmal formuliert hat, ein…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Theorie und Praxis in Gießen
von Heiner Goebbels
Eine riesige Holzpistole schießt eine Darstellerin auf die Bühne.1
Ein Dirigent und eine Tänzerin dirigieren synchron eine unhörbare Musik.2
Eine Wäschemangel frißt ein endlos langes Bodentuch.3
Ein organisch wurmartiges Gebilde windet sich auf dem Boden des Büchnersaals und fängt alsbald chorisch zu singen an.4
In einer Zimmerecke geht immer wieder eine Tür auf; manchmal tatsächlich, manchmal nur als Projektion eines Videos, bei dem in einer Zimmerecke immer wieder eine Tür aufgeht.5
36…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Über die Arbeit mit dem Schauspieler
von Heiner Goebbels
Es gibt einen Augenblick in der Musiktheaterarbeit Eraritjaritjaka, in dem wir den französischen Schauspieler André Wilms eine Zeile aus den Aufzeichnungen Canettis sagen hören, und wir sind tief bewegt, weil sich der Schauspieler dabei zu ersterbender Musik eines Streichquartetts eine Träne aus den Augen wischt: „So sprechen, als wäre es der letzte Satz, der einem erlaubt wäre.“1 Wir sind bewegt, obwohl er den Satz nicht mit viel Innerlichkeit hervorbringt – denn gleichzeitig ist er damit…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Neun Thesen zur Zukunft der Ausbildung für die darstellenden Künste
von Heiner Goebbels
1
Wenn wir über die Ausbildung in den darstellenden Künsten sprechen, reden wir über das Ende einer langen Kette. Die Hochschulen für Theater und theaterbezogene Disziplinen für Tänzer, Sänger, Instrumentalisten, Schauspieler, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner sind das über lange Zeit entwickelte Resultat einer ästhetischen Konvention. Alle diese Ausbildungsstätten wurden gegründet mit der einzigen Absicht, Nachwuchs bereitzustellen für die repräsentativen Institutionen, die Abend für…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Das Ensemble Modern als Beispiel
von Heiner Goebbels
Es gehört zu den bewundernswerten und für mich immer schwer verständlichen Qualitäten eines Ensemblemusikers, einen ständigen Widerspruch aushalten zu können: den Widerspruch zwischen der großen, auch körperlichen Intensität, die vom Einzelnen – im Zusammenspiel mit den anderen Musikern und gepaart mit höchster Fokussierung, Konzentration und Virtuosität – erwartet wird, und der Abstraktion, die ihm abverlangt ist, da er aus seiner eigenen Spielerposition keinen wirklichen Überblick über den…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Für Erich Wonder
von Heiner Goebbels
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr, heute Abend Laudator zu sein, denn dir, lieber Erich Wonder, diesen Preis zu verleihen, ist für mich als Theatermacher eine wunderbare Gelegenheit, zurückzugeben, was ich im Laufe der letzten 25 Jahre von dir bekommen und gelernt habe. In dieser Hinsicht „oute“ ich mich gerne auch als Wonderschüler.
Als junger Theater-Komponist, ich hatte damals gerade an den Frankfurter Städtischen Bühnen angefangen, habe ich zum Beispiel einen…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Für Robert Wilson
von Heiner Goebbels
In the basement of a black building, behind a black curtain, in the black wall of a dark, large, black room, there is a white hole. And in this hole there is a small, white shoe – an old, white leather shoe, beautifully manufactured, probably a shoe of the 19th century, probably the shoe of a child. And next to this small white shoe, in the white hole of that black wall in the black room behind the black curtain in the basement of that black building called „black diamond“, next to the shoe is…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Vier Thesen zu Call Cutta von Rimini Protokoll
von Heiner Goebbels
Im Frühjahr 2005 konnte man in Berlin eine Theaterarbeit sehen, die vielleicht im engeren Sinne gar keine Theaterarbeit ist, und von der man vielleicht sogar eher sagen müsste, man habe sie nicht gesehen: eine Aufführung, die zwar keine spektakulären Aktionen bot, kein beeindruckendes Schauspiel, keinen virtuosen Protagonisten, kein verblüffendes Bühnenbild, eigentlich war niemand zu sehen, man blieb ganz allein, aber eine Aufführung, die mich dennoch mehr erreicht, nachhaltiger angeregt, und…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Jean-Luc Godard als Komponist
von Heiner Goebbels
„Das Gehör ist unser hartnäckigster Sinn. Es verschwindet bei der Narkose als letztes und kommt beim Aufwachen als erstes zurück.“ Dirk Schwender (Anästhesieprofessor)1
Nach der koketten Selbstbezichtigung Godards, er habe in seinen ersten Filmen die Musik auf die Bilder gesetzt wie „Ketchup auf McDonalds“, ist in den letzten Jahren oft diskutiert und betont worden, wie sehr seine späten Filme „aus dem Ton heraus“ entwickelt sind.2 An dem Film Nouvelle Vague aus dem Jahre 1990 lässt sich die…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Der Zuschauer als Ort der Kunst
von Heiner Goebbels
In dem Roman Die Jalousie oder die Eifersucht von Alain Robbe-Grillet – die französische Sprache und der Titel des Originals kennen nur ein Wort für beides: „La Jalousie“ – ist immer nur vom Sonnenschutz in einem Landhaus die Rede, nie von der Eifersucht. A…, die Gattin des Erzählers, beabsichtigt mit Franck, einem Freund des Hauses, in die Stadt zu fahren, um Einkäufe zu machen. Sie hat nicht genau gesagt, welche. Wir wissen auch nicht, ob sie wie angekündigt spätabends in das Landhaus…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Zur Arbeit an I went to the house but did not enter
von Heiner Goebbels
Erst die Arbeit an meinem jüngsten szenischen Konzert I went to the house but did not enter für die vier Sänger des britischen Hilliard Ensembles stellte mich plötzlich vor die ungewohnte Frage nach dem Umgang mit der Stimme. Ungewohnt deshalb, weil es bislang für meine Hörstücke und Musiktheaterstücke vielleicht eine unbewusste gemeinsame Formel gab: die Arbeit mit eigentümlichen Stimmen. Da mir die standardisierten und akademischen Formen des Sprechens und Singens immer suspekt waren, scheint…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Stifters Dinge als ein Theater der Entschleunigung
von Heiner Goebbels
Ich sah eine Menge der weißgelben Blümlein auf dem Boden, ich sah den grauen Rasen, ich sah auf manchem Stamme das Pech wie goldene Tropfen stehen, ich sah die unzähligen Nadelbüschel auf den unzähligen Zweigen gleichsam aus winzigen dunklen Stiefelchen herausragen, und ich hörte, obgleich kaum ein Lüftchen zu verspüren war, das ruhige Sausen in den Nadeln.
Wir gingen immer weiter, und der Weg wurde ziemlich steil.
Auf einer etwas höheren und freieren Stelle blieb der Großvater stehen und…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Fragen beim Bau von Eraritjaritjaka
von Heiner Goebbels
Der titelgebende Aphorismus aus Elias Canettis erstem Aufzeichnungsband Die Provinz des Menschen1 liest sich zunächst wie eine launige Koketterie. Erst beim näheren Hinsehen entpuppt er sich als mögliche Schlüsselformel für den Reiz seiner Texte, für seine spezifische Aufmerksamkeit auf und seine manischen Abgrenzungswünsche gegen das Zusammenwirken und Zusammensein von allem und jedem. Im gleichen Band entwirft er nämlich auch
ein Reich, in dem die Menschen sich nur auf Entfernung lieben,…mehr
aus dem Buch: Ästhetik der Abwesenheit
Weitere Beiträge anzeigen