Heft 12/1982
Von Tradition und Humanismus der Theaterkunst
Broschur mit 88 Seiten, Format: 200 x 290 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Indem ich der Bitte der Redaktion nachkomme und, wenn auch mit unziemlicher Verspätung, einen Auftritt der Compagnie Barrault-Renaud beim diesjährigen »Theater der Nationen« beschreibe, geraten meine Gedanken dazu sehr ins Grundsätzliche. Weitere, verstreute Eindrücke verbinden sich mitunter zu einer Sicht, die unerwartete und auch beunruhigende Perspektiven eröffnet, zur Stellungnahme herausfordert. So auch hier. Daher sei mir gestattet, weiter auszuholen, zunächst aber die Beschreibung der Pariser Compagnie zu liefern.
In Samuel Becketts »Oh, diese glücklichen Tage« spielte Madeleine Renaud jene alte Frau, die in einer öden Wüstenei vereinsamt und allmählich in einem Sandberg versinkt, sich in ihren letzten Tagen aber nochmals ihrer glücklicheren Vergangenheit erinnert. Die Erinnerungen entstehen, indem die Frau mechanisch an den früheren Tagesabläufen festzuhalten sucht. Utensilien und Tand um sich her ausbreitend, werden ihr einstige Geschichten lebendig; aber es reproduziert sich auch die traurige Perspektive ihres Lebens: ihr Bemühen, zu dem Partner hinterm Sandberg in Beziehung zu treten, hat keinen Erfolg. Der Mann bleibt stumm, abweisend, er stiert bestenfalls in seine Zeitung.
Was Beckett vorgibt, ist eine eindringliche Demonstration der Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen, der lähmenden Vereinsamung eines jeden. Die überkommene Leseart verweist auf die Illusionen der Gestalt, auf ihren heillosen Selbstbetrug angesichts des unaufhaltsamen Verfalls und Untergangs. Der bitter-kritische Blick auf die Entfremdung des Menschen in der (spätbürgerlichen) Gesellschaft vermittelte in zynischer Zuspitzung die Zuschüttung alles Menschlichen.
Madame Renaud gibt der Figur in der künstlerischen »Aufarbeitung« ihrer Erinnerungen eine andere Deutung. Die Selbstverständlichkeit und persönliche Souveränität, mit der sie ihren Tag beginnt, ihre Utensilien handhabt und in ihren Erinnerungen fast jugendlich und heiter auflebt, kontern dies leere Dasein, die lähmende Umgebung. Die Lesart wurde möglich: Was mein Leben wert ist, bestimme ich - mit der Anstrengung meines eigenen Humanismus. Zum tiefsten Erlebnis wurde für den Zuschauer die Selbstbehauptung des Menschlichen.
Daß hierbei nicht ein Überspielen der harten gesellschaftskritischen Assoziationen des Stückes eintritt, belegt u. a. einer der bewegendsten Vorgänge der Inszenierung. Zu den auf dem Sandhaufen ausgebreiteten Utensilien gehört auch eine Pistole. Am Ende des Stückes kriecht der Mann, wieder und wieder angesprochen und ironischkritisch herausgefordert, mit plötzlicher, letzter und äußerster Anstrengung auf die die Partnerin zu. Zwischen ihm und ihr liegt die Pistole, der sein ausgestreckter Arm sich mühsam nähert: Es ist unklar, worauf seine Anstrengung sich richtet - auf die späte Berührung der Frau oder auf die Pistole. Ist es letztes Aufbrechen der Liebe oder zorniger Entschluß zum mörderischen Ende? Barrault macht in der äußersten Anstrengung das auch jetzt noch Undeutliche, Unentschiedene im Verhalten der Gestalt erlebbar, die extreme Spannung einer lebenslangen ereignislosen Qual der untätigen Entscheidungslosigkeit. Alles wird wohl davon abhängen, was er zuerst in die Hand bekommt. Und die Pistole liegt zunächst. Da beginnt Renaud, selbst mit ihrem Leben am Ende, in anteil nehmender Beobachtung der Anstrengung des Mannes erst leis und ungewiß, dann sicherer und gelöst ein Lied zu singen. Es erreicht den Mann, es bringt die Entscheidung: es wird nicht geschossen. Die Partner, allerdings, finden sich nicht mehr, ihre gemeinsame Existenz bleibt unerfüllt. Dem Menschlichen aber ist eine Chance erhalten und eröffnet [...].
Aus Rolf Rohmer: Von Tradition und Humanismus der Theaterkunst. Nach-Bemerkungen zum »Theater der Nationen« 1982, S. 4-7 (hier S. 4).
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Umschau | |
TdZ-Porträt (35): Magda Nadorvon Dagmar Mammitzsch | Seite 1 |
Komische OperLa Bohème von Giacomo Puccini. Regie: Harry Kupfer, musikalische Leitung: Rolf Reuter, Ausstattung: Reinhart Zimmermann / Eleonore Kleibervon Dieter Kranz | Seite 1 |
Deutsch-Sorbisches Volkstheater BautzenDas Lied vom tapferen Sprejnik von Barbara Kmicic. Regie: Pravoš Nebeský, Ausstattung: Karel Zmrzly, Choreographie: Soja Mikotova / Otto Meineckevon Dagmar Borrmann | Seite 2 |
Eibe-Elster-Theater WittenbergEin neues Dekameronical als ABC der Liebe von Kahlow / Natschinski. Regie: Helmut Bläss, musikalische Leitung: Gerd Natschinski a. G. / Klaus Hofmann, Ausstattung: Roderich Vogelvon Elke Schneider | Seite 2 |
Landestheater EisenachDie Südpolexpedition des Kapitän Scott von Reinhard Goering. Regie: Jörg Kaehler a. G., Ausstattung: Bernhard Schwarz a. G.von Jochen Gleiß | Seite 3 |
Landestheater AltenburgSalon Pitzelberger von Jacques Offenbach. Regie: Wolfgang Langner; Der Stralauer Fischzug von Leo Spies. Choreographie: Günter Buch, musikalische Leitung: Helmut Wünderlich, Ausstattung: Sabine Böhmevon Volkmar Draeger | Seite 3 |
Essay | Seite 4 |
Von Tradition und Humanismus der TheaterkunstNach-Bemerkungen zum »Theater der Nationen« 1982von Rolf Rohmer | |
Kolumne | Seite 4 |
Der Gegenstandvon Dietmar Fritzsche | |
Theater-Alltag | Seite 7 |
Entfremdete Partner?Theaterproblematik aus Parkettsicht / Ein Diskussionsbeitrag aus Karl-Marx-Stadtvon Ludwig Rücker | |
Shakespeare | Seite 8 |
Zur »Macbeth«-Inszenierung der Volksbühnevon Hans-Rainer John | |
Oper | Seite 10 |
Faustus und die SchauspielbühneHanns Eislers Libretto zu »Johann Faustus« am Berliner Ensemblevon Manfred Nössig | |
Berliner Festtage | Seite 11 |
XXVI. Berliner Festtagevon Martin Linzer | |
Umschau (in Kürze) | |
Theater im PalastDie Mitschuldigen von J. W. v. Goethe. Regie / Ausstattung: Horst Drindavon Helmar Schramm | Seite 12 |
Städtische Theater Karl-Marx-Stadt - Gastspiel zu den Berliner FesttagenGoethe-Werkstatt. Zusammenstellung: Dieter Görne / Irmgard Lange / Manfred Patzschke. Regie: Irmgard Lange, Ausstattung: Volker Walthervon Silvia Brendenal | Seite 12 |
Maxim Gorki Theater - StudiobühneAltmodische Komödie von Alexej Arbusow. Regie: Wolfgang Krempel, Ausstattung: Henning Schallervon Achim Gebauer | Seite 13 |
Metropol-TheaterBretter, die die Welt bedeuten von Bez / Degenhardt / Kneifel. Regie: Hans-Joachim Martens, musikalische Leitung: Hans-Werner Nicolovius, Ausstattung: Hartmut Henning a. G. / Anneliese Felzvon Wolfgang Lange | Seite 13 |
Tanztheater | Seite 14 |
»Tanz - ein Leben«Ein neuer Kammertanzabend der Komischen Oper im Rang-Foyer mit Choreographien Tom Schillingsvon Dietmar Fritzsche | |
Berliner Festtage | |
Choreographische LeckerbissenBallettensembles aus Frankreich, Kuba und Italien bei den Berliner Festtagenvon Volkmar Draeger | Seite 15 |
Wer Vieles bringt ...Theater aus Italien, der UdSSR und Bulgarien bei den Berliner Festtagen 1982von Ingeborg Pietzsch | Seite 19 |
Dramatisches, Volkstümliches, BesinnlichesSchauspieler aus der ČSSR, aus Indien und Österreich bei den Berliner Festtagenvon Hans-Rainer John | Seite 24 |
Eigenes und FremdesBerliner Festtage mit Puppentheatern aus Berlin, Neubrandenburg, Athen und Stuttgartvon Ernst-Frieder Kratochwil | Seite 28 |
Dramen der Vergangenheit | Seite 31 |
Erben - Erwerben (10 und Schluß)Über einige »Parameter« für die Aneignung klassischer Werkevon Armin-Gerd Kuckhoff | |
Goethe | Seite 33 |
Anregend im Erkannten»Faust II« in Meiningenvon Erika Stephan | |
Schiller | Seite 35 |
Vergnügliche Einbuße?»Wilhelm Tell« am Nationaltheater Weimarvon Erika Stephan | |
Porträt | Seite 36 |
Persönlichkeiten, unverwechselbarDer Schauspieler Matthias Günthervon Dieter Görne | |
Umfrage | Seite 39 |
Reserven marsch!Zum Abschluß der Darsteller-Umfrage »Reserviert für Reserven«von Jochen Gleiß | |
Uraufführung | |
Zwei Gesichter - und die FolgenKarl-Rudi Griesbachs Oper »Aulus und sein Papagei« in Dresden-Radebeul uraufgeführtvon Dietmar Fritzsche | Seite 40 |
Gespräch mit Karl-Rudi Griesbach(Aufgezeichnet von Dietmar Fritzsche)von Dietmar Fritzsche und Karl-Rudi Griesbach | Seite 41 |
Überlegungen des Regisseurs zum Werkvon Klaus Kahl | Seite 43 |
Opernpraxis | Seite 44 |
Opernalltag einmal ganz andersZu einigen Überlegungen Ernst Krauses | |
Diskussion | Seite 46 |
Ignoranz gesicherter Erkenntnisse?Ein Diskussionsbeitragvon Rolf Reuter | |
Oper | Seite 46 |
OpernpraxisVIII. Der Dirigentvon Ernst Krause | |
Theatergeschichte | Seite 48 |
Theatergeschichte(n) Folge 10Die Berliner Primadonnenschlacht von 1872. Auswahl und Kommentar: Werner Ottovon Werner Otto | |
Garderobengespräch | Seite 50 |
Elisabeth Rose(Aufgezeichnet von Werner Otto)von Werner Otto und Elisabeth Rose | |
Ballett | Seite 54 |
Ensemble im AufwindBallett-Premiere »König Drosselbart« in Brandenburgvon Karin Schmidt-Feister | |
Bulgarien | Seite 55 |
Zwischen Rila-Kloster und Pirin-GebirgeStippvisite bei der Bulgarischen Kammeroper Blagoewgradvon Waltraud Prinz | |
Paris | Seite 57 |
Neues aus ParisKleists »Prinz von Homburg« und »Prometheus« von Aischylos / Müller aufgeführtvon Claudio Guidi | |
Frankreich | Seite 58 |
Avignon '82Die Ankunft der Tochter des Papstes?von Wolfgang Schuch | |
Moskau | Seite 60 |
Ein großes Stückchen Traum ...Wjatscheslaw Spessiwzew und sein Theatervon Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth | |
Zum Stückabdruck | Seite 62 |
Fragen an Peter Gossevon Martin Linzer und Peter Gosse | |
Stückabdruck | Seite 62 |
PalmyraStückvon Peter Gosse | |
Inland | Seite 73 |
TdZ-Informativ | Seite 73 |
Keine Zukunft des Theaters ohne JugendGespräch mit Prof. Wollgang Heinz nach der FDJ-Kulturkonferenz (Aus ND vom 4.11.82)von Wolfgang Heinz und Neues Deutschland | |
Inland | Seite 74 |
FDJ-Kulturkonferenz und Fest junger Künstlervon Jochen Gleiß | |
Frieden bleibt HauptwortWillenserklärung Junger Künstler der DDR | |
Unterwegs | Seite 75 |
Gastspiel in Koreavon Michael Feldmann | |
Inland | Seite 75 |
Theater und Film für Kindervon W. W. | |
Gewandt | |
Spaß am Verändernvon Helga Lang-Leverenz | |
Personelles | Seite 76 |
Unterwegs | Seite 76 |
Ausland | Seite 77 |
Rumänische Spielzeitvon Mărgaretă Bărbuţă | |
Ausschnitte | Seite 77 |
90 Prozent ohne Beschäftigung(Aus »Rose el youssef«, Kairo, gek.) | |
Personelles | Seite 77 |
Erhard Fischer zum 60. Geburtstag am 10.11.82 | |
Ausland | Seite 78 |
Ballettwettbewerb Jackson (USA)von Dietmar Fritzsche | |
Beratung über Sänger-Ausbildungvon Reinhard Schau | |
Briefe | Seite 79 |
Lieber Stephan Hellmann!von Dietmar Müller | |
Bücher | Seite 79 |
Anlässe, Shakespeare zu spielen. Ein Vortrag von Armin-Gerd Kuckhoff und Gespräche mit A. Lang und Th. LanghoffHeft 161 der Schriftenreihe »Material zum Theater«, hgg. vom Verband der Theaterschaffenden der DDR, Berlin 1982, 88 S., 3,50 Mvon Hans-Rainer John | |
»Bewundert viel und viel gescholten ...«Liebeserklärungen internationaler Stars an Theater und Film, herausgeg. von Renate Saydel, Henschelverlag Berlin 1982, 4,80 Mvon Ingeborg Pietzsch | |
Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. In der Prosafassung von 1781, herausgegeben von Eberhard HaufeInselverlag Leipzig 1982 (Insel-Bücherei Nr. 670), 92 S., 1,25 Mvon Hans-Rainer John | |
Neuinszenierungen | Seite 80 |
Neuinszenierungen der Theater im Spieljahr 1983 | |
Spielpläne | Seite 82 |
Vom 16. 12. 1982 bis 15. 1. 1983 | |
Premierenkalender | Seite 84 |
Vom 16. Dezember 1982 bis 15. Januar 1982 | |
Besetzungen | Seite 84 |
Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel / Musiktheater / Tanz | |
Impressum | Seite 85 |
Autoren | Seite 85 |
Inhalt | Seite 88 |
Mărgaretă Bărbuţă
Dagmar Borrmann
Silvia Brendenal
Oksana Bulgakowa
Volkmar Draeger
Michael Feldmann
Dietmar Fritzsche
Achim Gebauer
Jochen Gleiß
Dieter Görne
Peter Gosse
Karl-Rudi Griesbach
Claudio Guidi
Wolfgang Heinz
Dietmar Hochmuth
Hans-Rainer John
Klaus Kahl
Dieter Kranz
Ernst-Frieder Kratochwil
Ernst Krause
Armin-Gerd Kuckhoff
Helga Lang-Leverenz
Wolfgang Lange
Martin Linzer
Dagmar Mammitzsch
Dietmar Müller
Neues Deutschland
Manfred Nössig
Werner Otto
Ingeborg Pietzsch
Waltraud Prinz
Rolf Reuter
Rolf Rohmer
Elisabeth Rose
Ludwig Rücker
Reinhard Schau
Karin Schmidt-Feister
Elke Schneider
Helmar Schramm
Wolfgang Schuch
Erika Stephan
W. W.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren