Heft 03/1999
Ausbildung
Die Akademie in Gardzienice
Broschur mit 104 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
An dieser Stelle sollte eigentlich unser Editorial erscheinen, das die Nichtverlängerung des Intendantenvertrags von Thomas langhoff und den Stil einer inkompetenten Kulturpolitik kommentierte. Da erreicht uns die erschütternde Nachricht vom Tod Sarah Kanes. TdZ ist dem Werk der Dramatikerin in besonderer Weise verbunden, im Heft 6/1996 wurde "Zerbombt" als erste deutsche Veröffentlichung Kanes hier abgedruckt. Die Redaktion
Im freien Fall: Zum Selbstmord von Sarah Kane: "Töte mich. (Ein Schlag). Im freien Fall... Ins Licht... Strahlend weißes Licht Welt ohne Ende... Du bist rot für mich... Herrlich. Herrlich Daß es immer so sei ... Glücklich... So glücklich ... Glücklich und frei. " Das sind die letzten Worte von "Crave", dem letzten Stück, das die britische Dramatikerin Sarah Kane veröffentlicht har. "Crave" heißt "Verlangen". Zwei Frauen und zwei Männer sprechen sie, nachdem sie sich verloren haben. So gefangen waren sie in ihren paradoxen Charakteren. Und nur der Tod scheint sie zu befreien von einem Verlangen, das sie nicht stillen können. Die Sprache ist komponiert wie eine Fuge, wo dieselben Themen durch alle Stimmen wandern. Alle sind mit sich allein und vereinigen sich in einem Schrei. Jeder singt seinen Schmerz und ist das Echo desjenigen, den er verletzen will.
Der Rest ist Requiem. Denn in der Nacht des 19. Februar hat Sarah Kane sich umgebrachr. Sie war 28 Jahre alt und hat vier Dramen hinterlassen, die in Großbritannien und in ganz Europa inszeniert worden sind. Es ist möglich, ihren Tod als die logische Fortsetzung ihres Werkes zu verstehen. Auch wenn das die klassische Form ist, aus dem Selbstmord eine Legende zu bilden. Für Kane ist "Crave" der verzweifeltste Text, den sie gesch rieben har. Gerade weil sie darin zum ersten Mal auf den Exzess der Gewalt verzichter. "An einer Stelle sagt dort jemand: Etwas hat sich gelöst - und ab da scheint es immer hoffnungsvoller zu werden. In Wahrheit haben die Figuren alle längst aufgegeben, und es ist das etste meiner Stücke, in dem sie sagen: Scheiß drauf, ich hau ab von hier. In ,Cleansed' hört die Liebe nicht auf, sie ist eine letzte Rettungsmöglichkeit... Wohingegen ,Crave' in einem Stadium geschrieben wurde, als mein Glaube an die Liebe verschwunden war."
Wer von Sarah Kane sprach, der sprach von Gewalt. In ihrem vorletzten Stück "Cleansed" werden Zungen, Hände und Füße abgeschnitten, werden Heroinspritzen ins Auge gesetzt, Männer gepfählt und Bücher verbrannt. Die Schwester schläft mit dem roten Bruder, und eine Sonnenblume sprengt den Boden, wächst ihnen über den Kopf. Und dennoch geht es nicht um Gewalt, sondern darum, wie sehr diese Menschen lieben. Oder wie sehr jene Welt, in der sie sich finden, die Liebe unmöglich macht. Wie sehr die Sehnsucht anrennt dagegen.
Die Bilder, die so deutlich und unnahbar sind wie die Bilder eines Alptraums, entstehen auf dem Gelände einer "Universität", das mit Stacheldraht umzäunt ist. Und obwohl der dramatische Ort abstrakt bleibt, assoziierte sie ihn in einem Interview mit den Konzentrationslagern des zweiten Weltkriegs. Das empörte die Kritik, die sich gern empörte, wenn Sarah Kane sich geäußert hat. Ihr erstes Drama "Blasted", 1995 am Royal Court Theatre in London inszeniert, hat einen der größten Theaterskandale der letzten Jahre ausgelösr. Der Aurorin wurde zynischetweise genau der Zynismus vorgeworfen, den sie in ihrer Arbeit darstellt. Ähnlich ging es mit ihrem zweiten Stück "Phaedra's Love". Sarah Kane ließ sich nicht beirren vom Mißverständnis der Medien, vom eigenen Erfolg. Sie sagte so klar und knapp wie möglich, was sie zu sagen harre. Sie fand sich nicht ab mit der Wirklichkeit und bannte sie in ihre harten Formeln. Ihre Dichtung war aufrichtig und zielte auf das Ideal.
Manchmal ist da ein Mensch, der einem Kometen gleicht. Wenn das Auge ihn entdeckt hat, ist er schon erloschen. Was bleibt, ist eine kleine leuchtende Spur.
Eva Corino
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Im freien Fall: Zum Selbstmord von Sarah Kanevon Eva Corino | |
Gespräch | |
Die Sozietät der Schule ReinhardtsThomas Langhoff im Gespräch mit Thomas Irmervon Martin Linzer, Thomas Irmer und Thomas Langhoff | Seite 4 |
"Schauspielerei ist Denken und Energie!"Ulrich Mühe im Gespräch mit Thomas Irmervon Thomas Irmer und Ulrich Mühe | Seite 7 |
Report | Seite 11 |
Vom Stelldichein zum SetzdichfestEine Woche in der "permissiven Geschlossenheit" von Baselvon Barbara Engelhardt | |
Essay | Seite 18 |
Kann das Publikum wollen?Zur Zuschauersituation im DDR-Schauspiel und in den ostdeutschen Theatern heutevon Thomas Wieck | |
Intendantengespräch | Seite 22 |
Heilige Kühe schlachten?Der Detmolder Intendant Ulf Reiher im Gespräch mit Martin Linzervon Martin Linzer und Ulf Reiher | |
Inszenierung | Seite 26 |
Jubiläum ohne Jubel"Faust" in Frankfurt/Main und Weimarvon Thomas Irmer | |
Porträt | Seite 29 |
extrem - zartDie Schauspielerin und Regisseurin Martina Eitner Acheampongvon Anja Nioduschewski | |
Dramaturgie | Seite 33 |
Das Publikum kennenvon Caren Fischer | |
Erinnerung | Seite 37 |
12.000 Zeichen für Grotowskivon Andrzej Tadeusz Wirth | |
Ausbildung | Seite 40 |
Theater-ExpeditionenDie polnische "Akademie für Theaterpraktiken Gardzienice"von Carena Schlewitt | |
Freies Theater | Seite 44 |
Episches PräsensSandra Strunz' dritte große Regiearbeitvon Ulrich Deuter | |
Puppentheater | Seite 46 |
Illusionisten gesuchtDas Puppentheater der Stadt Hallevon Evelyn Finger | |
Ausland | Seite 50 |
Wie sieben Verrückte die Revolution vorbereitetenTheater in Buenos Airesvon Ulrich Merkel | |
Auftritt | |
Richard Foremans "Hotel Fuck"New Yorkvon Markus Weßendorf | Seite 54 |
Peter Weiss im Theater an der TagankaMoskauvon Wladimir Koljasin | Seite 55 |
Célines "Fortschritt" uraufgeführtBonnvon Heinz Kluncker | Seite 56 |
Uraufführung von Stefan Schütz' "Hotel Abendland"Linzvon Wilfried Passow | Seite 57 |
Lothar Trolles "Sie zu dritt unter einem Apfelbaum" und "König Lear" von ShakespeareChemnitzvon Martin Linzer | Seite 58 |
Thomas Ostermeier inszeniert MaeterlinckBerlinvon Martin Linzer | Seite 59 |
Konstanze Lauterbachs "Hexenjagd"Bremenvon Stefan Grund | Seite 60 |
HamletprojekteFreiburgvon Bodo Blitz | Seite 61 |
"Die natürliche Tochter" von GoetheCellevon Michael Quasthoff | Seite 63 |
Ulf Reiher inszeniert SchillerDetmoldvon Martin Linzer | Seite 63 |
3 x Schloßtheater zur EröffnungDresdenvon Jörg Mihan | Seite 64 |
Autorentheater in der "Rampe"Stuttgartvon Tilmann Seidel | Seite 66 |
"Viel Lärm um nichts" im SchloßparktheaterBerlinvon Martin Linzer | Seite 67 |
Einar Schleefs "Wilder Sommer"Wienvon Nikolaus Merck | Seite 68 |
Achim Freyer inszeniert Franz Xaver KroetzWienvon Michael Muhr | Seite 69 |
Inszenierungen von Barbara BeyerBasel / Hannovervon Nora Eckert | Seite 70 |
Premierenkalender | Seite 70 |
Premieren im März und April 1999 | |
Stück | |
"Ich kenne mehr Ärzte als Könige!"Christoph Hein im Gespräch mit Terry Albrechtvon Christoph Hein und Terry Albrecht | Seite 76 |
BRUCHSchauspiel in vier Aktenvon Christoph Hein | Seite 78 |
Magazin | |
Ein schöner Tag zum SterbenDie Marburger Theaterwerkstatt im Schaukastenvon Sabine Heymann | Seite 98 |
Widersprüchliche NachrichtenTheaterhaus Jena kündigt seinem Direktor Sven Schlötckevon Ralph Hammerthaler | Seite 98 |
Musik als Sprache des Inszenierungsprozessesvon Anke Meyer | Seite 99 |
Sieben Jahre jungvon Ingeborg Pietzsch | Seite 99 |
NachrufAugust Everdingvon Dieter Görne | Seite 100 |
NachrufLotte Loebingervon Martin Linzer | Seite 100 |
BücherGoethe-Handbuch. Gesamtwerk in vier Bänden. Metzler Verlag, Stuttgart / Weimar, 1996-1998.von Thomas Irmer | Seite 100 |
BücherDietmar Wiewiora: Materie, kollektive Erinnerung und individuelle Existenz im Theater von Tadeusz Kantor, Universitas, Kraków 1999, 228 S.von Martin Linzer | Seite 101 |
BücherMarkus Weßendorf: Die Bühne als Szene des Denkens. Richard Foremans Ontological-Hysteric Theatre, Alexander Verlag, Berlin, 311 S.von Thomas Irmer | Seite 101 |
BücherNora Eckert: Das Bühnenbild im 20. Jahrhundert, Henschelverlag Berlin, 1998, 264 S.von Ingeborg Pietzsch | Seite 102 |
Meldungen | Seite 102 |
Kolumne | Seite 103 |
Noch was möglich?von Thomas Irmer | |
Autoren | Seite 104 |
Impressum | Seite 104 |
Terry Albrecht
Bodo Blitz
Eva Corino
Ulrich Deuter
Nora Eckert
Barbara Engelhardt
Evelyn Finger
Caren Fischer
Dieter Görne
Stefan Grund
Ralph Hammerthaler
Christoph Hein
Sabine Heymann
Thomas Irmer
Heinz Kluncker
Wladimir Koljasin
Thomas Langhoff
Martin Linzer
Nikolaus Merck
Ulrich Merkel
Anke Meyer
Jörg Mihan
Ulrich Mühe
Michael Muhr
Anja Nioduschewski
Wilfried Passow
Ingeborg Pietzsch
Michael Quasthoff
Ulf Reiher
Carena Schlewitt
Tilmann Seidel
Markus Weßendorf
Thomas Wieck
Andrzej Tadeusz Wirth
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren