Heft 11/2000
Der Sturz
Biljana Srbljanović und der Umbruch in Jugoslawien
Broschur mit 104 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Nach dem Sturz - Belgrad. 16. Oktober, 1 Uhr nachts: der Besuch der alten Dame auf der Bank. Die über 70jährige Borka Vucic hat sich dazu einen Sturmtrupp als Begleitung auserkoren, der ihr die Türen zur Beogradska Banka öffnet. Bis vor kurzem noch deren Leiterin und Slobodan Miloševićs offizielle Staatsbanquière, nimmt sie sich nun die Zeit, in nächtlicher Ruhe ihr Büro aufzuräumen. Eine gute Gelegenheit, dabei auch gleich Akten und Dokumente zum kriminellen Finanzgebaren des alten Regimes aus dem Verkehr zu ziehen.
Schwarz-, Ander- und Auslandskonten gibt es eben überall. Aber der Milošević-Clan und seine Entourage hat mit organisierter Kriminalität - Geldwäsche, Korruption, anscheinend auch Drogenhandel - ein feines Vermögen im Ausland platziert, allein dank Swiss Connection liegen Millionen von Dollars auf Eis, von den wichtigsten Transaktionen auf zyprische Konten ganz zu schweigen. Wo Bestechung und persönliche Bereicherung gang und gäbe waren, ist für einen erheblichen Teil der jugoslawischen Bevölkerung konkrete Armut zum realexistierenden Notstand geworden, Serbien ein Armenhaus, das für den kommenden Winter mit Engpässen der Lebensmittelversorgung rechnen muss.
Dem freiheitsberauschten Volksfest auf den Belgrader Straßen, der "lachenden Revolution", bei der Zehntausende Oppositionelle mit Babyrasseln lärmend sich den tyrannischen Machthabern als Spielzeug versagten, droht Ernüchterung. Der politische Kompromiss einer Übergangsregierung unter dem Wahlsieger Koštunica verhindert vorerst, dass die bisherigen sozialistischen Machthaber vom Elan der Demonstrationen einfach aus den Ämtern gewuchtet werden. Das dürfte nur hellhöriger dafür machen, dass mit dem Sturz Miloševićs allein das Übel noch lange nicht bei der Wurzel gepackt ist. Der neuen politischen Elite stehen unkalkulierbare Schwierigkeiten bevor. Sie muss Verantwortung übernehmen nicht nur für den weltökonornischen Richtungswechsel - sprich für die Integration in die EU mit allen Haken und Hürden -, sondern Verantwortung auch gegenüber dem Vergessen. Niemand kann so tun, als seien die letzten 50 Jahre der balkanischen Geschichte auch nur annähernd verarbeitet, wenn in dieser verbrannten Erde die Euro-Flagge verheißungsvoll aufgesteckt wird. Weder Krieg und "ethnische Säuberung", noch die Tito-Zeit nach 1945, die Mythen und Dogmen geschaffen, so vieles mit Tabus belegt hat und dabei an den Tropf von Westkrediten gelegt wurde. dürfen der "Zukunft" wegen unterschlagen werden. Der Sturz eines diktatorischen Machtpolitikers und seines engsten Clans sind das eine - die von großen Teilen der Bevölkerung zugelassene Geschichte einer Eroberung dieser Macht wieder etwas ganz anderes.
Lange vor dem revolutionären Sturm hat die Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanović sich mit ihrem Stück "Der Sturz" genau diesem Zwiespalt ausgesetzt. Die Resonanz darauf fiel folgerichtig auch auf Seiten der Opposition harsch aus, weil die Autorin einfache Schuldzuweisungen systematisch hinterfragt. Heute, nur wenige Wochen nach der Uraufführung, wirft die jüngste Geschichte Jugoslawiens wieder ein neues Licht auf ihr Stück. Die schlichte Direktheit der Symbolik und Sprache, die schonungslose (Selbst)Kritik an der Rolle der Intellektuellen, der skeptische Blick auf "das Volk", das sich ins kollektive Schicksal zwingen lässt, und der offene Ausgang einer historischen Chance - all das beschreibt die Autorin trotz des Freiheitstaumels und hoffnungsvollen Aufbruchs mit großer Hellsichtigkeit. Genau das ist Grund für uns, den "Sturz" als einen literarischen Beitrag zur Diskussion um Jugoslawien an ganz außergewöhnlicher Stelle abzudrucken. Dass es erst einer Masse Menschen bedurfte, die mit brachialen Mitteln statt vieler Worte die Machtverhältnisse einfach aushebelten, hat Biljana Srbljanović aktiv auf der Straße erfahren. Sie weiß aber - ebenso wie Boško Milin (S. 24) -, dass die Bulldozer das staatliche Fernsehzentrum, also die Produktionsstätte von Propaganda und kollektiven Symbolen, zwar niedergewalzt haben, der Aufbruch sich aber mit einer weniger euphorisierenden Dekonstruktion von Mythen fortsetzen muss - auch im Theater. "Denn die Welt ist schön zu begehren und schal zu begreifen", dichtete die vor kurzem erst als Theaterautorin wiederentdeckte Gertrud Kolmar. Weniger skeptisch als optimistisch, nicht in erster Linie pädagogisch, sondern luzide pragmatisch hofft Biljana Srbljanović auf die Wirksamkeit von Theater. Wohl auch, um mit Hilfe der Kunst sich schaler Nüchternheit entgegenzustemmen - vor allem aber dem schönen, dem trügerischen Schein.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Nach dem Sturz | |
Jugoslawien | |
"Ich bin absolut optimistisch"Biljana Srbjanovic im Gespräch mit Barbara Engelhardt und Thomas Irmervon Barbara Engelhardt, Thomas Irmer und Biljana Srbljanović | Seite 4 |
"Der Sturz"Stückabdruck spezialvon Biljana Srbljanović | Seite 6 |
Nach dem SturmDem jugoslawischen Theater steht die Erneuerung noch bevorvon Boško Milin | Seite 24 |
Neustarts | |
Hypnotisierte Kaninchen in Downtown SwitzerlandDie Intendanz Marthaler nach drei Premieren in einer Stadt der Neuen Mitte | Seite 26 |
Smiles and moreAuftakt in Hannovervon Michael Quasthoff | Seite 30 |
Bühnenbild | Seite 33 |
Im Raum für Stücke denkenJan Pappelbaum im Gespräch mit Kathrin Tiedemannvon Jan Pappelbaum und Kathrin Tiedemann | |
Eine Woche in... | Seite 37 |
Luft zum DurchatmenEine Woche in Göttingenvon Jörg Buddenberg | |
Kulturpolitik | Seite 40 |
Ein Modell für Deutschland?Krefeld und Mönchengladbach - die älteste Theaterehe Deutschlands in der 50. Spielzeitvon Christian Peiseler | |
Rollenbild | Seite 44 |
Hast du meinen Hund gesehen?Milan Peschel spielt Hamlet in Kasselvon Thomas Irmer | |
Tessin | Seite 46 |
Das kleine IdentitätstheaterWenn auf Schweizer Bühnen italienisch gesprochen wirdvon Pierre Lepori | |
Holland | |
Schauspielkollektive im MedienzeitalterDas Theaterfestival 2000 in Amsterdamvon Barbara Engelhardt | Seite 50 |
"Meine Theaterbibel bleibt Kleists 'Marionettentheater'"Geradjan Rijnders im Gespräch mit Barbara Engelhardtvon Barbara Engelhardt und Gerardjan Rijnders | Seite 53 |
Auftritt | |
Drei Auftaktinszenierungen im Thalia TheaterHamburgvon Stefan Grund | Seite 56 |
Der Eröffnungsreigen im Deutschen SchauspielhausHamburgvon Stefan Grund | Seite 58 |
Brussigs "Heimsuchung" und zwei weitere PremierenMainzvon Anja Nioduschewski | Seite 60 |
Aufbruch im neuen TheaterHallevon Michael Helbing | Seite 62 |
Uraufführungen von Marlene Streeruwitz und Lutz HübnerBielefeldvon Jörg Buddenberg | Seite 64 |
Debüts mit "Der Scheiterhaufen" und "Untermieter gesucht"Essenvon Ulrich Deuter | Seite 66 |
"Die Kunst der Komödie" und "Context" noch im alten DomizilNeussvon Ulrich Deuter | Seite 68 |
Braschs "FrauenKrieg. Drei Übermalungen" in Martin Meltkes RegiePotsdamvon Martin Linzer | Seite 69 |
"Norman Plays Golf" im Theaterhaus GessneralleeZürich | Seite 70 |
Internationales Beckett-FestivalBerlinvon Thomas Irmer | Seite 71 |
"Der Maschinist" im Musiktheater uraufgeführtMagdeburgvon Nora Eckert | Seite 73 |
Goethes "Clavigo" auf estnischTallinnvon Jörg Mihan | Seite 74 |
Kolumne | Seite 75 |
Eigentlich überhaupt nichts Gekünsteltesvon Robin Detje | |
Stück | |
Verdacht erregenBarbara Engelhardt fragt Helmut Krausservon Barbara Engelhardt und Helmut Krausser | Seite 76 |
Haltestelle. Geister.Trash-Oper im breiten Stilvon Helmut Krausser | Seite 77 |
Magazin | |
Dramaturgie als Verfahren der OrchestrierungNachtrag zur internationalen Schule für Theateranthropologie (ISTA) in Bielefeldvon Christel Weiler | Seite 96 |
Expo-RückblendeFreies Theater in Sachsenvon Thomas Irmer | Seite 96 |
BücherMiriam Dreysse Passos de Carvalho: Szene vor dem Palast. Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt/M., 1999, 250 S.von Christina Schmidt | Seite 97 |
BücherGünther Heeg: Klopfzeichen aus dem Mausoleum, Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000, 192 S. mit Abbildungenvon Axel Schalk | Seite 98 |
Meldungen | Seite 99 |
Premierenkalender | Seite 100 |
Autoren | Seite 104 |
Impressum | Seite 104 |
Jörg Buddenberg
Robin Detje
Ulrich Deuter
Nora Eckert
Barbara Engelhardt
Stefan Grund
Michael Helbing
Thomas Irmer
Helmut Krausser
Pierre Lepori
Martin Linzer
Jörg Mihan
Boško Milin
Anja Nioduschewski
Jan Pappelbaum
Christian Peiseler
Michael Quasthoff
Gerardjan Rijnders
Axel Schalk
Christina Schmidt
Biljana Srbljanović
Kathrin Tiedemann
Christel Weiler
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren