Heft 02/2001
Der Stand der Dinge
Schaubühne und TAT
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Einer werfe des anderen Stein: Am 10. Januar erreichte die Redaktion ein Fax mit dem Kopf des Theater Basel. Darin teilte der Intendant Michael Schindhelm mit, dass es eine Akte gibt, die ihn als inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit "bezeichnet". Weiter heißt es: "Ich bin nicht überrascht, aber ich bin - wie andere vor mir - nicht einverstanden, mitgearbeitet zu haben." Nicht einverstanden, mitgearbeitet zu haben. Diese Formulierung gibt zu denken. Was heißt das? Ich war leider IM, aber aus heutiger Sicht war ich es eigentlich nicht? Am nächsten Tag brachte die ZEIT Schindhelms literarisch verbrämte Schilderung des Falls ("Erinnerungen eines bespitzelten Spitzels"), in der er sich als studentischer Peter Schlemihl ausgibt, dem die Geheimdienste - denn auch der KGB ist mit im Spiel - den Schatten rauben. Immerhin: "Ich lasse mir eine Erklärung in die Feder diktieren ..." usw. Das ist Klartext, und einige Treffen mit dem Herrn Führungsoffizier werden auch geschildert. Naturgemäß wurde niemand belastet, und gar niemand kam hinterher zu Schaden. Wenn das so ist, dann könnte Schindhelm elf späte Jahre nach der Erstürmung der Berliner Stasi-Zentrale in Lichtenberg auch einverstanden sein. Oder?
Exakt zur selben Zeit meldete sich auch der Kasseler Intendant Prof. Dr. jur. Christoph Nix per Fax bei der Redaktion, um mitzuteilen, dass er "wissenschaftlich über das Thema ,Stasi und Theater' arbeite" und Schindhelms späte Offenbarung als "beklagenswerten Rechtfertigungsartikel" empfindet. Doch dann wird der Jurist Nix überraschend unwissenschaftlich und auch ungenau: "In Nöten befanden sich die Opfer, denen Leute wie-Schindhelm ihre Karriere vermasselt haben." Meint er da Schindhelm selbst? Oder andere, eventuell nur in etwa vergleichbare Fälle aus dem Riesenheer der IMs, von denen ja ganz sicher einige die Karrieren anderer vermasselt haben. Meist nicht als hehren Klassenkampf, sondern aus persönlicher Missgunst und anderen niederen Antrieben, auf die sich ein Geheimdienst, falls er seine Spitzel nicht erpresst, zuallererst stützt. Nix sollte seine Aussage belegen und nicht allein als moralischen Vorwurf stehen lassen. Denn genau solche Sätze haben von Anfang an eine Atmosphäre geschaffen, in der es sogar dem eitelsten und selbstgewissesten Schlemilil unmöglich war, seinen eigenen Fall selbst zu outen und öffentlich zu ergründen. Seit 1990 hat dieses Auftrumpfen im Namen einer kaum definierten Moral - von den berechtigten Ansprüchen der Stasi-Opfer kann in diesem Zusammenhang ebensowenig wie von der schon weit vorangekommenen wissenschaftlichen Aufarbeitung gesprochen werden - den Begriff der Reinigung mit dem der Säuberung verwechselt.
Der Basler Verwaltungsrat der Theatergenossenschaft sieht keinen Anlass, Schindhelm das Vertrauen zu entziehen. Ein Gremium von "drei Weisen" soll in einem Gutachten seine 260 Seiten starke Stasi-Akte analysieren. Diese Entscheidung, der eine Unschuldsvermutung zugrunde liegt, kann man nicht anders als besonnen nennen. Zumal in einer Situation, da das Theater Basel seine in der Stadt umstrittene Arbeit auch öffentlich zu klären sucht (siehe S. 77).
Es sind nicht nur die Schatten der Vergangenheit, die vermeintlich auf die Theater fallen. Finanziell sieht die Berliner Schaubühne einer ungewissen Zukunft entgegen. Nach einem Jahr unermüdlicher Arbeit mit neuen Stücken und alten Hits ist der einst von Thomas Ostermeier in dieser Zeitschrift vorab formulierte Anspruch (TdZ 4/99) einer Repolitisierung in leiseren Tönen und längeren Zeiträumen gewichen (S. 4 bis 7). Und auch das Frankfurter TAT, das anfangs den "Grundlagen nach der Avantgarde" (TdZ 1/00) nachging, bilanziert inzwischen andere Werte (S. 8 bis 10). "Unzynisch" ist eine Lieblingsvokabel der SchaubühnenTruppe, ihre Haltung zu beschreiben. Sehr sympathisch.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Einer werfe des anderen Stein | |
Berlin | Seite 4 |
Die Schaubühne der unzynischen VernunftJürgen Schitthelm, Jens Hillje und Jochen Sandig im Gesprächvon Jochen Sandig, Jürgen Schitthelm und Jens Hillje | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 8 |
Klare KonturenWie das Frankfurter TAT-Ensemble in der zweiten Spielzeit sein Programm erneuertvon Jan Wenzel | |
Gespräch | Seite 12 |
"Irgendwann müssen sie doch merken, dass das nichts taugt..."Die Schauspielerin Judith Engel im Gespräch mit Barbara Engelhardtvon Barbara Engelhardt und Judith Engel | |
Essay | Seite 16 |
Theater der Natur und KunstEine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Berlinvon Frank Eckart | |
Bühnenbild | Seite 20 |
Auf der Suche nach dem "inneren" RaumRicarda Beilharz im Gespräch mit Alfred Schliengervon Alfred Schlienger und Ricarda Beilharz | |
Rollenbild | Seite 24 |
Der ZerstreuteErnst Stötzner spielt den Protassow in Gorkis "Kinder der Sonne" in Bochumvon Ulrich Deuter | |
Westschweiz | Seite 26 |
Stars oder Hoffnungsfunken?Für einen Neubeginn der Theaterkunst in der französischsprachigen Schweizvon Joël Aguet | |
Porträt | Seite 30 |
Ein Plusminusmann auf der richtigen WelleDer Schweizer Regisseur Sebastian Nüblingvon Dagmar Walser | |
Freies Theater | Seite 32 |
Die Maske fälltDas Theaterhaus Weimar spielt Wirklichkeit im Geiste der Situationistischen Internationalevon Michael Helbing | |
Irland | Seite 34 |
Irinnen im AufwindAutorenförderung und neue Themen bescheren der irischen Dramatik eine Blütevon Holger Zimmer | |
Kindertheater | Seite 37 |
An Sehnsüchten und Ängsten dranDas piccolo-Theater Cottbus spielt seit zehn Jahren für Kinder und Jugendlichen im Süden Brandenburgsvon Anja Schenkel | |
Theater in der Provinz | |
Theater als Wirtschaftsfaktor und InvestorDie Vorpommersche Landesbühne Anklam "leistet Dienst" in der Regionvon Anja Nioduschewski | Seite 40 |
Nahe bei WienDas "Theater der Landeshauptstadt St. Pölten - Theater für Niederösterreich"von Wilfried Passow | Seite 42 |
Thalias DrückerkolonneDas Westfälische Landestheater in Castrop-Rauxelvon Ulrich Deuter | Seite 44 |
Auftritt | |
"Der Schrei des Elefanten" von Farid Nagim, "Das Kind" von Jon Fosse und "Liliom" von Ferenc Molnár am ThaliaHamburgvon Stefan Grund | Seite 46 |
John von Düffels "Balkanszenen" in der Regie von Beat Fäh uraufgeführtBonnvon Christian Peiseler | Seite 48 |
Uraufführung von "Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde" von Lukas BärfussBochumvon Christian Peiseler | Seite 49 |
Uraufführung von "Dem Herz die Arbeit, den Händen die Liebe" von Robert WoelflLeipzigvon Thomas Irmer | Seite 50 |
"Olvenstedt probierts!" von Dirk Heidicke an den Freien KammerspielenMagdeburgvon Jörg Buddenberg | Seite 51 |
"Von morgens bis mitternachts" und Fosses "Der Name"Freiburgvon Bodo Blitz | Seite 53 |
"Über Leben" von Judith Herzberg in der Regie von Stephan KimmigStuttgartvon Otto Paul Burkhardt | Seite 54 |
Thomas Bockelmann inszeniert "Baumeister Solness"Münstervon Christian Peiseler | Seite 55 |
"Der Ring des Nibelungen" von Richard WagnerKielvon Nora Eckert | Seite 56 |
Kolumne | Seite 59 |
Schöner feiern mit leuchtenden Eiernvon Petra Kohse | |
Stück | Seite 60 |
VINETA(oderwassersucht)von Fritz Kater | |
Magazin | |
"Da gehe ich nicht mehr hin!"Die Krise im Basler Schauspielvon Alfred Schlienger | Seite 77 |
Frankfurter Autorenforum des Kinder- und Jugendtheatersvon Wolfgang Schneider | Seite 77 |
Von Ruinen: Neussvon Ulrich Deuter | Seite 78 |
Die 5. Spielstätte des Hamburger Schauspielhausesvon Stefan Grund | Seite 78 |
BücherSchlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000. 272 S., zahlr. Abb.von Stefan Krüger | Seite 79 |
BücherBettina Brandl-Risi, Wolf-Dieter Ernst, Meike Wagner (Hg.): Figurationen. Beiträge zum Wandel ästhetischer Gefüge. ePODIUM Verlag, München 2000, 274 S.von Ulf Schmidt | Seite 79 |
Meldungen | Seite 80 |
Premierenkalender | Seite 81 |
Autoren | Seite 84 |
Impressum | Seite 84 |
Joël Aguet
Ricarda Beilharz
Bodo Blitz
Jörg Buddenberg
Otto Paul Burkhardt
Ulrich Deuter
Frank Eckart
Nora Eckert
Judith Engel
Barbara Engelhardt
Stefan Grund
Michael Helbing
Jens Hillje
Thomas Irmer
Fritz Kater
Petra Kohse
Stefan Krüger
Anja Nioduschewski
Wilfried Passow
Christian Peiseler
Jochen Sandig
Anja Schenkel
Jürgen Schitthelm
Alfred Schlienger
Ulf Schmidt
Wolfgang Schneider
Dagmar Walser
Jan Wenzel
Holger Zimmer
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren