Heft 11/2006
Spielzeitauftakt
Neue Intendanzen in Berlin, Graz, Düsseldorf und Freiberg/Döbeln
Broschur mit 79 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Souveränität Die Fotografie auf der zweiten Seite dieser Ausgabe zeigt Menschen auf einer Aussichtsplattform in Los Angeles. Diese sind akkurat angeordnet innerhalb eines Steinrings, und wie alle Fotografien von Michael Schüler spielen sie mit der Möglichkeit des Inszenierten. Es bleibt immer ein Rest von Irritation darüber, ob der abgebildete Moment genau so stattgefunden hat oder ob die Menschen nicht doch in bestimmte Positionen gestellt wurden, ob ein Eingriff stattgefunden hat. Selbst Aufnahmen in freier Natur haben den Charakter von gut ausgeleuchteten Bühnen, auf denen die Menschen kalt ausgestellt wirken. Michael Schülers Fotografie erzählt davon, dass etwas nicht stimmt. Entlang der Grenze zwischen Realität und Fake bewegt sich auch die Kolumne des Philosophen Carl Hegemann. Er bezieht sich auf eine Publikation von Judith Mair und Silke Becker, die den Fake, das „So-tun-als-ob" als neue, universelle Lebensstrategie feiern: gegen Festgefahrenheit, Saturiertheit und Langeweile. Wenn keiner wisse, was wirklich los sei, schaffe das eine ungeheure Dynamik in der Wirtschaft, in der Politik und besonders im Privatleben. „Du trittst der CDU bei, obwohl du nichts mit ihr am Hute hast, und du versprichst einem x-beliebigen Menschen ewige Treue und wartest mal ab, was dabei herauskommt." Nichts Gutes, sagt die Erfahrung, am Ende eine vielleicht menschliche Tragödie.
Die Einsicht, dass menschliches Verhalten im Kontext von Interaktion nicht eindeutig feststellbar sei, dass jede Geste auch anders gemeint sein könne, steckt in allen Stücken Molières. Dieser Gedanke entstammt dem Gespräch, das Frank Raddatz mit dem Künstlerischen Leiter und Dramaturgen des Theaters an der Ruhr in Mülheim, Helmut Schäfer, anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Theaters geführt hat. Das Gespräch ist ein Plädoyer für die Uneindeutigkeit von Kunst, eines für die Lust an der Ambivalenz oder auch die Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen. Diese Bereitschaft allerdings setzt einen gewissen Grad an Souveränität voraus. Wenn sich ein weiterer Kommentar zu der vor kurzem heiß und heftig geführten Debatte um die vorläufig abgesetzte Inszenierung von Mozarts „Idomeneo" in der Regie von Hans Neuenfels anfügen lässt, dann dieser: Mit der Souveränität unseres Gesellschaftsgefüges ist es nicht weit her, wenn eine Inszenierung aus Angst vor Anschlägen vom Spielplan gefegt werden sollte. Die besorgte Person, die die Berliner Behörden per Telefon vor einer gewalttätigen Reaktion von kunstfernen, radikalen Fundamentalisten auf diese Inszenierung warnte, muss ein gutes Gedächtnis haben. Denn zuletzt war „Idomeneo" 2004 zu sehen. Vielleicht hat die Dame aber auch das Maiheft von TdZ und das Interview mit Hans Neuenfels gelesen, in dem auch besagte Szene mit den geköpften Häuptern der Religionsstifter abgebildet war. Neuenfels' erste Antwort des Gesprächs mit Wolfgang Behrens erscheint im Rückblick noch einmal in neuem Licht. „Ein entscheidender Moment war für mich der Gedanke", so Neuenfels über seinen „Sommernachtstraum" von 1993, „dass Kunst gefährlich und gefährdend ist, immer. Weil sie Wirklichkeit und Wahrheit ausspricht, muss sie generell damit rechnen, dass sie geknebelt und bedroht wird."
Unser Kommentar bezieht sich allerdings nicht auf die Aufregung um den Berliner „Idomeneo"; die Moskauer Journalistin Nina Belenitskaya erinnert auf unserer letzten Seite an den Mord an die mutige Journalistin Anna Politowskaja, die die russische Regierung beharrlich auf ihre Verantwortung, vielmehr ihre Verantwortungslosigkeit im Tschetschenienkrieg hinwies. Anna Politowskaja wurde im Oktober in Moskau erschossen. Wir gedenken einer mutigen Frau, die mit Ihrem journalistischen Schreiben an die Grenzen des in ihrem Staat Sagbaren gegangen ist.
Die Redaktion
Wolfgang Behrens
Tristan Berger
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Franz Anton Cramer
Hermann Götz
Bernhard Hartmann
Carl Hegemann
Morten Kansteiner
Hartmut Krug
Martin Linzer
Rudolf Mast
Jürgen Otten
Nina Peters
Ingeborg Pietzsch
Dirk Pilz
Frank M. Raddatz
Lena Schneider
Willibald Spatz
Marco Stahlhut
Andrzej Stasiuk
Christine Wahl
Stefanie Waszerka
Klaus Witzeling
Hans-Christoph Zimmermann
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