Heft 12/2009
Permanenz der Insolvenz
Claus Peymann und das Berliner Ensemble
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
„Fakt, meine Sprache gehört mir nicht mehr, sondern ich meiner Sprache. Die Niederlage ist perfekt.“ Ein Satz, der sich in der mittlerweile abgeschlossenen fünfbändigen Reihe der Schleef-Tagebücher findet und der das Drama eines Künstlers ahnen lässt, der eine zunehmende Entfremdung zwischen dem Eigenen und der Sprache wahrnimmt. Ein Abgrund, der nicht zuletzt deswegen wächst, weil er hilflos mit ansehen muss, wie dem Sprechtheater angesichts der Veränderungen im politischen Raum jede Definitionsmacht abhanden kommt. Während Christina Schmidt der Geschichte auf den Spuren Schleefs nachgeht, stößt Hartmut Krug bei dem Neuanfang am Dessauer Theater unter der Intendanz von André Bücker auf eine kongeniale dramatische Umsetzung von Schleefs Erzählung „Abschlussfeier“ durch Armin Petras als Regisseur und Autor der Bühnenfassung, die wir in diesem Heft abdrucken.
Im letzten Teil unserer Serie „20 Jahre Mauerfall“ fragt sich der Regisseur B. K. Tragelehn, warum der Raum für Pathos geschlossen ist, seitdem wieder Ordnung herrscht in dem Durcheinander, das mit „Wir sind das Volk“ begann und mit „Wir sind ein Volk“ endete. Wo der Horizont der Zukunft verhangen ist, wächst die Sehnsucht nach den scheinbar unpolitischen Räumen der Vergangenheit. Auch im rechtslastigen Dresden flüchtet man sich gern in ein heiles 19. Jahrhundert, das es so nie gegeben hat, wie der neubestallte Intendant Wilfried Schulz feststellen muss. Wacker richtet er seinen Spielplan an Goethes „Lehrjahren“ aus, ohne dass ganz klar wird, wer denn hinter der Gesellschaft vom Schwarzen Turm steckt, welche einst die Geschicke der Welt lenkte wie heute Obamas Notenpresse und die Goldman Sachs Group.
Dass man der Geschichte nicht immer entkommen kann, zeigt am Thalia Theater in Hamburg unter der neuen Leitung von Joachim Lux die Aufführung der „Marx-Saga“, eines Textes von Juan Goytisolo in der Regie von Christiane Pohle. Von der Hafenstadt geradezu verzaubert, kann Gunnar Decker allerdings mit dem „Ozean“ der Berliner Volksbühne wenig anfangen. Zwar sieht er bei der Ausgrabung dieses jungfräulichen Stücks von Friedrich von Gagern Weltklasse-Schauspieler wie Dieter Montag, Hermann Beyer und Volker Spengler auf der Bühne stehen, doch bleibt der Sturm aus, an dem Kapitän Castorf seine Seemannskünste demonstrieren kann.
Dagegen bewegt sich das Berliner Ensemble – unter Claus Peymann zur bekömmlichen Barkasse umgebaut – weiterhin in der ewigen Wiederkehr des Gleichen durch ästhetisch vermessenes Hafengelände. Hier droht keine Gefahr von nirgendwo, denn durch tollkühne Konstruktionen darf sich der Herr des Hauses, der gern unter Tarif bezahlt, selbst verlängern und bewirtschaften. Dagegen ist doch Götz Werner, der Eigner der Drogeriemarktkette dm, ein ganz anderes Kaliber. Bei dm wie mittlerweile auch bei anderen Firmen müssen die Lehrlinge zustimmen, an Theateraufführungen teilzunehmen. Was in Zahlen heißt, dass pro Jahr über 100 Künstler mit 2500 Partizipanten an über 90 Aufführungen arbeiten. Frank Raddatz ist dem Trend deutscher Unternehmen zum Performativen nachgegangen und tatsächlich auf Rudimente der brechtschen Lehrstücktheorie gestoßen. Rainer Hertwig von der Universität Erlangen berichtet, wie die Jugendlichen sich unter dem Motto „Hottentottentittenattentate“ durch Texte von Tim Etchells kämpfen, während Anna Teuwen der „schwarzen Pädagogik“ der Performancegruppe Showcase Beat le Mot auf den Zahn fühlt. Um Kämpfe ganz konkreter Art geht es in dem palästinensischen Jugendtheater in Jenin, dem Freedom Theatre. Es ist schon erschütternd, wenn Jugendliche, würden sie nicht im Theater eine Stimme bekommen, Selbstmordattentate als Protestform durchaus in Betracht ziehen würden.
Zu guter Letzt erklärt der Maler Johannes Grützke in diesem Heft Manfred Giesler, warum er die Nase voll hat vom Theater und keine Bühnenbilder mehr machen will, nachdem er Matthias Langhoff kennenlernte. Wie heißt es so schön bei Roland Barthes: „Warum ich das Theater liebe, aber trotzdem nicht mehr hingehe“. Aber besser als Fernsehen ist es allzumal, insbesondere wenn man den Kopf, oder was man dafür hält, nicht an der Garderobe abgeben muss.
Doch davon mehr 2010. Einstweilen frohes Fest und einen guten Rutsch wünscht
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | Seite 2 |
Theaterplakatevon Johannes Grützke | |
Porträt | Seite 8 |
Brote im BühnenhimmelDer Maler Johannes Grützke im Gesprächvon Manfred Giesler und Johannes Grützke | |
Debatte | Seite 12 |
Permanenz der InsolvenzClaus Peymann und das Berliner Ensemble – zur politischen Ökonomie eines Auslaufmodellsvon Paul Ackermann | |
Schnittstellen | |
Erzogene und ErzieherAuszubildende performen Tim Etchells „That Night Follows Day“von Rainer Hertwig | Seite 16 |
Bühne im BetriebWarum Unternehmen das Theaterspielen als Ausbildungseinheit entdeckt habenvon Frank M. Raddatz | Seite 20 |
Die Peitsche des Erziehers zeigenVeit Sprenger von Showcase Beat le Mot im Gesprächvon Anna Teuwen und Veit Sprenger | Seite 22 |
Der andere WegJuliano Mer Khamis, Leiter des Freedom Theatre, über Jugendtheater zwischen Feindbildern und Freiheitsstrebenvon Dorte Lena Eilers und Juliano Mer Khamis | Seite 25 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 28 |
Chronik eines angekündigten SchiffbruchsFrank Castorf versinkt im „Ozean“ an der Volksbühnevon Gunnar Decker | |
Neustart | |
Wer wollen wir sein?Wilfried Schulz stellt Dresden die Frage nach dem Bürgertumvon Lena Schneider | Seite 30 |
Auf die SchiffeIn Hamburg sticht das Thalia Theater unter Joachim Lux in Seevon Gunnar Decker | Seite 34 |
Die Küche als ideologische WaffeAm Anhaltischen Theater Dessau beginnt André Bücker seine Intendanz mit zwei Klassikern und einem Gast aus Berlinvon Hartmut Krug | Seite 38 |
Lektüre | Seite 40 |
Erinnern ist ArbeitEinar Schleefs „Tagebuch“ – Abschluss eines unabschließbaren Projektsvon Christina Schmidt | |
20 Jahre Mauerfall | Seite 44 |
Fehlanzeige | |
Auftritt | |
BerlinIn der Schaubühne entlarvt Falk Richter mit seinem neuen Stück „Trust“ die Konsequenzen des Kapitalismusvon Anja Dürrschmidt | Seite 46 |
Wien„2481 desaster zone“ vom theatercombinat enthüllt die Ohnmacht des eigenen Blicksvon Margarete Affenzeller | Seite 47 |
JenaMit „Der Dritte Weg“ von Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder und „Villa Dolorosa“ von Rebekka Kricheldorf erzählt das Theaterhaus Jena von der Sehnsucht nach Aufbruchvon Michael Helbing | Seite 48 |
Freiburg„Buddenbrooks“, „Orestie“, „Hochstabler und Falschspieler“ und „Ich, Cyborg!?“ am Theater Freiburg berichten von sehnsuchtsvollen Aufstiegen und krachenden Abstürzenvon Bodo Blitz | Seite 49 |
NürnbergMit „Atropa – Die Rache des Friedens“ inszeniert Georg Schmiedleitner am Staatstheater drei griechische Tragödien in zwei Stundenvon Willibald Spatz | Seite 52 |
LübeckMit „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ widmet sich Michael Wallner dem Topos der Selbstfindung Witzelingvon Klaus Witzeling | Seite 53 |
SchwerinHenriette Hörnigk zeigt mit „Die goldenen letzten Jahre“ von Sybille Berg, dass die Würde des Menschen antastbar istvon Manfred Zelt | Seite 54 |
Lesarten | Seite 56 |
Federico García Lorca „Yerma“Durst ist Feuervon Wojtek Klemm | |
Kolumne | Seite 57 |
Überwasser! Verstehen Sie?von Josef Bierbichler | |
Gespräch | Seite 62 |
Wirklichkeit jenseits des GedenkkorridorsDer Autor und Regisseur Armin Petras im Gespräch mit Lena Schneidervon Lena Schneider und Armin Petras | |
Stück | Seite 63 |
Einar Schleef „Abschlussfeier“ für die Bühne bearbeitet von Armin Petrasvon Einar Schleef und Armin Petras | |
Verlage im Porträt (5) | Seite 68 |
Sieben Fragen an Knut Lehmann, geschäftsführender Leiter des Verlags Felix Bloch Erben in Berlinvon Anna Opel | |
Magazin | |
Das hältste ja im Kopf nicht ausDas Berliner Grips Theater feiert sein 40-jähriges Jubiläumvon Martin Linzer | Seite 69 |
Kunst, wo ist dein Stachel?Der steirische herbst setzt auf leise Ironie und laute Kunst mit Taktgefühlvon Hermann Götz | Seite 70 |
Der Betrieb frisst die MacherDas Symposium Schleudergang Neue Dramatik an den Berliner Festspielenvon Anna Opel | Seite 72 |
Spielarten eines AffektsDas Festival Zorn! Dramatisches Erzählen heute am Max Reinhardt Seminar in Wienvon Anke Meyer | Seite 73 |
Hauptsache freiDie Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg denkt Theaterausbildung neuvon Kasimir Schmeicher | Seite 74 |
Für eine Entpädagogisierung der TheaterpädagogikDer 1. Internationale Theaterpädagogische Kongress in Konstanzvon Dietmar Sachser | Seite 75 |
Ein Gläschen auf die Verstorbenen72 Stunden in New Orleans zwischen Theater und Totenfeiervon Frank M. Raddatz | Seite 76 |
Bücher | Seite 78 |
Wolfgang Schneider / Meike Fechner (Hrsg.):Grimm & Grips 22, Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 2008/09. Frankfurt am Main 2009, 480 S., 13 EUR.von Tristan Berger | |
Gabi dan Droste (Hrsg.):Theater von Anfang an! – Bildung, Kunst und frühe Kindheit. Bielefeld 2009, 260 S., inkl. Begleit-DVD, 19,80 EUR.von Tristan Berger | |
Hörbuch | Seite 80 |
Schiller. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Hrsg. von Ingo StarzDer Hörverlag, München 2009, 2 CDs, 24,95 EUR.von Laura Steinau | |
Linzers Eck | Seite 81 |
20Plaudereien an DEFA-Kaminen oder Wie der Bund der Babelsberg-Vertriebenen seine Vergangenheit aufarbeitetvon Martin Linzer | |
Radiovorschau | Seite 82 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 83 |
Luzern: Strukturdebatte um neuen Bau für Musiktheatervon Simone von Büren | |
Etc.von Sebastian Kirsch | |
Hamburg: Spardebatte entfacht breite Solidarität mit dem Gängeviertelvon Klaus Witzeling | |
Aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Meldungen | Seite 84 |
Premierenkalender | Seite 85 |
Autoren | Seite 87 |
Impressum | Seite 87 |
Kommentar | Seite 88 |
Vorwärts ins 19. Jahrhundert!von Sebastian Kirsch | |
Vorschau | Seite 88 |
Theater der ZeitJanuar 2010 |
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