Heft 02/2010
Samuel Finzi
Wenn die Hände schweigen
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Und wieder wird gespart in Deutschland. Und wieder müssen sich die Theater ducken. Auch wenn längst nicht gesichert ist, ob ein funktionierendes Kulturleben nicht mehr in die städtische Kasse bringt als eine Abgabenreduktion für Hotelketten. Vielleicht wäre es einmal an der Zeit, dass sich Oper und Sprechtheater zu einer gemeinsamen Großspende an die FDP aufraffen. Was der Kultur fehlt, ist eine durchsetzungsfähige Lobby. Atomkonzerne und Übernachtungsgewerbe machen vor, wie es in Schwarz/Gelb-Deutschland geschmiert läuft. Angesichts der Faktenlage offenbaren die theatralen Dahinwurschtler in den Intendantensesseln einmal mehr ihren sozialdemokratischen Provinzialismus. Einer, dem man mangelnden Weitblick nicht vorwerfen kann, ist Peter Carp. Während die Stadt Oberhausen ein Rekorddefizit von 1,8 Mrd. Euro angehäuft hat, befragt der Leiter des ortsansässigen Theaters längst die bundesrepublikanischen Leitwerte – Chancengleichheit, Integration, kulturelle Grundversorgung. Kurz und gut: Wollen wir amerikanische Verhältnisse und Ghettoisierung, soll es künftig nur noch Theater in den Gemeinden der Besserverdienenden geben, oder müssen Kunst und Kultur gerade da Flagge zeigen, wo nichts mehr geht? Frank Raddatz sprach mit dem Oberhausener Avantgardisten über das Wesen der Demokratie in einer bankrotten Republik.
Während das Ruhrgebiet sich als Kulturhauptstadt 2010 feiert, die Politik gern mal wieder die Region als Megametropole halluziniert, wird im Hintergrund bereits eifrig am kulturellen Bestand gesägt, wie Sebastian Kirsch feststellen muss. Identität lässt sich nicht verordnen. Insbesondere keine weltstädtische. Das wirkliche Leben des Ruhrgebiets erkundet dagegen der indische Autor Ranjit Hoskote an dessen Peripherie – in Dortmund und Bochum. Nachdem die Industrie gegangen ist, kehren die Landschaften zurück.
Gegen bloße Lippenbekenntnisse als Realitätsersatz zog auch Alfred Hrdlicka zeitlebens zu Felde. Gunnar Decker sprach mit der Regisseurin Christine Mielitz über die letzten Theaterarbeiten des großen Grantlers auf der Weltbühne, des Berserkers der leisen Töne. Um Töne ganz anderer Art geht es in dem Essay von Friedrich Dieckmann über die Renovierung der Berliner Staatsoper, wo man sich an die Zerstörung der Proportionen des Fundamentalarchitekten Knobelsdorff macht. Unser Autor widerlegt die bizarren Berechnungen zur Schalloptimierung, die diese Vernichtung steingewordener Geschichte angeblich legitimieren. Unter dem Deckmantel der Effektivität gibt sich die Gesellschaft wieder ihrer Lieblingsneurose hin – dem Geschwindigkeitswahn. Mehr Fügung als Zufall also, dass sich Dirk Baecker in diesem Heft fragt, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf unseren Begriff von Kunst und Kultur, von Theater und öffentlichen Darbietungen hat. Ganz ohne Chip kommt dagegen der Schauspieler Samuel Finzi aus. Dorte Lena Eilers geht dem Geheimnis des gebürtigen Bulgaren in einem Porträt nach. Finzi, der, als er nach Deutschland kam, höchstens ein paar Brocken Deutsch sprach, gehört mittlerweile zur ersten Reihe der Darsteller des Landes. Sein Faszinosum gründet nicht zuletzt darin, dass er der Repräsentant einer anderen Spielkultur ist. Bis nach Bulgarien drang die Aufklärung nicht, und damit entfiel auch die Zurichtung der darstellenden Kunst, um vor den Kutschbock der bürgerlichen Klasse gespannt zu werden. Ein anderes Talent mit osteuropäischen Wurzeln ist Anita Vulesica, Kind kroatischer Eltern, die gerade in Leipzig den Theaterhimmel revolutioniert. Gemeinsam mit der Schauspielerin Franziska Meltzer, die momentan das Publikum des Hans Otto Theaters in Potsdam das Aushalten von Komplexität lehrt, ist sie unsere Entdeckung des Monats.
Nicht nur Deutschland, die Welt ist im Umbruch. Die nächsten 20 Jahre, munkelt so manch beleumdeter Mund, sollen zu den spannendsten Perioden der Geschichte zählen. Nun bricht die Zeit derer an, die immer für Veränderung plädierten. Das Theater, das sich so gern als sensibler Seismograf interpretiert sieht, darf sich auf breiter Front bewähren.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | Seite 2 |
Grafiken und Bühnenarbeitenvon Alfred Hrdlicka | |
Porträt | |
Die Entjungferung SiegfriedsDie Regisseurin und Theaterleiterin Christine Mielitz im Gespräch über Alfred Hrdlickavon Gunnar Decker und Christine Mielitz | Seite 8 |
Der VerwandlerEin Porträt über den Schauspieler Samuel Finzivon Dorte Lena Eilers | Seite 12 |
Debatte | |
Die Ruhr-Lüge 2010Während sich das Ruhrgebiet als Kulturmetropole feiert, soll das Theater Oberhausen geschlossen werdenvon Sebastian Kirsch | Seite 15 |
Raus aus der AbseitsfalleDer Intendant des Theater Oberhausen Peter Carp im Gesprächvon Frank M. Raddatz und Peter Carp | Seite 18 |
Essay | Seite 22 |
Schöne Aussicht (2) Sonnenaufgang um MitternachtEin privater Atlas für das Ruhrgebietvon Ranjit Hoskote | |
Gespräch | Seite 26 |
Ein trojanisches Pferd für die nächste GesellschaftDer Soziologe Dirk Baecker über das Medientheater des 21. Jahrhundertsvon Sebastian Kirsch und Dirk Baecker | |
Schnittstellen | Seite 30 |
Hall unter der HaubeDas neue Sanierungsprojekt der Berliner Staatsopervon Friedrich Dieckmann | |
Neustart | |
Die Spiele der JungenTrotz massiven Einsatzes kommt Tobias Wellemeyer als neuer Intendant in Potsdam nur schwer in die Gängevon Martin Linzer | Seite 33 |
Der Teufel kommt von obenDie erste Spielzeit des Erlanger Theaters unter der Intendantin Katja Ottvon Sabine Wirth | Seite 36 |
TdZ entdeckt | |
Wenn das Herz aussetztDie Schauspielerin Anita Vulesica spielt für den Augenblick der Wahrheitvon Johanna Lemke | Seite 38 |
Über jede Eindeutigkeit erhabenFranziska Melzers Rollen sind Fragezeichen an den Text – und an sichvon Lena Schneider | Seite 39 |
Auftritt | |
BerlinIn Maxim Gorkis „Nachtasyl“ am Berliner Ensemble entspinnt Thomas Langhoff eine bizarre Welt von eigensinniger Würdevon Gunnar Decker | Seite 40 |
BremenAm Theater Bremen geht es mit „Blühende Landschaften“ von David Gieselmann steil bergabvon Alexander Schnackenburg | Seite 41 |
DüsseldorfAm Schauspielhaus: Jan Klata - Mark Ravenhills „Shoot/Get Treasure/Repeat“; Stefan Bachmann - Thomas Jonigks „Ach, da bist Du ja!“von Friederike Felbeck | Seite 42 |
MünchenDejan Dukovskis Stück „Leere Stadt“ am Bayerischen Staatsschauspiel betreibt die völlige Entdramatisierungvon Willibald Spatz | Seite 44 |
BaselIn seiner „La Grande-Duchesse de Gérolstein“ am Theater Basel lässt Christoph Marthaler die Operette zum Requiem werdenvon Simone von Büren | Seite 45 |
Lesarten | Seite 46 |
William Shakespeare „Macbeth“Les Art de Macbethvon Herbert Fritsch und Sabrina Zwach | |
Kolumne | Seite 47 |
Wodka Oblomowvon Ralph Hammerthaler | |
Autorengespräch | Seite 48 |
Welträtsel, ha!Der Autor Christian Martin im Gespräch mit Martin Linzervon Martin Linzer und Christian Martin | |
Stück | Seite 49 |
„Moritz oder Das öde Land“von Christian Martin | |
Magazin | Seite 68 |
Die nachgeholte RevolutionNeue Dramatik beim 19. Nationalen Theaterfestival in Bukarestvon Friederike Felbeck und Medana Weident | |
Nachruf | |
Die erste Anita der DDRZum Tod der Schauspielerin Astrid Bless (1944–2009)von Matthias Caffier | Seite 69 |
Erörterungen des SeinsMarcel Cremer (1955–2009) zum Gedenkenvon Wolfgang Schneider | Seite 70 |
Bücher | |
Hajo Kurzenberger: Der kollektive Prozess des Theaters. Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität.transcript Verlag, Bielefeld 2009, 248 S., 25,80 EUR.von Andreas Wolf | Seite 71 |
Staging Festivity. Theater und Fest in Europa.Hrsg. von Erika Fischer-Lichte und Matthias Warstat. A. Francke Verlag, Tübingen 2009, 328 S., 54 EUR.von Sophia Ebert | Seite 72 |
Linzers Eck | Seite 73 |
(22) Der den aufrechten Gang forderte – und ging Volker Braun veröffentlicht sein Arbeitstagebuch.Keine Rezensionvon Martin Linzer | |
Etc.von Sebastian Kirsch | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 74 |
Hamburg: Neue Theaterzeitung für die freie Szenevon Klaus Witzeling | |
Düsseldorf: Neues Kulturportal im Internet für NRWvon Andreas Rehnolt | |
Meldungen | Seite 74 |
Aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 76 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Premierenkalender | Seite 77 |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
Et kütt wie et kütt: Das Kölner Theatervon Andreas Rehnolt | |
Vorschau | Seite 80 |
Theater der ZeitMärz 2010 |
Dirk Baecker
Matthias Caffier
Peter Carp
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Sophia Ebert
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Herbert Fritsch
Ralph Hammerthaler
Ranjit Hoskote
Alfred Hrdlicka
Sebastian Kirsch
Johanna Lemke
Martin Linzer
Christian Martin
Christine Mielitz
Frank M. Raddatz
Andreas Rehnolt
Alexander Schnackenburg
Lena Schneider
Wolfgang Schneider
Willibald Spatz
Simone von Büren
Medana Weident
Sabine Wirth
Klaus Witzeling
Andreas Wolf
Sabrina Zwach
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