Heft 10/2012
Hundert Blicke
Frie Leysen holt die Welt nach Berlin
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Wahrscheinlich widerspricht es allen Gepflogenheiten eines Editorials, den Blick zuerst auf den Magazinteil zu lenken. Gestatten wir uns trotzdem diese Freiheit. In kirschs kontexte listet ihr Autor Formulierungen auf, mit denen Judith Butler für die Verleihung des Adorno-Preises geschmäht wurde. Das einhellige Bashing der Konsens- und Überwältigungsmaschinerie gilt der US-amerikanischen Philosophin, weil sie sich mit kritischen Äußerungen gegenüber Israel nicht zurückhält. Wir erinnern uns, wie es vor einigen Monaten Literaturnobelpreisträger Günter Grass erging. Dasselbe Verfahren. Dieselbe Kerbe. Dass der verwalteten Welt Momente des Totalitären anhaften, hat uns Adorno gelehrt, ebenso dass es unter allen Umständen jenes Nicht-Identische zu verteidigen gilt, das Foucault unter dem Namen des Heteronomen bekannt machte. Die Attacken der Meinungswächter richten sich also gegen das Denken selbst.
Was aber ist los mit dem Theater in Israel? Der Theaterwissenschaftler Gad Kaynar von der Universität Tel Aviv kann im Gegenwartstheater kaum noch „Spuren jener selbstkritischen Haltung ausmachen, die in den Dokudramen der 1970er bis 1990er Jahre von Joshua Sobol, Moti Lerner, Hanoch Levin, Hillel Mittelpunkt und anderen Schriftstellern zu finden war. Damals setzte man sich mit dem sinnlosen Teufelskreis von Mord und Rache im Nahen Osten auseinander.“ Dem Ende des politischen Theaters stehen einige exzeptionelle, wenn nicht gruselige Stücke gegenüber. Genannt sei nur Gilad Evrons „Ulysses on Bottles“, die Geschichte eines palästinensischen Literaturlehrers, der sein Leben riskiert, um Romane von Dostojewski in die Gazazone zu schmuggeln, und damit die Geschichte jener jüdischen Heroen fortsetzt, die Gleiches in anderen Ghettos und Lagern taten. Unbedingt nachspielen. Im Gespräch mit Sebastian Kirsch gibt Yael Ronen ihrer Unsicherheit sowohl hinsichtlich der Möglichkeit eines anstehenden Militärschlags gegen den Iran wie einer Einschätzung des Arabischen Frühlings Ausdruck und verweist auf das Konkrete: „die Proteste gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und gegen die schlechte finanzielle Situation“.
Woran es mangelt, ist nicht der eine korrekte oder unkorrekte Durchblick, sondern das Polyperspektivische einer mehr und mehr multipolaren Welt. Dem will Frie Leysen mit ihrem Festivalkonzept Foreign Affairs abhelfen, indem sie die westlich monopolisierten Sichtweisen unseres Heute aufbricht. „Es gibt den Kolonialismus nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit“, erklärt sie gegenüber Frank Raddatz und macht damit darauf aufmerksam, wo die antiimperialistischen Kampflinien der Gegenwart verlaufen. Der Linearität als Ausdruck von Herrschaft setzte John Cage die scheinbare Willkür des Würfels entgegen. Bei seiner Durchdringung von Heiner Goebbels’ Inszenierung „Europeras 1 & 2“ bei der Ruhrtriennale verfolgt Sebastian Kirsch, wie Cages „Partitur“ Fragmente aus 128 europäischen Opern nach dem Zufallsgesetz aus dem chinesischen Orakelbuch „I Ging“ schichtet. „Das Wunder ist, dass dabei gerade kein formloses Chaos entsteht, sondern eine neue Form, in der sich die Einzelpartikel zu einem unendlich feinen, differenzierten Gebilde verbinden, ohne dass eines den Führungsanspruch übernehmen würde. Anstelle der vertikalen Pyramide, in der die Künste je nach ihrem repräsentativen Zweck angeordnet sind, entsteht eine horizontale Fläche, auf der diese Künste zu tanzen beginnen.“
Als Tanzplatz lässt sich auch jene Durchmischung musealer und performativer Räume begreifen, die das Museum Folkwang derzeit im Rahmen der Ruhrtriennale unter dem Titel „12 Rooms“ ausstellt. Ein Streifzug von Ute Müller-Tischler. Weniger getanzt als im alten Kolonialstil marschiert wird dagegen in Edinburgh, wohin es Lena Schneider verschlug: „Das Royal Edinburgh Military Tattoo, diese gewaltige Militärparade, ist die kommerziell erfolgreichste Show des Festivalsommers (…). Im Tattoo-Programm kann man lesen, wo die britischen Regimenter zuletzt stationiert waren. Irak, Kosovo, Afghanistan.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer ein Hinweis auf Dorte Lena Eilers’ Porträt des Schauspielers Charly Hübner, der „ein sehr dämonisches Bild des Menschen in unserer Zeit“ liefert. Am Dämonischen der Zeitläufe scheint sich wenig zu verändern, gut ist nur, darum zu wissen und das mit massenmedialem Bedacht Verdrängte immer wieder in den Blick zu rücken. Wir haben es versucht. //
Die Redaktion
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Protagonisten | |
KünstlerinsertDie Live-Art-Ausstellung „12 Rooms“ im Essener Folkwang Museum | Seite 8 |
Ästhetik der AnwesenheitDie Ruhrtriennale zeigt mit der Ausstellung „12 Rooms“ Live Art und erweitert damit den Raum für die bewegten Künstevon Ute Müller-Tischler | Seite 12 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 16 |
Den Vogel erkennt man am GesangHeiner Goebbels eröffnet die Ruhrtriennale mit John Cages „Europeras 1 & 2“von Sebastian Kirsch | |
Thema | |
Durch die Augen hundert andererDie Theaterkuratorin Frie Leysen über kulturellen Kolonialismus in Raum und Zeit im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Frie Leysen | Seite 19 |
Ein Wille, aber kein WegWie politisch ist die junge Theaterszene Israels? Versuch einer Standortbestimmungvon Gad Kaynar | Seite 22 |
Den Spiegel aushaltenDie israelische Regisseurin Yael Ronen im Gespräch mit Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch und Yael Ronen | Seite 26 |
Protagonisten | Seite 28 |
Der SchattenmannDer Schauspieler Charly Hübner ist eine Bedrohung für das Theater – weil er zeigt, dass das Böse auch gute Gründe haben kannvon Dorte Lena Eilers | |
Festivals | |
Ich will kein Yahoo seinDer Edinburgher Festivalsommer erzählt vom Grauen, das es bedeutet, Mensch zu seinvon Lena Schneider | Seite 32 |
Die Vermessung der WeltDas Theaterfestival Varna Summer erkundet den Globus und entdeckt die bedrohte Spezies Menschvon Dorte Lena Eilers | Seite 34 |
Look Out | |
Funktionieren: ja, dienen: neinDie Arbeiten der Bühnenbildnerin Romy Kießling sind Analogien zum Text, eröffnen aber einen eigenständigen Diskursvon Mehdi Moradpour | Seite 36 |
Als Nora ihren Mann verließDie Schauspielerin Julia Jelinek setzt der Männerdomäne Theater kraftvolle Frauenfiguren entgegenvon Susanne Fernandes Silva | Seite 37 |
Auftritt | |
Hamburg: Provinz, die aus allen Poren staubtThalia Theater: „Platonow“ von Anton Tschechow. Regie Jan Bosse, Bühne Stéphane Laimé, Kostüme Kathrin Plathvon Gunnar Decker | Seite 38 |
Krefeld / Mönchengladbach: Bruderzwist auf krummen PfadenTheater Krefeld-Mönchengladbach: „Ya Basta!“ (UA) von Jorge Angeles. Regie Jorge Angeles, Ausstattung Lydia Merkelvon Friederike Felbeck | Seite 39 |
Luzern: Schräge TischgesellschaftLuzerner Theater: „Idioten“ (SEA) nach dem Film von Lars von Trier. Regie Krzysztof Minkowski, Ausstattung Konrad Schallervon Verena Stössinger | Seite 40 |
Marburg: Die Frau unterm GalgenHessisches Landestheater: „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht. Regie Matthias Faltz, Bühne Leopold Volland und Lars Herzig, Kostüme Mascha Schubertvon Marcus Hladek | Seite 41 |
Salzburg: Schrecklich schönSalzburger Festspiele: „Meine Bienen. Eine Schneise“ (UA) von Händl Klaus. Regie Nicolas Liautard, Bühne Giulio Lichtner, Nicolas Liautard, Kostüme Marie Odinvon Hermann Götz | Seite 42 |
Kolumne | Seite 43 |
KrokodilstränenWie die deutsche Öffentlichkeit auf das Urteil gegen die russische Punkband Pussy Riot reagiertvon Josef Bierbichler | |
Stücke | |
Die guten und die bösen AnderenDie Autorin Marianna Salzmann im Gespräch mit Mehdi Moradpourvon Mehdi Moradpour und Sasha Marianna Salzmannzum Online-Extra: Interview mit Marianna Salzmann | Seite 44 |
Muttersprache Mameloschnvon Sasha Marianna Salzmann | Seite 46 |
Magazin | |
Im Zeichen der AbwesenheitWarum sich Poszt, das ungarische Theatertreffen in Pécs, nur über das nicht Gezeigte verstehen lässt. Ein Sehversuchvon Lena Schneider | Seite 64 |
Eine veritable WunderkammerDie Performanceformation Lose Combo entwickelt mit „time/zones“ einen zufallsgesteuerten Welterzählungsapparat – nach und für John Cagevon Tom Mustroph | Seite 66 |
Aus dem FrachtcontainerDas Maltafestival 2012 in Poznan nimmt die glokalen Verstrickungen des Kunstbetriebs unter die Lupevon Patrick Wildermann | Seite 67 |
Lärm umgibt die Stille der DingeDas Figurentheaterfestival FIDENA 2012 umspielt gekonnt die Grenzen des Genresvon Gerrit Münster | Seite 68 |
Linzers Eck | Seite 69 |
Ansichten und Absichten gesuchtAn- und Aufstöße zur aktuellen Debatte über das Politische in der Kunstvon Martin Linzer | |
Magazin | |
Der bescheidene GrandseigneurZum Tod des polnischen Theaterregisseurs Erwin Axervon Martin Linzer | Seite 70 |
Der TheaterzaubererZum Tod des Regisseurs und Theaterpädagogen Pjotr Naumowitsch Fomenkovon Susanne Rödel | Seite 70 |
kirschs kontexteJudith Butler – ein Hate-Speech- Chor zum Adorno-Preisvon Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Bücher | |
Notizen aus der KälteThomas Bernhard: Der Wahrheit auf der Spur. Suhrkamp, Berlin 2012, 346 S., 9,99 EUR.von Gunnar Decker | Seite 72 |
Altenglisches Theater in SerieChristopher Marlowe: Das Massaker von Paris. Alt Englisches Theater Neu, Bd. 6.; W. Shakespeare: Romeo und Julia. Bd. 13. Hrsg. u. übers. v. Christa u. B.K. Tragelehn, Stroemfeld 2012, jeweils 28 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 73 |
Die Tragödie und ihre FehlerBernhard Greiner: Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2012, ca. 800 Seiten, 27,90 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 73 |
In eigener Sache | Seite 74 |
Kommentar | Seite 75 |
Berühmt oder tot?Rückblick auf 20 Jahre Volksbühne unter Frank Castorffvon Gunnar Decker | |
Aktuell | Seite 76 |
Aus den KorrespondentenbürosSachsen: Stadttheater Döbeln nach Renovierung wiedereröffnetvon Michael Bartsch | |
Aus den KorrespondentenbürosItalien: Theater üben Selbstermächtigungvon Tom Mustroph | |
Meldungen | Seite 77 |
Aktuell | Seite 78 |
Film: Die Gesetze der Naturvon Ralf Schenk | |
Hörspiel: Der Kuss der Flatterhaftigkeitvon Gerwig Epkes | |
In Nachbars Garten | Seite 79 |
Kunst: Neue alte Avantgardevon Dominic Eichler | |
Musik: Ich bin für die Vögelvon Otto Paul Burkhardt | |
Premieren | Seite 80 |
Oktober 2012 | |
Autoren | Seite 83 |
Impressum | Seite 83 |
Vorschau | Seite 83 |
Gespräch | Seite 84 |
Was macht das Theater, Katharina Schüttler?von Gunnar Decker und Katharina Schüttler |
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Dominic Eichler
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Susanne Fernandes Silva
Hermann Götz
Marcus Hladek
Gad Kaynar
Sebastian Kirsch
Frie Leysen
Martin Linzer
Mehdi Moradpour
Ute Müller-Tischler
Gerrit Münster
Tom Mustroph
Frank M. Raddatz
Susanne Rödel
Yael Ronen
Sasha Marianna Salzmann
Ralf Schenk
Lena Schneider
Katharina Schüttler
Verena Stössinger
Patrick Wildermann
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Stücke | Seite 44 |
Die guten und die bösen AnderenDie Autorin Marianna Salzmann im Gespräch mit Mehdi Moradpourvon Mehdi Moradpour und Sasha Marianna Salzmannzum Online-Extra: Interview mit Marianna Salzmann |
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