Heft 12/2013
Thomas Ostermeier und Thomas Oberender: Die Systemfrage
Stadttheater oder freies Arbeiten? Ein Streitgespräch
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
"Atlas wirft die Welt ab“ – so hübsch allegorisch kommt er daher, der Radikalindividualismus im Dienste des Turbokapitalismus. Doch der Titel freilich trügt. Ayn Rands 1957 erschienener Roman – auf Deutsch mit „Der Streik“ übersetzt – erzählt eine Geschichte, die uramerikanischer nicht sein könnte: den Traum vom Triumph des intelligenten Einzelnen über die Trägheit und Larmoyanz der Masse. „Dass Atlas die Welt abwerfen könnte“, schreibt unser Autor Martin Krumbholz, „ist dabei eher als Drohung zu verstehen: Wenn die Elite ihre Initiativen einstellen und auf Investitionen in den wirtschaftlichen (also gesellschaftlichen) Fortschritt verzichten würde, könnte die Mehrheit sehen, wo sie bleibt.“
Stefan Bachmann hat diesen Roman – im Amerika der neunziger Jahre wurde er zum zweitwichtigsten Buch nach der Bibel erklärt – zu seinem Neustart am Schauspiel Köln höchstpersönlich auf die Bühne gebracht. Das Erstaunliche daran: In Kombination mit der ebenfalls zur Eröffnung gezeigten Premiere von Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ in der Regie von Moritz Sostmann ergeben sich gruselige Parallelen. In ihrem nüchternen Menschenbild, so Krumbholz, seien sich Brecht und Rand näher, als ihnen vielleicht lieb wäre. Beide Figuren, Shui Ta und Dagny Taggart, seien autonome und hochintelligente Persönlichkeiten, die sich gegen die Faulheit und Inkompetenz ihrer Umgebung durchsetzen müssen und werden. Auf die unheimliche Nähe zwischen Kapitalismus und Künstlertum wiesen in ihrer Ayn-Rand-Adaption „Capitalista, Baby!“ auch Tom Kühnel und Jürgen Kuttner hin. Mit Letzterem unterhielt sich Gunnar Decker über Willy Brandt, den ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler im Nachkriegsdeutschland, der u. a. Rands Hassbegriff der Solidarität mit Leben füllte. Am 18. Dezember wäre Brandt 100 Jahre alt geworden.
Wie viel Staat braucht die Kunst? Wie viel Flexibilität eine Institution? Sind die Arbeitsstrukturen der freien Szene als neoliberales Ausbeutungsmodell zu kritisieren? Verhindert der Sozialstaat mit seinen subventionierten Stadt- und Staatstheatern tatsächlich echte Kunstproduktion? Darüber diskutieren Thomas Ostermeier, Chef der Schaubühne am Lehniner Platz, und Thomas Oberender, Leiter der Berliner Festspiele. Denn die Agenda 2010, die mit Beginn der Schröder-Jahre nicht nur den Sozialstatt, sondern auch die Kulturpolitik traf, hat längst zu einem immer evidenter werdenden Strukturwandel geführt. Deregulierung lautet das Stichwort. Weniger Subventionen, mehr Projektförderung. Ein Transformationsprozess, den Thomas Ostermeier als schleichende Amerikanisierung Europas hochgradig besorgniserregend findet, während Thomas Oberender die Chance sieht, endlich über neue, hybride Institutionstypen nachzudenken. Ein Streitgespräch, das wir mit Schlaglichtern aus den freien Szenen in Leipzig, Nordrhein-Westfalen und München begleiten.
Über die schleichende Amerikanisierung ganz anderer Art schreibt in diesem Heft Josef Bierbichler. In Zeiten, in denen dank der Enthüllungen Edward Snowdens immer klarer wird, dass in Deutschland die US-Geheimdienstler bereits eine schon nicht mehr klein zu nennende Bevölkerungsgruppe ausmachen, ließe sich, so Bierbichler, mit NSA und Merkels Handy gut und empört davon ablenken, „dass es auf lange Sicht darum geht, nach und nach das Abhören zum allgemein akzeptierten Kulturgut werden zu lassen. So wie es in Amerika schon der Fall zu sein scheint – in diesem geistig und kulturell immer mehr vertierenden Welteneck.“ Im Kosovo indes stellt sich das Verhältnis zu den USA etwas komplizierter dar, war es doch die NATO, die unter Federführung der Amerikaner 1998/99 „aus humanitären Gründen“ in den Jugoslawienkrieg eingriff und ein UN-Protektorat einrichtete. Für Ruhe zwischen den verschiedenen Ethnien und Glaubensgemeinschaften sorgte dies jedoch nur bedingt, wie unser Stückabdruck zeigt: Die Zerstörung des Eiffelturms des kosovarischen Autors Jeton Neziraj.
In diesem Heft müssen wir uns schweren Herzens von einem anderen Künstler vom Balkan verabschieden: Dimiter Gotscheff, der zeit seines Lebens nicht locker lassen wollte in seiner gewaltigen, tiefgründigen, existenziellen Beschäftigung mit Geschichte und all ihren Verwerfungen. Gunnar Decker schreibt über diesen Jahrhundertregisseur, für dessen „aus dem Osten Europas erwachsenen Blick … wir nun, nach seinem Tod, keinerlei Ersatz wissen“. Am Ende bleibt also nur noch das Schweigen. Ein Schweigen – wie es der Vortragskünstler Wolfgang Krause Zwieback in unserem liebevoll-melancholischen Künstlerinsert formuliert – um zu reden. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Performative Fotografievon Wolfgang Krause Zwieback und H.-Christoph Bigalke | Seite 4 |
Auf der Kippe zur WirklichkeitDie Arbeiten des Dichters und Vortragskünstlers Wolfgang Krause Zwieback schweben zwischen Start und Landung. Der Künstler im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Wolfgang Krause Zwieback | Seite 8 |
Thema: Die Systemfrage | |
Die SystemfrageDer Berliner Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier und Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, im Gesprächvon Thomas Oberender, Thomas Ostermeier und Frank M. Raddatz | Seite 12 |
Natural Born PerformersZwischen Impulsgebern und Nischenbesetzern, Prekariat und stabiler Förderung – Schlaglichter aus den freien Szenen in Leipzig, NRW und Münchenvon Christian Horn, Sabine Leucht und Friederike Felbeck | Seite 20 |
Protagonisten | Seite 24 |
Ich, ich und ichUnter Intendant Stefan Bachmann startet das Schauspiel Köln neu – und deckt gruselige Parallelen zwischen Kapitalismus und Sozialismus aufvon Martin Krumbholz | |
Kommentar | Seite 27 |
Onanisten im Dienst der WeltpolizeiJosef Bierbichler über Edward Snowden und Merkels Handyvon Josef Bierbichler | |
Look Out | |
Der TextwandererDer Regisseur Jan Gehler vermisst Stücke, als wären sie Landkartenvon Johanna Lemke | Seite 28 |
Der gut platzierte WiderspruchDie Osnabrücker Schauspielerin Marie Bauer jongliert mal charmant, mal zornig mit Schein und Sein ihrer Figurenvon Daniel Benedict | Seite 29 |
Abschied | |
Spielen und SterbenMit Dimiter Gotscheffs Tod endet ein besonderer ostwestlicher Blick auf europäische Geschichtevon Gunnar Decker | Seite 31 |
Der Schreivon Ginka Tscholakowa | Seite 32 |
Ausland | Seite 34 |
Mit BürgerkriegsimageDerry-Londonderry versucht als Kulturhauptstadt des United Kingdom in Nordirland das Narrativ der Vergangenheit umzuschreibenvon Rainer Hofmann | |
Kolumne | Seite 37 |
Ein Versuch zur neuen deutschen Volkstümlichkeitvon Nis-Momme Stockmann | |
Auftritt | |
Aarau: Vier Frauen und ein SchweinehundTheater Marie: „Harry Widmer Junior“ (UA) nach dem Roman „Glaubst du, dass es Liebe war?“ von Alex Capus. Regie Olivier und Patric Bachmann, Bühne Erik Noorlander, Kostüme Myriam Casanovavon Dominique Spirgi | Seite 39 |
Baden: Immer, wenn er gestorben war ...WK Kulturwerk und Kurtheater Baden: „Melnitz“ (UA) nach Charles Lewinsky. Regie Adriana Altaras, Bühne Jörg Reinhard Zielinski, Kostüme Yashi Tabassomivon Elisabeth Feller | Seite 39 |
Konstanz: Der himmlische RegisseurTheater Konstanz : „Parsifal“ (UA) von Jo Fabian. Regie und Ausstattung Jo Fabianvon Bodo Blitz | Seite 40 |
Marburg: Verflixte RappenHessisches Landestheater: Marburg: „Michael Kohlhaas“ nach Heinrich von Kleist in einer Bühnenfassung von Matthias Faltz und Alexander Leiffheidt. Regie Matthias Faltz, Ausstattung Stefanie Linigervon Marcus Hladek | Seite 42 |
München: Bitte eine Nummer ziehen!Münchner Kammerspiele: „Ilona. Rosetta. Sue.“ nach Aki Kaurismäki, Luc und Jean-Pierre Dardenne, Amos Kollek. Regie Sebastian Nübling, Ausstattung Ene-Liis Sempervon Christoph Leibold | Seite 43 |
Stendal: Die Schuld bleibtTheater der Altmark : „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge. Regie Alexander Netschajew, Bühne Mark Späth, Kostüme Sofia Mazzonivon Gunnar Decker | Seite 44 |
Tübingen: Wir kannten ihn nur als die Güte selbstZimmertheater Tübingen: „Morgen spricht von mir die ganze Welt“ (UA) von Axel Krauße und Peter Sindlinger. Regie und Textfassung Axel Krauße, Ausstattung Odilia Baldszunvon Otto Paul Burkhardt | Seite 45 |
Stück | |
Wie viel Ironie verträgt der Kosovo?Der Dramatiker Jeton Neziraj im Gespräch mit Ralph Hammerthalervon Ralph Hammerthaler und Jeton Neziraj | Seite 46 |
Die Zerstörung des EiffelturmsAbsurde Komödie für vier Schauspieler. Aus dem Albanischen von Zuzana Fingervon Jeton Neziraj | Seite 48 |
Magazin | |
Nacktbaden ohne AdornoBeim steirischen herbst wird viel neue Kunst gezeigt – die jedoch immer weniger den Anspruch hat, Neue Kunst zu seinvon Hermann Götz | Seite 63 |
TicktackIn seinem 20. Jahr pendelt das Unidram-Festival in Potsdam auf der Suche nach einer klaren Richtung zwischen magischem Kunstraum und sozialem Forumvon Mehdi Moradpour | Seite 64 |
kirschs kontexte: Es gibt ein Recht auf vergoldete Türklinken oder Über die schwache materialistische Begabung der Deutschenvon Sebastian Kirsch | Seite 65 |
Ausflüge nach DingsdaDie Schaubude Berlin feiert ihr 20-jähriges Bestehen mit dem Festival „Theater der Dinge“von Martin Linzer | Seite 66 |
Von einem Denken zum anderenthinking on/of the stage – Eine Konferenz am Frankfurter Mousonturmvon Marcus Hladek | Seite 67 |
Zwischen Elbe und UralWolfgang Kröplin: Auf der Suche nach dem unbekannten Theater. Bilder und Befunde vom mittelosteuropäischen Theater. 2 Bände, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2013, 854 S., 98 Euro.von Martin Linzer | Seite 68 |
Gespenster aus der ZukunftMatthias Naumann / Michael Wehren (Hg.): Räume, Orte, Kollektive. Mülheimer Fatzerbücher 2, Neofelis Verlag, Berlin 2013, 222 S., 18 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 69 |
Auf unrealistische Weise realistischMilo Rau: Was tun? Kritik der postmodernen Vernunft, Kain & Aber, Zürich 2013, 72 S., 7,90 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 69 |
Atem der GrößeDie Schauspielerin Inge Keller wird neunzigvon Gunnar Decker | Seite 70 |
Linzers Eck: Endlich aufgeräumtVerstreute Bemerkungen zu herumliegenden Theaterbüchernvon Martin Linzer | Seite 71 |
Aktuell | Seite 72 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Das spanische Schneewittchenvon Ralf Schenk | Seite 74 |
Hörspiel: Männer, Macht und Mäharbeitvon Gerwig Epkes | Seite 74 |
Kunst: Quasi-Mesvon Ute Müller-Tischler | Seite 75 |
Musik: Böse alte Liedervon Ulrike Rechel | Seite 75 |
Aktuell | Seite 76 |
Premieren: Dezember 2013 | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Jürgen Kuttner?von Gunnar Decker und Jürgen Kuttner |
Daniel Benedict
Josef Bierbichler
H.-Christoph Bigalke
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Gerwig Epkes
Friederike Felbeck
Elisabeth Feller
Hermann Götz
Ralph Hammerthaler
Marcus Hladek
Rainer Hofmann
Christian Horn
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Jürgen Kuttner
Christoph Leibold
Johanna Lemke
Sabine Leucht
Martin Linzer
Mehdi Moradpour
Ute Müller-Tischler
Jeton Neziraj
Thomas Oberender
Thomas Ostermeier
Frank M. Raddatz
Ulrike Rechel
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Dominique Spirgi
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