Heft 01/2014
Andrzej Stasiuk: Autor der Vergessenen
Der Erste Weltkrieg und das Rumoren der Geschichte
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Als Intendantin Anna Badora 2006 von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf ins kleinere Graz wechselte, wurde sie schlicht für verrückt erklärt. Was um Himmels willen sie denn dort unten wolle, am äußersten Rand der deutschsprachigen Theaterlandschaft, wurde sie entsetzt gefragt, das sei doch schon fast Balkan. Eben deshalb, antwortete Badora, denn genau das interessiere sie. Diese andere Perspektive auf ein „vereintes Europa, das seine Grenzen zuletzt weiter und weiter nach Osten verschoben hat (und nach wie vor weiter verschiebt)“. So rücke Graz immer mehr in die Mitte. Vom Rand ins Zentrum.
Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der „Urkatastrophe“ und ersten großen Völkerschlacht im 20. Jahrhundert, sind es Häuser wie das Schauspielhaus Graz, das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen und das Mülheimer Theater an der Ruhr, die durch ihre vermeintliche Randlage einen anderen Blick auf unsere Gegenwart werfen, auf ein Europa, das wächst und wächst, dessen Geschichte und Geschichten historisch, literarisch, theatral aber längst noch nicht erforscht sind. Neben Hausporträts aus Graz von Christoph Leibold und aus Bautzen von Gunnar Decker veröffentlichen wir in diesem Heft das Stück „Thalerhof“ von Andrzej Stasiuk, das jüngst in Graz uraufgeführt wurde. Dorte Lena Eilers hat mit dem polnischen Autor über sein Stück gesprochen, das auf verstörend- berührende Weise die Toten des Ersten Weltkriegs wiederauferstehen lässt, damit sie, wie Heiner Müller es formulierte, „an Zukunft herausgeben, was mit ihnen begraben worden war“. Ähnlich wie Stasiuk witterte auch Roberto Ciulli in seinen Anfangsjahren am Theater an der Ruhr sein Glück im Osten. Nach einigen Startschwierigkeiten – „ein Teil des Publikums in Remscheid, Iserlohn, Soest, Unna hat uns verprügelt“ – reiste das Theater zunächst nach Jugoslawien, in die Türkei, nach Russland und Polen, nach Usbekistan und weiter auf die Seidenstraße. Martin Krumbholz hat sich mit Ciulli über dieses einzigartige Experiment eines internationalen Theaters, das inzwischen Beziehungen zu 36 Ländern auf der ganzen Welt pflegt, gesprochen.
Armin Petras, könnte man sagen, trat den umgekehrten Weg an: von Berlin nach Stuttgart, von Ost nach West. Und wurde dafür ähnlich wie Anna Badora erst einmal belächelt. „Vom Weltstadttheater in die Kehrwochenprovinz?“ Schmonzes. Oder, wie unser Autor Otto Paul Burkhardt schreibt: „ein Missverständnis“. Also? „Schwamm drüber. Jetzt, nach einem ehrgeizigen Start mit sechs Premieren an drei Tagen, ist mit dem Gefremdel und Klischee-Kleinkrieg erst mal Schluss … Petras, dessen schaffige, umtriebige Art gut ankommt, hat einen Achtungserfolg errungen. Einen Arbeitssieg.“
Weniger willkommen war hingegen die Berliner Schaubühne in Sankt Petersburg, die Ende November in der Newa-Metropole mit ihrer Thomas-Mann-Gustav-Mahler-Melange „Tod in Venedig/ Kindertotenlieder“ gastierte. Also genau dort, wo vor einem Jahr ein Gesetz initiiert wurde, das Reden über Homosexualität und Knabenliebe im Beisein von Minderjährigen unter Strafe stellt. Nun werde aber in Thomas Manns Erzählung eben nur darüber geredet, äußert der Schauspieler Josef Bierbichler seine Bedenken. Regisseur Thomas Ostermeier indes hielt dies nicht ab. Im Gegenteil: Er widmete das Gastspiel explizit den Schwulen in Russland. „Erst am Tag danach“, so Bierbichler, „wurde das Theater in Sankt Petersburg mit Hassparolen beschmiert, und ein abgetrennter Saukopf lag vor dem Eingang ... Wir hatten Schwein gehabt.“
Nord, Süd, Ost, West? Christoph Schlingensief war ein Künstler, der über diesen Kategorien zu stehen schien. Er war sein eigener Kompass, sein eigenes Zentrum, aus dem heraus er immer wieder seine „reflektierten, gestalteten Spezialwelten aufbaute, die alles Mögliche waren, nur kein Theater“. Ute Müller-Tischler hat sich anlässlich der Christoph-Schlingensief-Retrospektive in den KW Institute for Contemporary Art Berlin mit der Kuratorin Anna-Catharina Gebbers und Schlingensiefs langjähriger Lebensgefährtin Aino Laberenz unterhalten. Ein Gespräch, das noch einmal beweist, „mit welcher Präzision“, so Gebbers, Christoph Schlingensief „seine Finger in gesellschaftliche Wunden legte“, was dem Publikum die Möglichkeit entzog, „es sich in der Haltung der Ironie gemütlich zu machen“. In diesem Sinne wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern einen guten Start ins neue Jahr. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Die Christoph-Schlingensief-Retrospektive in den KW Institute for Contemporary Art Berlin | Seite 4 |
Ich bin hier nicht im BildDie Kuratorin Anna-Catharina Gebbers und die langjährige Lebensgefährtin Aino Laberenz über die Christoph-Schlingensief- Retrospektive im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler, Aino Laberenz und Anna-Catharina Gebberszum Online-Extra: Gespräch mit Anna-Catharina Gebbers und Aino Laberenz über die Christoph-Schlingensief-Retrospektive | Seite 8 |
Thema: Der andere Blick | |
Was die Toten zu sagen habenDas Schauspielhaus Graz unter Anna Badora erzählt europäische Geschichte aus östlicher Perspektive und wird so zu einem Knotenpunkt zwischen Ost und Westvon Christoph Leibold | Seite 12 |
Aus der Tiefe der WeltDer polnische Autor Andrzej Stasiuk über sein Stück „Thalerhof“ und das Rumoren der schlecht begrabenen Toten im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Andrzej Stasiukzum Online-Extra: Gespräch mit Andrzej Stasiuk | Seite 16 |
Kommentar | Seite 19 |
Tot in Sankt PetersburgÜber ein Schaubühnen-Gastspiel in Russlandvon Josef Bierbichler | |
Thema: Der andere Blick | |
Zeitreise ins GrenzlandWie das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen Tradition, Religion und Weltpolitik mit einer jahrhundertealten Stadtgeschichte verbindetvon Gunnar Decker | Seite 20 |
Der sokratische DialogRoberto Ciulli über seine Utopie einer Stadt für die Kunst und die Zukunft des Theater an der Ruhr im Gespräch mit Martin Krumbholzvon Roberto Ciulli und Martin Krumbholz | Seite 24 |
Zurück in die Zukunft | Seite 27 |
Unterm SchutzschirmHelmut Schäfer über ignorierte Katastrophen, permanente Rechtsbrüche und die Utopie als höchste Form möglicher Kritik an der Gegenwart im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Helmut Schäfer | |
Protagonisten | Seite 30 |
Von Berlin nach – wie bitte?Gut angekommen: Wie sich Armin Petras als neuer Intendant am Schauspiel Stuttgart schlägtvon Otto Paul Burkhardt | |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 32 |
The Last Adventuresvon Tim Etchells | |
Surviving in Dangerous Places: Forced Entertainment als die letzten Abenteurervon Andrew Quick | |
Kolumne | Seite 33 |
Jäger des eigenen VorteilsÜber das Missverständnis des partizipativen Theatersvon Hans-Thies Lehmann | |
Protagonisten | |
Wann ist der Mensch ein Hund?Bei ihrem Neustart am Theater Neumarkt in Zürich liefern Peter Kastenmüller und Ralf Fiedler tiefe Einblicke in das heterogene Wesen der Stadtvon Dominique Spirgi | Seite 34 |
Der fröhliche TeufelDem Berliner Schriftsteller Lothar Trolle zum siebzigsten Geburtstagvon Gunnar Decker | Seite 38 |
Auftritt | |
Halberstadt: Bomben auf ElefantenNordharzer Städtebundtheater: „Alexander Kluge – Hoffnung und Widerstand“ (UA) von Sebastian Fust. Regie Katrin Plötner, Ausstattung Anneliese Neudeckervon Michael Böhm | Seite 41 |
Hamburg: Endstation LangeweileThalia Theater: „Hedda Gabler“ von Henrik Ibsen. Regie Jan Bosse, Bühne Stéphane Laimé, Kostüme Kathrin Plathvon Gunnar Decker | Seite 41 |
Karlsruhe: Auf der KippeBadisches Staatstheater Karlsruhe: „Irgendwann in der Nacht“ (UA) von Etel Adnan. Regie Mathias Hannus, Ausstattung Christine von Bernsteinvon Otto Paul Burkhardt | Seite 42 |
Mülheim: Vollgas im LeerlaufRinglokschuppen: „Fin de Machine / Exit.Hamlet“ von kainkollektiv und OTHNI. Regie kainkollektiv und Martin Ambara. Video und Bühne sputnic und herrwolke. Sound Rasmus Nordholtvon Frederike Juliane Jacob | Seite 43 |
München: Überall im selben SumpfResidenztheater: „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline in einer Fassung von Frank Castorf. Regie Frank Castorf, Bühne Aleksandar Denic, Kostüme Adriana Braga Peretzkivon Christoph Leibold | Seite 44 |
Stück | Seite 46 |
ThalerhofDeutsch von Olaf Kühlvon Andrzej Stasiuk | |
Magazin | |
Blick zurück nach vornZu seinem 60. Geburtstag feiert das Deutsche Staatstheater in Temeswar das Europäische Theaterfestival Eurothaliavon Mirka Döring | Seite 61 |
Ein Theater für Togo Mehr als nur eine Visionvon Christoph Nix und Nadja Keller | Seite 63 |
Wenn das Meer an der Heimat nagtIm indonesischen Pulau Panggang ist Theater identitätstiftendes Mittel, um über die Beziehung zur Natur zu berichtenvon Natalie Driemeyer | Seite 64 |
kirschs kontexteSchwierigkeiten mit dem Harlekinvon Sebastian Kirsch | Seite 65 |
Balance haltenDas palästinensische Al-Harah-Theater in Birt Dschala arbeitet gegen Konservatismus an – und damit für die Überwindung von Grenzenvon Herwig Lewy | Seite 66 |
Ruhestörende WeltDas Europäische Festival für junge Regie Fast Forward in Braunschweig zeigt, wie junges Theater politische Dringlichkeit behauptetvon Patrick Wildermann | Seite 68 |
Linzers Eck. Wo man hinschaut: Doku-TheaterIm Berliner Theater unterm Dach geht es auch andersvon Martin Linzer | Seite 69 |
Gleiches Risiko für alleAugusto Boal: Hamlet und der Sohn des Bäckers. Die Autobiografie. Mandelbaum Verlag, Wien 2013, 376 S., 24,90 EUR.von Tom Mustroph | Seite 70 |
In Herz und SinnHjalmar Jorge Joffre-Eichhorn: Wenn die Burka plötzlich fliegt. Einblicke in die Arbeit mit dem Theater der Unterdrückten in Afghanistan. ibidem- Verlag, Stuttgart 2013, 220 S., 19,90 EUR.von Tom Mustroph | Seite 71 |
Die heilige Sankt Mickey MouseWiktoria Lomasko, Anton Nikolajew: Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 171 S., 19,90 EUR.von Dorte Lena Eilers | |
Aktuell | Seite 72 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Auf den Plantagen des Südensvon Ralf Schenk | Seite 74 |
Hörspiel: Reizende Reigenvon Gerwig Epkes | Seite 74 |
Kunst: Cloudscapevon Ute Müller-Tischler | Seite 75 |
Musik: Gegenfüßlervon Otto Paul Burkhardt | Seite 75 |
Aktuell | Seite 76 |
PremierenJanuar 2014 | |
TdZ on Tour | Seite 78 |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 82 |
Was macht das Theater, Christian Diaz Orejarena?von Sebastian Kirsch und Christian Diaz Orejarena |
Josef Bierbichler
Michael Böhm
Otto Paul Burkhardt
Roberto Ciulli
Gunnar Decker
Christian Diaz Orejarena
Mirka Döring
Natalie Driemeyer
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Tim Etchells
Anna-Catharina Gebbers
Frederike Juliane Jacob
Nadja Keller
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Aino Laberenz
Hans-Thies Lehmann
Christoph Leibold
Herwig Lewy
Martin Linzer
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Christoph Nix
Andrew Quick
Frank M. Raddatz
Helmut Schäfer
Ralf Schenk
Dominique Spirgi
Andrzej Stasiuk
Patrick Wildermann
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Ich bin hier nicht im BildDie Kuratorin Anna-Catharina Gebbers und die langjährige Lebensgefährtin Aino Laberenz über die Christoph-Schlingensief- Retrospektive im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler, Aino Laberenz und Anna-Catharina Gebberszum Online-Extra: Gespräch mit Anna-Catharina Gebbers und Aino Laberenz über die Christoph-Schlingensief-Retrospektive | |
Thema: Der andere Blick | Seite 16 |
Aus der Tiefe der WeltDer polnische Autor Andrzej Stasiuk über sein Stück „Thalerhof“ und das Rumoren der schlecht begrabenen Toten im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Andrzej Stasiukzum Online-Extra: Gespräch mit Andrzej Stasiuk |
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