Aktuelle Inszenierung
Im Widerspruchsfeld
Am Deutschen Theater Berlin inszeniert Hasko Weber Ferdinand von Schirachs „Terror“, das Oliver Reese zeitgleich am Schauspiel Frankfurt zur Premiere bringt
von Gunnar Decker und Christoph Leibold
Berlin. Eine der Saaltüren steht so lange offen, dass man unwillkürlich immer wieder hinblickt. Die Türen sind von außenbereits beschriftet mit „schuldig“ und „unschuldig“. Jeder im Zuschauerraum weiß, dass der Abend mit einer Abstimmung enden wird und dass der Spruch des Gerichts über den Luftwaffenpiloten Lars Koch, der eine entführte Lufthansa-Maschine mit 164 Menschen an Bord abgeschossen hat, die drohte, auf ein voll besetztes Fußballstadion zu stürzen, davon abhängt, durch welche Tür man als Zuschauer nach der Pause wieder zurückkehrt. Das ist schön ausgedacht, wie ein Computerspiel – oder eine der Kriminalgeschichten von Ferdinand von Schirach. Aber reicht das für einen Theaterabend?
Durch die offen stehende Tür betreten drei Frauen den Zuschauerraum: die vorsitzende Richterin (Almut Zilcher), die Staatsanwältin (Franziska Machens) und die Verteidigerin (Aylin Esener). Gleich in der ersten Minute ist klar: Die Regie von Hasko Weber trimmt den Abend auf Fernsehgerichtsshow. Das scheint fatal, aber gibt das Stück mehr her? „Vergessen Sie alles, was sie zu wissen meinten“, sagt die Vorsitzende. Aber wer will das schon? Die eigenen Erfahrungen sind es doch, die einen davor schützen, in einem konstruierten Szenario nach Belieben manipuliert und instrumentalisiert zu werden. Und das Gefühl, dass es hier vorrangig darum geht, befällt mich gleich am Anfang – und es bleibt bis zum Schluss. Eine rote Warnlampe blinkt ständig im Kopf: Glaub nicht dem, was hier im Folgenden so detailreich verwirrend ausgebreitet wird. Die Zuschauer machen bei den nun folgenden Aussagen des Piloten Lars Koch (eher unmilitärisch-intellektuell: Timo Weisschnur) überwiegend bedenkliche Gesichter: Sie sollen schließlich, interaktiv, den Fall entscheiden.
All das lenkt hier davon ab, dass der mit so viel Gewicht daherkommende Fall nur eine Versuchsanordnung des Autors ist. Verfassungsgerichtsentscheidung hier und Soldat am Abzugshebel einer Waffe dort, 70 000 Menschen im Stadion retten und dafür 164 töten? Vom Zuschauer wird eine juristische wie moralische Entscheidung erzwungen. Natürlich ist es nicht ohne Sinn, wenn man über die Verfassung und den Ausnahmezustand (Terror!) nachdenkt. Aber was hier stört, ist die bruchlose Glätte, mit der Schirach das Fiktionale seiner Geschichten mit viel Aufwand an scheinbar dokumentarischen Details geradezu vertuscht und damit den Eindruck des Authentischen erweckt. Dabei ist alles nur ein Plot, ein ziemlich simpler zumal, der auf Überrumplung setzt! Leute wie Schirach sind es, die einem im gewöhnlichen Leben mit Testfragen kommen wie: „Was würdest du tun, wenn du noch zwei Wochen zu leben hättest?“, oder: „Wie würdest du dich entscheiden, wenn du nur einen retten könntest, dein Kind oder deinen Ehepartner?“ Die Menschen scheiden sich, damit konfrontiert, in zwei Gruppen: die einen, die dann tatsächlich beginnen, ernsthaft darauf einzusteigen, und die anderen, die sagen: Hau ab, lass mich mit deinen penetranten Spielchen in Ruhe! Die ersten sind potenziell sektentauglich, für die anderen, zu denen ich hier gehöre, ist leider keine extra Tür vorgesehen.
Lauter bedeutungsverschmierte Worte und Gesten. Im Hintergrund flackern hektische Videoschnipsel. Intensität auf der Bühne jedoch, so wäre hier zu lernen, entsteht nicht durch einen sich noch so raffiniert vorkommenden Plot, sondern allein durch das Spiel. Einzig Lisa Hrdina als Zeugin lässt davon etwas aufblitzen, der Rest tut nur so, als ob.
Schirachs Recherche im Fiktionalen führt also direkt in eine boulevardeske Gerichtsshow, die man eher im TV-Vorabendprogramm des Fernsehens vermutet, nicht auf einer Theaterbühne! Dabei gibt es durchaus ein Recherchetheater, das ein Geschehen so rekonstruiert, dass es aufklärend wirkt. Peter Weiss hat 1965 mit seiner „Ermittlung“ den Anfang gemacht, Sewan Latchinian brachte 2009 in Senftenberg „Die Brücke von Varvarin“ als nüchternes Verlesen von tatsächlichen Protokollen eines „Kollateralschaden“ im Jugoslawienkrieg auf die Bühne: Ein deutscher Nato-Pilot erhält den Auftrag, eine Brücke über die Morava zu zerstören, aber auf dieser Brücke befinden sich viele Menschen. Der Pilot sieht sie und feuert trotzdem. Zehn unschuldige Menschen sterben. Ziel erreicht und trotzdem eine Tragödie! In diesen Widerspruchsfeldern liegt die Wahrheit des Theaters – jenseits von Abstimmungsergebnissen.