Heft 11/2015
Tilmann Köhler und Miriam Tscholl: Montagswirklichkeit Dresden
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Und wieder ein Montag. Mittlerweile ziehen vor den Augen von Passanten und Medienöffentlichkeit Bilder vorbei, vor denen man, wie Miriam Tscholl sagt, am liebsten die Augen verschließen würde – es natürlich aber nicht tut. Mitte Oktober war es ein Galgen, der da in der Dresdner Innenstadt während der wöchentlichen Pegida-Demonstrationen emporgereckt wurde – mit je einem Strick für Sigmar „das Pack“ Gabriel und Angela „Mutti“ Merkel. Der Galgenträger berief sich auf Satire, doch die Dresdner Staatsanwaltschaft ermittelt – und erhielt daraufhin selbst Morddrohungen.
Ermittlungen und Morddrohungen. Das ist die erschreckende Realität in Dresden, aber auch in anderen Teilen des Landes. Die Gesellschaft scheint angesichts der Flüchtlingskrise zu zerbersten. Kann Theater in dieser Situation überhaupt noch etwas bewirken? Die Institution, die seit der Antike als Ort des öffentlichen Dialogs gilt? Das fragten wir Miriam Tscholl, Leiterin der Bürgerbühne am Staatsschauspiel Dresden, und Hausregisseur Tilmann Köhler in unserem Schwerpunkt „Phobien der Gegenwart“, zu dem sich auch ein Essay von Marianna Salzmann, Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin, sowie ein Bericht über die Spielzeiteröffnung am Schauspiel Leipzig gruppieren. Tilmann Köhler sagt: „Solange die Situation in Dresden so ist, wie sie ist, muss sich Theater dazu verhalten.“
„Borders kill“. Dieses Schild prangte im Juni dieses Jahres an einem Kreuz über einem Grab vor dem Berliner Reichstag. Eine typische Aktion des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS): mitten hinein in die Strukturen – vor den Bundestag, in die Medien, an die europäischen Außengrenzen – und somit mitten hinein in die Realität, um Teile, wie ZPS-Chefdramaturg André Leipold schreibt, herauszutrennen und sie durch eine Simulation zu ersetzen. Sein Essay zum „Hyperrealen Theater“ ist der fünfte Beitrag in unserer Reihe Neuer Realismus.
Vor neuen Realitäten stehen auch viele Münchner seit dem Neustart von Matthias Lilienthal an den Münchner Kammerspielen. Glauben sie zumindest. Das Geschimpfe über die angebliche Zerstörung des Schauspielertheaters war im Vorfeld jedenfalls groß. Christoph Leibold war bei den Eröffnungsinszenierungen dabei, berichtet in dieser Hinsicht jedoch vielmehr von „beglückenden“ Momenten. Schauen wir also, wie es weitergeht, und lesen in Vorbereitung auf die Kammerspiel- Uraufführung am 22. November 2015 Anna-Sophie Mahlers Version von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“, die wir als Stückabdruck veröffentlichen.
Josef Bierbichlers Generationenroman vom Starnberger See, seine Personnage von Seewirten, Bauern und Kriegsflüchtlingen, legt eine Verbindungslinie zu einem weiteren großen Künstler in diesem Heft: Im November vor 40 Jahren verstarb der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini, der sich zeitlebens mit den „piccole patrie“, den „kleinen Vaterländern“ und ihren vom Aussterben bedrohten Sprachen befasste. Mark Lammert und Peter Kammerer erinnern an ihn, während der Konzept- und Medienkünstler Olaf Nicolai auf der 56. Biennale in Venedig einen weiteren italienischen Avantgardisten ehrte: Luigi Nono. Wir zeigen Eindrücke von seiner Installation in unserem Künstlerinsert.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Mit diesem Thema endet dieses Heft. Während Gunnar Decker und Christoph Leibold über die Doppeluraufführung von Ferdinand von Schirachs Gerichtsdrama „Terror“ in Berlin und Frankfurt berichten – inklusive eines Porträts über den Frankfurter Protagonisten Nico Holonics –, sprach Thomas Irmer in der Rubrik „Was macht das Theater?“ mit dem Schauspieler Burghart Klaußner, der im Januar in Dresden ebenfalls „Terror“ inszenieren wird sowie derzeit als Generalstaatsanwalt und Nazi-Jäger Fritz Bauer in den Kinos zu sehen ist. Hier schließt sich der Kreis. Für Klaußner nämlich ist die Gerichtsverhandlung im Theater eine Art „Relaunch von Theater, reduziert auf die Ursprünge. Das führt zurück auf den Thing, auf den Areopag, den lebendigen Staatsgerichtshof (…) Mich interessiert die republikanische Sache, wenn sich Leute gemeinsam öffentlich den Kopf zerbrechen (…) Da kann ich mir nur wünschen, dass man im Theater endlich wieder auf ‚Die Ermittlung‘ von Peter Weiss zurückkommt.“ //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
„Giro“ und „Non Consumiamo … (to Luigi Nono)“von Olaf Nicolai | Seite 4 |
Entortete StimmenDer Konzept- und Medienkünstler Olaf Nicolai über seine Arbeiten „Giro“ und „Non Consumiamo … (to Luigi Nono)“ bei der diesjährigen Biennale in Venedig im Gespräch mit Thomas Irmervon Thomas Irmer und Olaf Nicolai | Seite 8 |
Thema: Phobien der Gegenwart | |
MontagswirklichkeitMiriam Tscholl, Leiterin der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden, und Hausregisseur Tilmann Köhler über die dunkle Seite der Zivilgesellschaft im Gespräch mit Michael Bartschvon Miriam Tscholl, Tilmann Köhler und Michael Bartsch | Seite 10 |
Angst nicht so romantischWir müssen unsere Ängste auseinanderpflücken, um eine Chance zu habenvon Sasha Marianna Salzmann | Seite 14 |
Die offene SituationWie in einem Frontex-Europa Sicherheit und Freiheit gegeneinander ausgespielt werden. Das Schauspiel Leipzig widmet sich zum Spielzeitauftakt offensiv den Phobien der Gegenwartvon Gunnar Decker | Seite 17 |
Neuer Realismus | Seite 20 |
Hyperreales TheaterDas Zentrum für Politische Schönheit schärft die Konturen der Realitätvon André Leipold | |
Protagonisten | |
Shabbyshabby SchickeriaLange vor dem Start seiner Intendanz an den Kammerspielen hat sich die Theaterwelt gefragt, wie Matthias Lilienthal und München zusammengehen – eine Bilanz des Spielzeitauftaktsvon Christoph Leibold | Seite 26 |
„Pier Paolo Pasolini, Allerheiligen/Allerseelen, 1975/2015“von Mark Lammert | Seite 30 |
Adler werdenVor 40 Jahren starb der italienische Filmregisseur, Dichter und Publizist Pier Paolo Pasolinivon Peter Kammerer | Seite 32 |
Aktuelle Inszenierung | Seite 34 |
Im WiderspruchsfeldAm Deutschen Theater Berlin inszeniert Hasko Weber Ferdinand von Schirachs „Terror“, das Oliver Reese zeitgleich am Schauspiel Frankfurt zur Premiere bringtvon Gunnar Decker und Christoph Leibold | |
Protagonisten | Seite 36 |
Der Kamikaze-PilotDer Schauspieler Nico Holonics verbindet am Schauspiel Frankfurt Virtuosität mit einer anarchischen Lust an der Verausgabungvon Christoph Leibold | |
Kolumne | Seite 39 |
Auf Sendungvon Kathrin Röggla | |
Protagonisten | Seite 40 |
Im KirchenschiffDas kleine Theater der Nietzsche-Stadt Naumburg startet unter Stefan Neugebauer neuvon Gunnar Decker | |
Festivals | Seite 42 |
Augen auf, Augen zuDas Zürcher Theater Spektakel bildet inmitten der durchkapitalisierten Weltstadt immer noch einen alternativen Raum für politisches Theatervon Armin Kerber | |
Look Out | |
Hubba Bubba und BananeSidonie von Krosigk will als Schauspielerin nicht nur Sprachrohr sein, sondern sucht nach einer klaren Körperlichkeitvon Björn Hayer | Seite 44 |
Im Zweifel für den ZweifelIm besten Fall ist Theater für die Schauspielerin Nancy Mensah-Offei wie ein Unfall: heftig und unmittelbarvon Theresa Luise Gindlstrasser | Seite 45 |
Ausland | Seite 46 |
Geteilte Stadt, geteiltes TheaterZum ersten Mal nach dem Krieg arbeiten bosnische und kroatische Künstler im nach wie vor gespaltenen Mostar zusammenvon Senad Halilbasic | |
Auftritt | |
Berlin: Der ultimative ProtestaktTheater an der Parkaue im Prater: „Als ich meinen Eltern meinen neuen Freund … Vom Ende der Kindheit“. 6 Autoren, 6 Regisseurevon Patrick Wildermann | Seite 51 |
Berlin: Kein Märchen nirgendsDeutsches Theater Berlin: „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen. Regie Ivan Panteleev, Ausstattung Johannes Schützvon Gunnar Decker | Seite 51 |
Berlin: Der Tautropfen WeltTheater O.N.: „Wachträume. Ein Panoptikum“ (UA). Regie Ania Michaelis, Ausstattung Martina Schullevon Gunnar Decker | Seite 53 |
Bochum: Kaiser der SelbstsuchtPrinzregenttheater Bochum: „Peer Gynt“ von Henrik Ibsen in einer Fassung von Frank Weiß. Regie Romy Schmidt, Ausstattung Sandra Schuckvon Martin Krumbholz | Seite 54 |
Greifswald: Am Pult statt zwischen den StühlenTheater Vorpommern: „Wladimir Kaminers Russendisko“ (UA). Regie Thomas Roth, Ausstattung Nadira Nasservon Theresa Schütz | Seite 55 |
Konstanz: Auf dem Schachbrett der TäuschungenTheater Konstanz: „Das Maß der Dinge“ von Neil LaBute. Regie Wulf Twiehaus, Ausstattung Katrin Hieronimusvon Bodo Blitz | Seite 56 |
Magdeburg: Abwäscher im UnterhemdTheater Magdeburg: „Kruso“ von Dagmar Borrmann nach dem Roman von Lutz Seiler. Regie Cornelia Crombholz, Ausstattung Marion Hauervon Thomas Irmer | Seite 57 |
Senftenberg: Es kommt nur auf eine Idee anNeue Bühne Senftenberg: „Brecht auf! Das Fest“von Thomas Irmer | Seite 58 |
Wilhelmshaven: Wie die Striche auf einer StrichlisteLandesbühne Niedersachsen Nord: „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Regie Eva Lange, Ausstattung Gabriela Neubauervon Alexander Schnackenburg | Seite 59 |
Stück | |
HeimatskramDie Regisseurin Anna-Sophie Mahler über ihre Bearbeitung von Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ im Gespräch mit Sabine Leuchtvon Sabine Leucht und Anna-Sophie Mahler | Seite 60 |
MittelreichMusiktheater nach dem Roman von Josef Bierbichler In einer Fassung von Anna-Sophie Mahler und Johanna Höhmannvon Anna-Sophie Mahler | Seite 62 |
Magazin | |
Gürkchen?Bei den Treibstoff Theatertagen Basel experimentiert der Theaternachwuchs mit neuen Formen – verfängt sich jedoch allzu oft in Kopie und Konventionvon Andreas Tobler | Seite 75 |
Empathie ist unser JobDie Stuttgarter tri-bühne um Edith Koerber verbindet seit 40 Jahren Politik und Poesievon Otto Paul Burkhardt | Seite 76 |
kirschs kontexte: Nachfragen an den letzten DeutschenZu Botho Strauß’ neuester Spiegel-Glossevon Sebastian Kirsch | Seite 77 |
Spring!Wie das At.tension- Festival im mecklenburgischen Lärz die Elemente des Theaters befragt – aus einer sonst wenig beachteten Richtungvon Ilona Schaal | Seite 78 |
Karneval des DenkensZum Tod des Berliner Theaterwissenschaftlers Helmar Schrammvon Joachim Fiebach | Seite 79 |
Nach dem AuftrittAlles Theater. Fotografien: Margarita Broich, Texte: Brigitte Landes. Insel Verlag, Berlin 2015, 79 S., 18 EUR.von Gunnar Decker | Seite 80 |
Die produktiven Irritationen des DionysischenKarl Heinz Bohrer: Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 389 S., 29,95 EUR.von Andreas Tobler | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
PremierenNovember 2015 | Seite 84 |
TdZ on Tour | Seite 86 |
TdZ on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Impressum/Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Burghart Klaußner?von Thomas Irmer und Burghart Klaußner |
Michael Bartsch
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Joachim Fiebach
Theresa Luise Gindlstrasser
Senad Halilbasic
Björn Hayer
Thomas Irmer
Peter Kammerer
Armin Kerber
Sebastian Kirsch
Burghart Klaußner
Tilmann Köhler
Martin Krumbholz
Mark Lammert
Christoph Leibold
André Leipold
Sabine Leucht
Anna-Sophie Mahler
Olaf Nicolai
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