Neuer Realismus

Wir Ichlinge

Wie das Theater als vorpolitischer Raum der Vereinzelung im Neoliberalismus entgegenwirken kann. Thomas Ostermeier im Gespräch mit Wolfgang Engler

von und

Wolfgang Engler: Vor genau 500 Jahren erschien eine der berühmtesten Schriften der Neuzeit, Thomas Morus „Utopia“. Davon ist eines geblieben: der Nicht-Ort, der leere Platz für die Hoffnung auf eine gerechtere Welt, als sie der Kapitalismus selbst unter Idealbedingungen herzustellen vermag. Was bedeutet das Leben in postutopischen Zeiten für die Möglichkeit, die Verhältnisse zu analysieren und zu kritisieren? In „backstage Ostermeier“, dem langen Gespräch, das du mit Gerhard Jörder geführt hast, gibt es eine kurze Bezugnahme auf die Utopie im Rahmen des Theaters: „Ich fühle eine riesige Lust in mir, diese Utopie eines echten Begegnens von Menschen auf der Bühne weiter voranzutreiben“, sagst du dort. Später, im selben Band, unterscheidest du zwischen dir als politischem Menschen, für den die Frage nach einer anderen sozialen Welt bedeutsam bleibt, und dem Theatermann gleichen Namens, den vorrangig die Fragen beschäftigen: Was ist der Mensch, wer ist der Mensch? Triffst du diese Unterscheidung in der Absicht, die „Forschungsreise“, als die du deine Theaterarbeit wiederholt bezeichnet hast, nicht mit Erwartungen, Wünschen, Träumen zu befrachten, die der unbefangenen künstlerischen Arbeit im Weg stehen? Verordnet sich da der Regisseur in gewisser Weise politische Abstinenz, heute in höherem Grad als früher?
Thomas Ostermeier: Ich weiß nicht, ob das eine Entwicklung ist, die man ablesen kann. Ich würde alles unterschreiben, was du sagst, bis auf den einen Satz, dass ich früher auch auf der Bühne diese Utopie eingefordert oder angemahnt habe. Das sehe ich nicht, weil es ja auch schon am Anfang meiner Arbeit eine Inszenierung wie „Shoppen und Ficken“ gab; die letzte Rede im Stück, von Bernd Stempel vorgetragen, das war doch höchstens eine Negativutopie, die aufrütteln sollte. Das Theater aber, oder Kunst an sich, lebt seit vielen, vielen Jahren, zumindest seitens des Publikums, in dem Missverständnis, dass wir dazu aufgerufen sind, eine andere Welt zu erzählen. Wir sind nicht dazu aufgerufen, eine Utopie zu zeigen oder zu entwerfen. Wir sind dazu aufgerufen, möglichst genau das Verhalten der Menschen heutzutage zu durchdringen und zu beschreiben, sodass Vorgänge ablesbar werden. Wenn es einen Ansatz gibt, dann ist es ein aufklärerischer, aber kein utopischer im Sinne von: Wir wollen eine politische Utopie Wirklichkeit werden lassen und erzählen auf der Bühne, wie diese aussehen könnte. – Ich kenne auch nur wenige Beispiele aus der Literatur oder aus der Kunst oder aus dem Theater, wo es so was gegeben oder irgendeinen Effekt gehabt hätte. Die erzählende Literatur ist in den meisten Fällen eine beschreibende und keine entwerfende.
Den letzten Punkt deiner Frage finde ich sehr wichtig. Als politisch denkender Mensch kommt man nicht umhin, sich der Grenzen des Theaters bewusst zu sein. Es wäre absolut vermessen zu sagen: Ich kämpfe meinen politischen Kampf im Theater. Das ist unmaterialistisch. Brecht hat gefragt: Wer bezahlt dich, wer hält diesen bürgerlichen Unterhaltungsbetrieb am Laufen? – Es ist das Bürgertum. Wir versuchen darin Inseln von Aufklärung oder Sendeapparate für Aufklärung zu sein. Wir werden nie der Ort der revolutionären Bewegung sein. Das revolutionäre Subjekt wird nicht im Theatersaal entstehen, sondern immer draußen. Die für mich in der letzten Zeit wichtigste Begegnung in diesem Zusammenhang war die mit Alain Badiou auf dem Podium des von Carolin Emcke moderierten „Streitraums“ zum Thema „Der demokratische Despotismus“ im November 2014 bei uns an der Schaubühne. Ich sagte zu ihm: „Wenn man sich anschaut, was Occupy erreicht hat, ist das doch wahnsinnig frustrierend.“ Badiou erwiderte: „Was erzählst du für einen Quatsch, es ist wichtig, dass es die Bewegung gab; jede soziale oder politische Bewegung scheitert, scheitert, scheitert jahrzehntelang, wir scheitern wieder und wir scheitern noch mal, irgendwann werden wir Erfolg haben. Zu resignieren, bloß weil eine kleine Etappe gescheitert ist, beweist vor allem eines: einen Mangel an geschichtlichem Sinn.“ – Es war für mich ganz schön bestürzend zu sehen, wie sich in den letzten Jahren mein historisch-materialistisches Bewusstsein zurückentwickelt hat.

Foto: Paolo Pellegrin
Foto: Paolo Pellegrin

Vor ein paar Jahren haben Badiou, Žižek und andere in London einen Kongress organisiert, um sich über die Lektionen des 19. und 20. Jahrhunderts zu verständigen, soweit sie die kommunistische Bewegung betrafen. Ist dieses Projekt unter den Steinschlägen der Geschichte definitiv begraben oder kann es durch eine rückhaltlos kritische Analyse der Irrtümer, Fehlschläge, Perversionen vielleicht sogar neue Kraft gewinnen? Das war die Frage. Die in London Versammelten lenkten ihre Gedanken in die zweite Richtung, Kommunismus als Hypothese statt als Dogma. Als solche bleibt er, wie Žižek kürzlich schrieb, der unverzichtbare Horizont, unverzichtbar, um nicht im Dunkeln zu stochern, was die Gegenwart angeht, um bestimmen zu können, welche Bewegungen, Tendenzen der Gegenwart im Einklang mit dem Jahrhunderte umspannenden Kampf um Solidarität und Gleichheit stehen, welche nicht, wofür man sich engagieren könnte, sollte. Ohne einen Anker, den man in die Zukunft wirft, kann man kein wirklich kritisches Verhältnis zu seiner, unserer Zeit gewinnen, bleibt man letztlich Gefangener des krud Gegebenen.
Du kannst von mir sofort ein Bekenntnis zu dieser Utopie bekommen. Es bleibt auch bei mir diese Referenz. Natürlich versucht man angesichts jeder Krise – Ukraine, Syrien, globale Veränderungen, Geflüchtete – Werkzeuge rauszukramen, die schon früher geholfen haben, um wieder klarer zu sehen. Ohne diese Werkzeuge kann ich unsere Gegenwart nicht analysieren und komme dann auch zu keiner Haltung. Badiou zum Beispiel sagte: „Wenn wir nur Inseln der Demokratie in Europa haben, dann ist das nicht demokratisch, sondern wir brauchen weltweit Demokratie.“ – Das ist unwahrscheinlich utopisch. Das ist eine völlig andere Utopie als zu sagen: Wir revolutionieren die Zentren des Kapitalismus mit einer Art Stadtguerilla und bilden eine Insel der Glückseligen.

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