Heft 02/2016
Bruder Karamasow
Frank Castorf über Russland
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Als der russische Radikalkünstler Pjotr Pawlenski am 9. November 2015 von Moskauer Polizeibeamten abgeführt wurde, dachten viele: Das war’s. Anzeige wegen „Vandalismus – motiviert durch politischen und ideologischen Hass“. Das kann in Russland schnell mal drei Jahre Haft bedeuten. Für Pawlenski indes fing die Kunstaktion damit gerade erst an. Er wolle, hieß es, mit dem Brand, den er vor der Tür des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB gelegt hatte, und der darauf folgenden Verhaftung gegen die Willkür und Unterdrückung durch den Putin-Staat protestieren. „Freiheit“, wie die Aktion hieß, war bereits seine sechste große Intervention. Zuvor nähte er sich unter anderem die Lippen zu, nagelte seinen Hodensack auf dem Pflaster des Roten Platzes fest und schnitt sich auf der Mauer einer Moskauer Psychiatrie ein Ohrläppchen ab. Wir zeigen seine Radikalkunst, die, wie Ute Müller-Tischler schreibt, an die Drastik der Autoperforationsartisten der Berliner Vorwendezeit oder der Wiener Aktionisten erinnert, in unserem Künstlerinsert.
Russland und die Rechtsprechung. Das ist das eine. Russland und der Blick aus dem Westen. Das ist das andere. Seit 15 Jahren durchkämmt Frank Castorf mit seinen Adaptionen der großen Jahrhundertromane Fjodor Dostojewskis das Grenzgebiet zwischen Ost und West, immer auf der Suche nach einem anderen Blick, einer anderen Position, die es schafft, das Denken in Zeiten eines aggressiven Konsenszwangs offenzuhalten. „Wie selbstverständlich man heute Positionen durch Verdrängung der Geschichte einnehmen kann, sieht man (…) in den Diskussionen über eine mögliche militärische Besetzung der Krim“, sagt er im Gespräch mit Gunnar Decker. „Wenn man sagt: Wir müssen daran nicht mehr denken, was einmal war, wir sind jetzt auf der Seite der Demokratie, dann stellt die Demokratie immer auch ein angloamerikanisches Interessenmodell dar.“ Wie andere Regisseure mit solchen slawophilen Grenzgängen umgehen, zeigen unsere Berichte aus Reykjavík, wo Thomas Irmer die litauische Regisseurin Yana Ross traf, sowie aus München, wo Christopher Rüping und Christian Stückl das Dostojewski-Fieber entfachten.
Mit kritischem Blick beobachtet auch unsere Kolumnistin Kathrin Röggla, wie sich in der Gesellschaft und auch in der Kunstszene eine „Logik des unbedingten Dafür oder Dagegen breitmacht“. Dabei gehe es im Theater nicht ums Richtigliegen, nicht einmal ums Gut- oder Bösesein, wie es manchmal den Anschein hat. Röggla wünscht sich vielmehr „einen Diskurs, der analytischer, politischer, die eigenen Interessen offener aussprechend verläuft“. Sowie ein Theater, „welches die Transmissionsriemen zwischen Ästhetik und Politik nicht allzu gespannt, ja, überspannt versteht, festgefahren, sondern in Bewegung“.
Ob das Theater an der Berliner Schaubühne ein solches Theater ist? Schaubühnen-Chef Thomas Ostermeier jedenfalls bestärkt im Gespräch mit Wolfgang Engler, das wir in unserer Reihe zum Neuen Realismus veröffentlichen, einmal mehr seinen künstlerischen Ansatz. Für ihn ist es gerade das mimetische Spiel, das derartige Analysen liefern könne. „Wir sind dazu aufgerufen, möglichst genau das Verhalten der Menschen heutzutage zu durchdringen und zu beschreiben, sodass Vorgänge ablesbar werden.“ Erst so gebe es die Chance, dass im Theater ein handlungsfähiges politisches Subjekt entsteht.
Der britische Dramatiker und Performer Chris Thorpe hat diesen Analyseansatz radikal gefasst. Für sein Stück „Bestätigung“, das wir hier veröffentlichen, traf er sich mit einem bekennenden Neonazi und Holocaust-Leugner zu einer „Serie von Konversationen, in denen man zu verstehen versucht, wie der andere denkt. Um die Mechanik dahinter zu begreifen.“ Ihm sei es dabei, erklärt er im Gespräch mit Patrick Wildermann, um die Untersuchung von Bestätigungsfehlern gegangen, das Set von Filtern in der menschlichen Wahrnehmung, mit denen man Informationen so biegt, dass sie zu den eigenen Ansichten passen. Insofern war es auch eine Befragung seines eigenen, diametral entgegengesetzten Standpunktes. „Ich hatte mich so behaglich eingerichtet in mir selbst, dass ich schlicht aufgehört hatte, mich selbst oder meine Ideen herauszufordern.“ //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Künstlerinsert | |
Aktionenvon Pjotr Pawlenski | Seite 4 |
Feuer legenDer Sankt Petersburger Radikalkünstler Pjotr Pawlenski fordert mit lebensgefährlichen Aktionen den russischen Staat herausvon Ute Müller-Tischler | Seite 8 |
Thema | |
Bruder KaramasowFrank Castorf über Dostojewski und seine Angriffe gegen die herrschende Konsenskultur im Gespräch mit Gunnar Deckervon Frank Castorf und Gunnar Decker | Seite 11 |
Mit Ost und West auf NordZwischen knorrigem Knausgård und totaler Erschöpfung – wie Yana Ross Tschechow mit dreifach frischem Blick skandinavisiertvon Thomas Irmer | Seite 16 |
Von Haus aus BlufferMünchens Theater hat die Dostojewski-Spielwut erfasst – An den Kammerspielen inszeniert Christopher Rüping den „Spieler“, am Volkstheater ist Christian Stückls Version von „Schuld und Sühne“ zu sehenvon Christoph Leibold | Seite 18 |
Protagonisten | Seite 22 |
Rückkehr aus der NebensphäreLange führte das Schauspiel am Theater Basel ein Schattendasein – der neue Intendant Andreas Beck holt es nun zurück auf die große Bühnevon Dominique Spirgi | |
Neuer Realismus | Seite 25 |
Wir IchlingeWie das Theater als vorpolitischer Raum der Vereinzelung im Neoliberalismus entgegenwirken kann. Thomas Ostermeier im Gespräch mit Wolfgang Englervon Wolfgang Engler und Thomas Ostermeier | |
Kolumne | Seite 29 |
Im geopolitischen Ungeheuervon Kathrin Röggla | |
Ausland | |
Produktionshaus auf AsiatischDas neu gegründete Asia Culture Center im südkoreanischen Gwangju will sich als Hotspot einer weltweit vernetzten Performancekunst etablierenvon Rainer Hofmann | Seite 30 |
Begehren und HandelnDer kleine Frieden als konkrete Utopie – die Theaterplattform Experimenta Sur in Kolumbien geht in die vierte Rundevon Hugo Velarde | Seite 34 |
Look Out | |
Eine Ahnung vom LebenDer Regensburger Schauspieler Jacob Keller ist ein intensiver Beobachter, der selbst im Abseits das heimliche Zentrum bildetvon Christoph Leibold | Seite 36 |
Wie ein getriebener NarrDer Jenaer Schauspieler Leander Gerdes lässt in seinen Figuren eine anarchische Komik der Verzweiflung entstehenvon Sebastian Schulze Jolles | Seite 37 |
Protagonisten | Seite 38 |
Transit als Konstante„International“ ist am English Theatre Berlin alltägliche künstlerische Praxisvon Patrick Wildermann | |
Stück | |
Der Autor und Performer Chris Thorpe definiert Liberalismus als Ausdruck von PassivitätEin Gespräch mit Patrick Wildermannvon Patrick Wildermann und Chris Thorpe | Seite 40 |
Bestätigung (Confirmation)von Chris Thorpe | Seite 42 |
Auftritt | |
Berlin: Philoktet auf AlcatrazGefängnistheater Aufbruch: „Philoktet“ von Heiner Müller. Regie Peter Atanassow, Bühne Holger Syrbe, Kostüme Thomas Schustervon Tom Mustroph | Seite 53 |
Bern: Die KreisläuferKonzert Theater Bern: „Das Erdbeben in Chili“ von Heinrich von Kleist. Regie und Bühne Ulrich Rasche, Kostüme Romy Springsguthvon Gunnar Decker | Seite 53 |
Frankfurt am Main: Im UrgrundSchauspiel Frankfurt: „Penthesilea“ von Heinrich von Kleist. Regie Michael Thalheimer, Bühne Olaf Altmann, Kostüme Nehle Balkhausenvon Christoph Leibold | Seite 54 |
Freiburg: Explodierende ExistenzTheater Freiburg: „Zorn“ von Nino Haratischwili. Regie Nino Haratischwili, Bühne Julia Bührle-Nowikowa, Kostüme Gunna Meyervon Bodo Blitz | Seite 55 |
Kassel: Idyll der SoziopathenStaatstheater Kassel: „Tyrannis“ (UA) von Ersan Mondtag. Regie und Ausstattung Ersan Mondtagvon Joachim F. Tornau | Seite 56 |
Konstanz: Gegenwelt GretchenTheater Konstanz: „Faust I“ von Johann Wolfgang von Goethe. Regie Johanna Wehner, Bühne Elisabeth Vogetseder, Kostüme Miriam Draxlvon Bodo Blitz | Seite 58 |
Mainz: Top secretStaatstheater Mainz: „Ramstein Airbase: Game of Drones“ (UA) von Jan-Christoph Gockel. Regie Jan-Christoph Gockel, Ausstattung Julia Kurzwegvon Martin Krumbholz | Seite 59 |
Rudolstadt: Komm, süßer Tod!Theater Rudolstadt: „Eine heikle Sache, die Seele“ von Dimitré Dinev. Regie Herbert Olschok, Ausstattung Sabine Pommereningvon Gunnar Decker | Seite 60 |
St. Gallen: SeelenstressTheater St. Gallen: „Das weite Land“ von Arthur Schnitzler. Regie Tim Kramer, Bühne Gernot Sommerfeld, Kostüme Natascha Maravalvon Maria Schorpp | Seite 61 |
Magazin | |
Auf unbequemem StuhlDas Zürcher Theater Neumarkt feiert sein 50-jähriges Bestehenvon Jean Grädel | Seite 63 |
Der MeisterZum Tod von Kurt Masurvon Hans-Jochen Irmer | Seite 65 |
Bomben oder ParfümEin Team an der Universität Wien erforscht die Rolle des Theaters während der Jugoslawienkriege in den 90er Jahren – und zeigt, wie unverwüstlich sich Kunst gegen Hass und Hetze, Krieg und Tod stellt.von Dorte Lena Eilers | Seite 66 |
Die GroßmischpokeWie die kleine International Theatre Platform in Bukarest dem Riesenfestival in Sibiu den Rang abläuftvon Renate Klett | Seite 68 |
Der MittlerÜbersetzer, Dramaturg, Erzähler, Weltfreund, Humorist: Michael Hamburger wird 85von Friedrich Dieckmann | Seite 70 |
kirschs kontexte: Wo den Frühling Festgesänge würzten …Ein deutscher Traum von der Antikevon Sebastian Kirsch | Seite 71 |
Der UrtellerTragelehn: Der Resozismus im Abendlicht. quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2015, 104 S., 14,90 EUR.; Dieckmann: Blaumalerei. Eine Kriminalgeschichte. quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2015, 88 S., 14,90 EURvon Sebastian Kirsch | Seite 72 |
Volltrunkene EngelJoachim Meyerhoff: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 352 S., 21,99 EUR.von Gunnar Decker | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
Künstler reiner SeeleZum Tod des Schauspielers, Regisseurs und Intendanten Tebbe Harms Kleenvon Thomas Spieckermann | Seite 75 |
PremierenFebruar 2016 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
TdZ on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Volkan T error?von Tom Mustroph und Volkan T. |
Bodo Blitz
Frank Castorf
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Dorte Lena Eilers
Wolfgang Engler
Jean Grädel
Rainer Hofmann
Hans-Jochen Irmer
Thomas Irmer
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Martin Krumbholz
Christoph Leibold
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Thomas Ostermeier
Pjotr Pawlenski
Kathrin Röggla
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