Es war zu erahnen: Das vergangene Jahr geht einfach weiter, niemand scheint in der Lage, es zu stoppen. Und nein, wir sitzen dabei in keinem Flüchtlingskunstwerk. Irgendwer muss das behauptet haben, und jetzt fühlt es sich so an. Wir sitzen vielmehr in einem geopolitischen Ungeheuer, dessen Realitäten sich durchs Theater in unterschiedlichen Geschwindigkeiten durcharbeiten und dann auf ganz andere Weise wieder rauskommen, als gebe es keine Realpolitik mehr, als gebe es nur symbolische Debatten über Willkommenskulturen, die politisch nutzbar sind wie bei der über die Senkung des Mindestlohns. Ansonsten: Identitäten und Endzustände, eine Politik der Gefühle und der Moral, des zynischen Humanismus, wie Milo Rau sagen würde. In dieser Situation lese ich Theatertexte, in denen Dinge abstrakt auf Diskursebene verhandelt werden oder als Handlung nur voluntaristisch geschehen, in denen vorwiegend mit Interviews, Diskursbruchstücken, Familien- und Privatszenen hantiert wird, während die realpolitische Ebene derart in den Hintergrund tritt, als sei sie verschwunden, und vielleicht ist sie das ja auch ganz allgemein, denn auch in der Politik wird so getan, als gebe es das nicht mehr: Interessenspolitik machen hierzulande immer die anderen.
Daneben läuft das vergangene Jahr einfach weiter: Die Zustände im Berliner LAGeSo sind nach wie vor haarsträubend, obwohl andauernd „Besserung“ versprochen wird. Sie begraben die gesamte Gesellschaft in zivilgesellschaftlichen Korrekturversuchen, die dort lebenden Flüchtlinge in strukturell erzeugter Gewalt und Angst. Was dort und am Flughafen Tempelhof alles los sein soll, lässt alle theatralen Interventionen zum verlängerten Arm einer kruden Symbolpolitik verkommen. Theater als i-Tüpfelchen von PR-gesteuerter Politik, auch wenn tatsächlich „Dinge geschehen“, wie man nur noch verschwurbelt anmerken kann. Und sei es, dass die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ihr Land als Einwanderungsland verstehen durch eine Flüchtlingssituation, die mit Einwanderung erst mal wenig zu tun hat, sondern mehr mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Wenn ich dann meinen noch immer dezembrigen Kopf hebe, sehe ich, wie sich daneben eine Logik des unbedingten Dafür oder Dagegen breitmacht. Und so kam es, wie es kommen musste: Alvis Hermanis’ Absage einer Inszenierung am Thalia Theater aufgrund von dessen Engagement für Flüchtlinge hat einen Dezemberaufruhr verursacht, das Berliner Gorki Theater macht rund um die Uhr Thematisierungen, Inszenierungen zum Thema werden aber ohnehin alle Spielpläne der nächsten Saison bestimmen. Vielleicht, so sagt mein Januarkopf aber schon, ist das Thema dann bereits durch? „Im Herbst muss es um was anderes gehen!“ Nur um was? Und werden wir uns dann schon eingerichtet haben auf eine allgemeine Militarisierung, die aber noch von Initiativen wie „Berlin sagt Danke“ durchzogen sein wird?