Heft 04/2017
Dickicht der Städte
Shermin Langhoff über die Dialektik der Migration
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Thema: Theater und Migration
Wie sind wir geworden, was wir sind? Wer wollen wir künftig sein? Wer ist „wir“? Mit diesen Leitfragen startete Shermin Langhoff im September 2013 ihre Intendanz am Maxim Gorki Theater Berlin. Fragen, über die nachzudenken vier Jahre später nicht einfacher geworden ist. Während Lagermentalitäten und Partikularinteressen unter dem Diktat populistischer Wahlkämpfe zunehmen, betreibt das Maxim Gorki Theater mehr denn je seine theatralen Exkursionen in das Dickicht der Städte. Identität, sagt Gunnar Decker in seinem Interview mit Shermin Langhoff, sei dabei das bestimmende Thema am Haus – und zwar als etwas Fließendes, wohl auch Umkämpftes.
Mit seiner Öffnung zur Stadt mitsamt allen in den letzten Jahrzehnten Dazugekommenen ist das Maxim Gorki Theater auch ein Zentrum für Künstler im Exil. So will das Haus mit dem neu gegründeten Exil-Ensemble professionellen Neuberliner Schauspielerinnen und Schauspielern aus Afghanistan, Syrien und Palästina einen Einstieg in das deutschsprachige Stadttheatersystem ermöglichen. Einen Weg, den die iranische Autorin Afsane Ehsandar und der syrische Regisseur Rafat Alzakout auf ganz eigene Art beschreiten. Sie wollen, so Patrick Wildermann in seinem Porträt, am liebsten einen großen Bogen machen um den Bereich, der sich im deutschsprachigen Theaterbetrieb zu einer eigenen Sparte zu entwickeln beginnt: „Flüchtlingskunst“. Das Problem daran sei das Denken in Grenzen und Dualitäten, sagt Alzakout: „Hier die Geflüchteten, dort die Kunst.“ Dabei werden, wie Shermin Langhoff sagt, „die neuen und die alten Geschichten nicht nur für unsere Auseinandersetzung in theatralen Räumen gebraucht, sondern für den gesamten gesellschaftlichen Diskurs“.
Wie aufgeladen dieser mittlerweile ist, zeigen die abgesagten Diskussionsrunden am Theater Magdeburg und am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich, die einen rechten Publizisten bzw. einen AfD-Politiker aufs Podium laden wollten. Lukas Franke wirft den Häusern in seinem Kommentar geschichtliche Unachtsamkeit vor, erinnerten doch die Winkelzüge von Krisengewinnlern wie der AfD, Marine Le Pen oder Donald Trump an Mechanismen, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Aufstieg der NSDAP beförderten. Unser Stückabdruck in diesem Heft, „Abend über Potsdam“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, weckt ähnliche Assoziationen. Auch wenn die Autoren ihr Stück dezidiert nicht als Analogie verstanden wissen wollen, plädieren auch sie im Gespräch mit Dorte Lena Eilers für mehr Achtsamkeit.
Die lässt allerdings selbst in parlamentarischen Gremien wie dem NSU-Untersuchungsausschuss zu wünschen übrig. Kathrin Röggla war bei dessen 51. und letzter Sitzung dabei, hatte vielmehr jedoch das Gefühl, einem (schlechten) Theaterstück beizuwohnen: Sätze über Sätze, die Ungefähres, Undeutliches, Nicht-Feststellbares enthalten. „Die Machtanalyse trotzdem zu unternehmen, das wird entschieden vor allem die Aufgabe von Dramatikern sein“, schreibt Röggla – und flankiert damit einen Essay von Wolfgang Engler, der sich Gedanken darüber macht, wie unserer postheroischen Zeit dramatisch beizukommen sei.
So vielleicht, wie Anfang März in der Volksbühne. Dort inszenierte Volksbühnen-Chef Frank Castorf Goethes „Faust“ als Textkörper mit zahlreichen Hyperlinks, die das Publikum, wie Jakob Hayner in seiner Rezension analysiert, über Émile Zola, den Algerienkrieg, Frantz Fanon und Carl Schmitt zu der Frage katapultierte, was vom Kampf wirklich bleibt.
Hoch im Norden, in Rostock, ist diese Frage recht schlicht zu beantworten: Ärger und Frust. Nach den Streitigkeiten zwischen Rostocks Kommunalpolitikern und dem Ex-(oder Noch-)Intendanten Sewan Latchinian setzt sein Nachfolger Joachim Kümmritz daher auf Kommunikation. Der Ton in Rostock, meint Gunnar Decker, ist plötzlich ein anderer.
„Wenn du zur Fahrt aufbrichst nach Ithaka / So bete, dass ein weiter Weg es werde / Voller Umschwünge, voller Einsichten.“ Mit diesen Zeilen des griechischen Lyrikers Konstantinos Kavafis verabschieden wir uns in diesem Heft von dem großen „Konstrukteur“, „Hafenarbeiter“ und „Seemann“ Jannis Kounellis, dessen Bühnen, Inszenierungen und Installationen wir im Kunstinsert zeigen. Wolfgang Storch setzt ihm in seinem Nachruf ein literarisches Denkmal. „Der Raum wurde zu einem Schiff, beladen mit Zeit.“ //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Bühnen, Räume und Installationenvon Jannis Kounellis | Seite 4 |
Die Aufführung – ein SchiffIn Erinnerung an Jannis Kounellis und seine Zusammenarbeit mit Heiner Müllervon Wolfgang Storch | Seite 8 |
Thema | |
Die Identität an sich ist die KriseShermin Langhoff, Intendantin des Maxim Gorki Theaters Berlin, über die Dialektik der Migration, gesellschaftliche Dissonanzräume und die Arbeit des neu gegründeten Exil-Ensembles im Gespräch mit Gunnvon Gunnar Decker und Shermin Langhoff | Seite 13 |
Die Schutz-FliehendenFlüchtlingsprogramme? Refugee Art? Theaterkünstler im Berliner Exil brauchen keine Labels – sie wollen mit dem sichtbar werden, was sie auszeichnet: ihrer Kunstvon Patrick Wildermann | Seite 16 |
Kommentar | Seite 19 |
Die dreieinhalbte WalpurgisnachtZu den (inzwischen abgesagten) Einladungen von AfD-„Hausphilosoph“ Marc Jongen an das Theaterhaus Gessnerallee in Zürich und Götz Kubitschek an das Theater Magdeburgvon Lukas Franke | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 20 |
Tanz am HöllentorTheater als Hypertext – Frank Castorfs „Faust“ an der Berliner Volksbühnevon Jakob Hayner | |
Ausland | Seite 22 |
Lucky AnneAnne Tismer spielte auf den großen Bühnen der Republik – nun wohnt sie in Togo und führt dort ein Leben für die Kunst und den Tanzvon Renate Klett | |
Protagonisten | Seite 24 |
Zurück zur KunstUnter dem neuen Intendanten Joachim Kümmritz sucht das Volkstheater Rostock den Weg aus dem Dschungel der Kommunalpolitikvon Gunnar Decker | |
Essay | Seite 26 |
Dramen der HandlungVon Meisterdieben und Krämerseelen – Warum die Postdramatik postheroischen Verhältnissen nicht beizukommen vermagvon Wolfgang Engler | |
Kolumne | Seite 31 |
Am Ende der Vertuschungskette?Die 51. und letzte Sitzung des parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschussesvon Kathrin Röggla | |
Essay | |
Warum Zirkus?Reflexionen über ein progressives Mediumvon Thomas Oberenderzum Online-Extra: Warum Zirkus? | Seite 32 |
Manege frei!Eine Konferenz am Berliner Chamäleon Theater zum Neuen Zirkus zeigt dessen Potenzial zur Veränderung des Theatersvon Tom Mustroph | Seite 37 |
Look Out | |
Gefühle im SchraubstockMinutenlang stillstehen – der Schauspieler Elias Eilinghoff spielt Menschen, in denen es gefährlich brodeltvon Elisabeth Maier | Seite 38 |
Die RhythmusstörungDas Wiener Kollektiv YZMA macht den Fehler zum Prinzip, um die Welt analytisch nicht auf eine These zu reduzierenvon Theresa Luise Gindlstrasser | Seite 39 |
Auftritt | |
Bonn: Menschen wie EiswürfelTheater Bonn: „Der Zorn der Wälder“ (UA) von Alexander Eisenach. Regie Marco Štorman, Ausstattung Anika Marquardtvon Martin Krumbholz | Seite 43 |
Chur: Utopie am BergTheater Chur: „Der Dorfladen“ (UA) von Tim Krohn. Regie Roman Weishaupt, Ausstattung Remo Arpagaus und Gianina Fleppvon Daniele Muscionico | Seite 43 |
Graz: Revolution reloadedSchauspielhaus Graz: „Der Auftrag: Dantons Tod“ nach Heiner Müller und Georg Büchner. Regie Jan-Christoph Gockel, Bühne Julia Kurzweg, Kostüme Sophie du Vinagevon Hermann Götz | Seite 44 |
Kassel: Die Wirklichkeit als SpiegelweltStaatstheater Kassel: „Das blaue Licht / Dienen“ (UA) von Rebekka Kricheldorf. Regie Schirin Khodadadian, Ausstattung Ulrike Obermüllervon Joachim F. Tornau | Seite 45 |
Konstanz: Terror des UngesagtenTheater Konstanz: „We have a situation here“ (DSE) von Neil LaBute. Regie Johanna Wehner, Ingo Putz, Andreas Bauer, Neil LaBute, Ausstattung Elena Buchnikovavon Bodo Blitz | Seite 46 |
Landshut: Zimmerschlacht unter historischem GebälkKleines Theater – Kammerspiele Landshut: „Geächtet“ von Ayad Akhtar. Regie Sven Grunert, Bühne Helmut Stürmer, Kostüme Luci Hofmüllervon Christoph Leibold | Seite 48 |
München: Die Umwälzungen unserer TageMünchner Kammerspiele: „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow. Regie Nicolas Stemann, Bühne Katrin Nottrodt, Kostüme Marysol del Castillovon Christoph Leibold | Seite 49 |
St. Gallen: Grandhotel am AbgrundTheater St. Gallen: „Durcheinandertal“ nach dem Roman von Friedrich Dürrenmatt. Regie Martin Pfaff, Bühne Claudia Rohner, Kostüme Marion Steinervon Harald Müller | Seite 50 |
Stuttgart: Vor dem UntergangStaatstheater Stuttgart: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’Neill. Regie Armin Petras, Bühne Aleksandar Denic, Kostüme Michael Graessnervon Otto Paul Burkhardt | Seite 51 |
Zürich: Mit nacktem PoSchauspielhaus Zürich: „Die 120 Tage von Sodom“ von Milo Rau nach Motiven von Pier Paolo Pasolini und Donatien Alphonse François de Sade. Regie Milo Rau, Ausstattung Anton Lukasvon Christoph Leibold | Seite 52 |
Stück | |
Das Warum-ErbeLutz Hübner und Sarah Nemitz über ihr neuestes Stück „Abend über Potsdam“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Lutz Hübner und Sarah Nemitzzum Online-Extra: Das Warum-Erbe | Seite 54 |
Abend über Potsdamvon Lutz Hübner und Sarah Nemitz | Seite 56 |
Magazin | |
Nieder mit den Konstruktionen!Das iberoamerikanische Festival ¡Adelante! in Heidelberg zeigt ein bissiges Theater, das sich korrumpierten Machtregimen widersetztvon Björn Hayer | Seite 71 |
Andere KörperÜber die Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Hannover zum Thema „Körper“von Theresa Schütz | Seite 72 |
kirschs kontexte: Der lange Weg nach AuschwitzZum Fall Hans Schleifvon Sebastian Kirsch | Seite 73 |
Flausen im KopfAuf dem Kölner flausen-Kongress trafen sich Vertreter der freien Szene, um über künstlerische Innovation zu diskutierenvon Lisa Kerlin | Seite 74 |
Gralshüter der PostdramatikKommentar zu Kirschs Kontexte „Was für ein Drama?!“ in TdZ 03/2017von Mirjam Meuser | Seite 75 |
Hüterin der ZaubersprücheZum Tod der Schauspielerin Inge Kellervon Gunnar Decker | Seite 76 |
Permanente PraxisIn Gedenken an den Schauspieler und Regisseur Martin Lüttgevon Norbert Kentrup | Seite 78 |
Der SammlerZum Tod des Theater- und Literaturwissenschaftlers und bedeutenden Brecht-Forschers Werner Hechtvon Thomas Irmer | Seite 79 |
Wie frei ist frei?Manfred Brauneck u. d. ITI Zentrum Deutschland (Hg): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik. Transcript Verlag, Bielefeld 2016, 648 S., 39,99 EUR.von Joachim Fiebachzum Online-Extra: Wie frei ist Frei? | Seite 80 |
Literatur und WelterkenntnisGeorg Lukács: Werke Band 1 (1902–1918). Teilband 1 (1902–1913). Hg. von Zsuzsa Bognár, Werner Jung und Antonia Opitz, Aisthesis Verlag, Bielefeld 2017, 476 S., 128,00 EUR.von Jakob Hayner | Seite 81 |
StorytellingPhilipp Schönthaler: Portrait des Managers als junger Autor. Zum Verhältnis von Wirtschaft und Literatur. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 168 S., 15,00 EUR.von Jakob Hayner | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
TdZ on Tour | Seite 83 |
Premieren April 2017 | Seite 84 |
TdZ on Tour | Seite 86 |
tdz on tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Autoren April 2017 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Andrzej Wirth?von Thomas Irmer und Andrzej Tadeusz Wirth |
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Warum Zirkus?Reflexionen über ein progressives Mediumvon Thomas Oberenderzum Online-Extra: Warum Zirkus? | |
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Das Warum-ErbeLutz Hübner und Sarah Nemitz über ihr neuestes Stück „Abend über Potsdam“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Lutz Hübner und Sarah Nemitzzum Online-Extra: Das Warum-Erbe | |
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Wie frei ist frei?Manfred Brauneck u. d. ITI Zentrum Deutschland (Hg): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik. Transcript Verlag, Bielefeld 2016, 648 S., 39,99 EUR.von Joachim Fiebachzum Online-Extra: Wie frei ist Frei? |
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