Heft 09/2018
Franz Rogowski: Der Schmerz des Boxers
Broschur mit 124 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Grau is’ im Leben alle Theorie – aber entscheidend is’ auf’m Platz.“ Dieses Zitat der BorussiaLegende Alfred „Adi“ Preißler könnte auch ein Leitsatz für das Theater sein. Die Wahrheit liegt auf der Bühne – um noch eine zweite Legende, „König Otto“ (Rehhagel), zu adaptieren. Der russischen Performancegruppe Pussy Riot ist eh jeder öffentliche Ort willkommen. Ihr Auftritt im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft war zweifellos meisterhaft gesetzt. In der 52. Minute flitzten vier Mitglieder der Gruppe, als Polizisten verkleidet, über den Rasen. Ihre Botschaft: Das Russland der Fußballweltmeisterschaft sei nur ein Trugbild. Den himmlischen Polizisten, der den Fans freundlich lächelnd beim Feiern zuschaue, gebe es nur während der WM. Danach herrsche wieder der irdische, der nicht zuschaue, sondern Versammlungen auflöse.
Wie immer jedoch stellt sich die Situation in der nachfolgenden Spielanalyse komplizierter dar. Wie frei lässt es sich in Russland heute als Künstler arbeiten? Dieser Frage sind wir in unserem Schwerpunkt Russland nach der WM nachgegangen. Erik Zielke hat mit dem russischen Regisseur Timofej Kuljabin gesprochen, dessen „Tannhäuser“-Inszenierung in Nowosibirsk 2015 abgesetzt wurde, weil orthodoxe Christen ihre religiösen Gefühle verletzt sahen. Mittlerweile gehört Kuljabin zum Leitungsteam des Nowosibirsker Theaters Rote Fackel und bereitet mit „Nora“ am Schauspielhaus Zürich seine zweite Theaterarbeit im deutschsprachigen Raum vor. Auf die Frage nach der Kunstfreiheit gebe es keine allgemeine Antwort, sagt er. „Wir wissen, dass zahlreiche Behörden bei einzelnen Theatern oder Künstlern besonders scharf zusehen, wie zum Beispiel beim Moskauer Teatr.doc. Es gibt aber genauso Theater und Regisseure, die sich mit aktuellen, brisanten Themen beschäftigen und trotzdem ungestört arbeiten können.“ Tatsächlich war das Moskauer Teatr.doc mit seinen unmittelbar auf politische Skandale reagierenden Dokumentarstücken ein produktiver Unruheherd in der russischen und auch internationalen Szene. Der plötzliche Tod der beiden Leiter Elena Gremina und Michail Ugarov im Mai dieses Jahres stellt die Mitarbeiter nun vor die schwierige Frage: Wie weiter? Regisseur Georg Genoux erinnert daran, was Gremina und Ugarov für das russische Theater geleistet haben. Unruhe dürfte auch das neue Stück des Moskauer Schriftstellers Vladimir Sorokin stiften. „Das weiße Quadrat“ ist „eine drastische Medienkritik“, die „den Kannibalismus der digitalen Welt bloßstellt“, schreibt Gunnar Decker, der den Autor in Berlin traf. Das Stück, das am 17. September als Buch mit Zeichnungen des russischen Künstlers Ivan Razumov im Verlag ciconia ciconia erscheint, ist dem unter Hausarrest stehenden Regisseur Kirill Serebrennikow gewidmet. Wir drucken einen Auszug davon.
„Die Selbstgedrehte in der Hand, Sonnenbrille vor den Augen.“ So beschreibt unser München- Korrespondent Christoph Leibold seine erste Begegnung mit dem Schauspieler Franz Rogowski. Hoch oben über den Dächern der Stadt saßen die beiden Männer und sprachen über die Fähigkeit, sich auf der Bühne dem Moment hinzugeben – expressiv und beiläufig zugleich. Rogowskis Ausstrahlung, schreibt Leibold, sei von geradezu James-Dean-hafter Coolness. Er berühre, so der Filmregisseur Christian Petzold, mit einer „unfassbar schönen Traurigkeit“. Rogowski ist nicht nur das Gesicht des deutschen Films – auch den Münchner Kammerspielen wird er zum Glück erhalten bleiben.
Ein Riot Grrrl ganz anderer Art als die Girls von Pussy Riot ist die Schauspielerin Annett Kruschke. Einst im Gründungsensemble der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf gestartet, mischt sie nun auch als Regisseurin das Theater Vorpommern auf. Gunnar Decker hat sie in Greifswald besucht, wo sie unter anderem „Dantons Tod“ inszeniert hat und auch spielt – „eine Stunde solo, alle Rollen, nur sie mit ganzer Wucht“. Eines sei auch beim Besuch von Kruschkes Inszenierung von Clemens J. Setz’ „Vereinte Nationen“ klar: Mit ihr halte ein neues, überwältigend hohes Energielevel Einzug.
Verabschieden müssen wir uns in dieser Ausgabe von dem Bühnenbildner und Mitbegründer des Theaters an der Ruhr Gralf-Edzard Habben. Martin Krumbholz erinnert sich, wie Habbens minimalistische, der Arte povera nahe Bühnen die vielen Hundert Inszenierungen von Roberto Ciulli in Mülheim prägten. Wir haben unser Künstlerinsert dem „leidenschaftlichen Handwerker, Bühnenbauer und Bastler“ gewidmet, ohne den das Theater an der Ruhr, so Krumbholz, nicht mehr dasselbe sein wird. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Bühnenvon Gralf-Edzard Habben | Seite 8 |
Später regnete es ÄpfelZum Tod des Bühnenbildners des Theaters an der Ruhr Mülheim Gralf-Edzard Habbenvon Martin Krumbholz | Seite 12 |
Thema | |
Der Reload-EffektDer russische Regisseur Timofej Kuljabin über die Flitzer von Pussy Riot, die Freiheit der Kunst und seine getwitterte „Nora“ in Zürich im Gespräch mit Erik Zielkevon Erik Zielke und Timofej Kuljabin | Seite 21 |
Der Tod zum richtigen Zeitpunkt?In Gedenken an die Leiter des Moskauer Teatr.doc Elena Gremina und Michail Ugarovvon Georg Genoux | Seite 24 |
Ist Russland ein Lied?Über Vladimir Sorokins Existenz im Dazwischen und sein neuestes Stück „Das weiße Quadrat“von Gunnar Decker | Seite 26 |
Stück: Das weiße Quadrat (Auszug). Mit Zeichnungen von Ivan Razumov. Deutsch von Christiane Körnerfür Kirill Serebrennikowvon Vladimir Sorokin | Seite 28 |
Protagonisten | |
Der Schmerz des BoxersFranz Rogowski ist der neue James Dean des deutschen Films – und bleibt zum Glück auch dem Theater erhaltenvon Christoph Leibold | Seite 50 |
Aus der Deckung kommenDie Schauspielerin und Regisseurin Annett Kruschke bringt die Volksbühne ans Theater Vorpommernvon Gunnar Decker | Seite 54 |
Festivals | |
Sonnengruß in der BlutlacheMarkus Öhrns „Häusliche Gewalt“ ist die Entdeckung bei den Wiener Festwochen und erinnert in seiner Präzision an die kühlen Ehestudien Bergmans und Fassbindersvon Margarete Affenzeller | Seite 63 |
KurzstreckenlaufDie Wiener Festwochen haben schon wieder den Intendanten gewechselt. Ist Christophe Slagmuylder der nächste Lückenbüßer? Ein Kommentarvon Margarete Affenzeller | Seite 65 |
Das Festival der eintausend FragenMartine Dennewalds vierte Ausgabe der Theaterformen in Braunschweig widmet sich postkolonialen Verstrickungenvon Theresa Schütz | Seite 66 |
Chor der MillionäreHaiko Pfost, neuer Leiter des Impulse Theater Festivals, über die Lebensrealität von Künstlern mit zwei Pässen und die Ausweitung der Auswahljury auf das Publikum im Gesprächvon Friederike Felbeck und Haiko Pfost | Seite 69 |
Nur tote Fische schwimmen mit dem StormSeit dreißig Jahren versucht die Münchener Biennale das Musiktheater zu revolutionieren – doch auch dieses Jahr finden ihre Guerilla-Aktionen eher im Kleinen stattvon Dorte Lena Eilers | Seite 72 |
Ein Stück KaumblauIn Yuval Sharons Inszenierung von Wagners „Lohengrin“ bei den Bayreuther Festspielen besticht vor allem das Bühnenbild von Neo Rauch und Rosa Loyvon Kerstin Decker | Seite 75 |
Kolumne | Seite 77 |
Waldgänger wie Jünger und wirFürchtet euch nicht: In Strausberg entsteht ein Theatervon Ralph Hammerthaler | |
Look Out | |
Mit WuchtDem Spiel der Freiburgerin Lena Drieschner wohnt eine derart hohe Energie inne, dass es einem den Atem nimmtvon Bodo Blitz | Seite 78 |
ScheißspielerinnenDie Schauspielerinnen Anne Haug und Melanie Schmidli befreien sich als Projekt Schooriil vom Chauvinismus des Theatersvon Anna Opel | Seite 79 |
Magazin | |
Buntes UtopiaDie Sommerszene Salzburg mischt weitgereiste Festival-Dauerbrenner mit kleinen Performances im Stadtraum und hat vor allem das lokale Publikum im Blickvon Sabine Leucht | Seite 85 |
Archipel PerformancekunstDas Performing Arts Festival der freien Szene in Berlin mausert sich zum Mega-Event aus Aufführungen, Netzwerktreffen und Stadterkundungenvon Tom Mustroph | Seite 86 |
Neues Narrativ für das freie ProduzierenBeim Festival Claiming Common Spaces im HAU – Hebbel am Ufer Berlin zieht das Bündnis der Internationalen Produktionshäuser eine positive Bilanzvon Tom Mustroph | Seite 87 |
Wiederbelebung einer antiken IdeeAm Hamburger Lichthof Theater formt sich mit „Staging Democracy“ ein Bürgertheaterprojekt zu einem demokratischen Bühnenexperimentvon Natalie Fingerhut | Seite 88 |
Geschichten vom Herrn H.Theater und Verbrechenvon Jakob Hayner | Seite 89 |
Wenn Menschen Geschichte schreiben„Die Rückkehr des Dionysos“ – Eine Hommage an den Regisseur Theodoros Terzopoulos in Delphivon Penelope Chatzidimitriou | Seite 90 |
Grüße aus KlaustrophobienDer diesjährige Marstallplan kooperiert mit der „Welt/Bühne“ und zeigt fünf Uraufführungen von Autoren aus fünf Kontinentenvon Sabine Leucht | Seite 91 |
Die neuen Freiheiten des PuppentheatersDas Symposium „Aufbruch II“ in Magdeburg zeigt, wie sich ostdeutsche Ensemblepuppentheater Räume für die künstlerische Forschung erkämpft habenvon Tom Mustroph | Seite 92 |
Der SchamaneWolfgang Utzt erhält den Ehrenpreis des Brandenburgischen Kunstpreises 2018von Gunnar Decker | Seite 93 |
Zeit der TintenfischePhilippe Parreno entwirft in seiner Ausstellung im Berliner Gropius Bau eine posthumane Zukunftvon Ute Müller-Tischler | Seite 94 |
Künstlerische Visionen für die UmweltMit dem Symposium „Kunst. Kultur. Nachhaltigkeit“ feiert die Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg ihr zehnjähriges Bestehenvon Elisabeth Maier | Seite 95 |
48 Stunden MenschenrechteIn Bautzen soll eine neue transkulturelle Bürgerbühne des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Einheimische und Geflüchtete zusammenbringenvon Michael Bartsch | Seite 96 |
Der Graf der WendejahreZum Gedenken an den Volksbühnenschauspieler und Interimsintendanten Winfried Wagnervon Thomas Irmer | Seite 97 |
Der Vermittler der DichterZur Erinnerung an den Slawisten, Essayisten und Übersetzer Fritz Mierauvon Wolfgang Storch | Seite 98 |
Vom Arbeiter bis zum BankerEin Nachruf auf Hilmar Hoffmann, dessen Konzept einer „Kultur für alle“ Angestellten und Arbeitern endlich die Chance gab, eine Ästhetik des Widerstands zu entwickelnvon Christoph Nix | Seite 100 |
Errettung der TraditionZum Tod des Philosophen und Herausgebers Rolf Tiedemannvon Jakob Hayner | Seite 101 |
Wurschtigkeit und DüsternisElfriede Jelinek: Eine Partie Dame. Hg. von Wolfgang Jacobsen und Helmut Wietz. Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 189 Seiten, 15 EUR.von Fritz Göttler | Seite 106 |
Kraft ohne MachtStefan Donath: Protestchöre. Zu einer neuen Ästhetik des Widerstands. transcript, Bielefeld 2018, 482 Seiten, 34,99 EUR.von Angelika Meyer-Speer | Seite 107 |
Meldungen | Seite 108 |
PremierenSeptember 2018 | Seite 110 |
TdZ on Tour | Seite 118 |
impressum/vorschauAutoren September 2018/Vorschau | Seite 119 |
Gespräch | Seite 120 |
Was macht das Theater, Christoph Marthaler?von Thomas Irmer und Christoph Marthaler |
Margarete Affenzeller
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