Jury-Preise der Hessischen Theatertage 2009 in Marburg

Die Jury der Hessischen Theatertage 2009, bestehend aus Kristina Stockmann, Kariona Kupka und Herbert Fuchs, vergab insgesamt vier Preise.

Der Preis für die beste Inszenierung in Höhe von 3.500 Euro wurde an die Inszenierung Die Bakchen des Euripides in der Regie von Gustav Rueb des Staatstheaters Kassel vergeben. Die Kasseler Inszenierung, in der Text, Bühnenbild und hervorragende Schauspielerleistungen eine große Wirkung entfalten, zeigt die verstörende Aktualität des fast 2500 Jahre alten antiken Dramas.

Anke Stedingk in der Rolle der Agaue in Die Bakchen wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet (3.500 Euro). Anke Stedingk überzeugte die Jury durch ihre intensive und differenzierte Darstellung der Mutter des Pentheus.

Der Preis (3.500 Euro) für die besten NachwuchsschauspielerInnen der diesjährigen Theatertage verleiht die Jury dem Ensemble des Stücks Ehrensache von Lutz Hübner in der Regie von Alexander Brill des Theaters Theaterperipherie, Frankfurt. Die LaiendarstellerInnen mit Migrationshintergrund beeindruckten durch ihre authentische und überaus engagierte Spielweise.

Der Sonderpreis (2.000 Euro) geht je zur Hälfte an zwei Produktionen: an Phantom Geschichte von Nicola Unger, eine Mousonturm-Produktion, und an german stage service für Ich weiß etwas von dir, was du nicht mehr weißt von Manuela Weichenrieder, Rolf Michenfelder und Marius Rosinski. Das Schattenspiel Phantom-Geschichte „erzählt“ die Geschichte des Terroristen Carlos und einer Frau, die ihm zufällig begegnet, in bezaubernd poetischen Bildern, unprätentiös, aber politisch deutlich. Ich weiß etwas von dir, was du nicht weißt lädt zu einem Gang durch die Gassen Marburgs ein, bei dem über einen MP3-Player die Geschichte einer verlorenen Liebe erzählt wird, die für den Hörer die Stadt verändert.

Der Sonderpreis geht je zur Hälfte an zwei Produktionen, die in wunderbarer Weise die Grenzen des herkömmlichen Theaters ausweiten und verändern: an Phantom Geschichte von Nicola Unger, eine Produktion des Mousonturms, und an german stage service für Ich weiß etwas von dir, was du nicht mehr weißt von Manuela Weichenrieder, Rolf Michenfelder und Marius Rosinski.

In der Theater-Performance Phantom-Geschichte wird aus kleinen Papp- und Blechfiguren, die zunächst wie wirr und ungeordnet auf einem Bühnentisch herumliegen, die Geschichte über den Terroristen Carlos. Schicksale verbinden sich, Politisches und das normale Leben verweben sich miteinander, die Explosion eines Hotels, die Carlos zu verantworten hat, mit Hunderten von Toten und das Schicksal der Palästinenser werden lebendig. Vor allem wird durch Carlos das Leben einer Frau bestimmt, die ihn zufällig auf einer Party trifft. – Das Schattenspiel erzählt von Politischem in einer märchenhaften und bezaubernd-poetischen Weise. Die Zuschauer erleben nicht nur das Schattenspiel selbst, sondern auch, indem sie der „Figurenlenkerin“ buchstäblich „über die Schulter“ blicken, seine kunstvolle Entstehung. Ein kleines intimes Theaterereignis, das sich unprätentiös gibt, aber in seiner poetischen Kraft und politischen Aussage nachwirkt.

Die „Theaterzuschauer“ werden bei der Produktion Ich weiß etwas von dir, was du nicht mehr weißt zu Zuhörern und Akteuren. Sie folgen einer Stimme, die zu ihnen über einen MP3-Player spricht und sie durch Straßen, über Plätze, durch einen Friedhof, über Treppen, durch einen Teil der Südstadt und der Oberstadt Marburgs führt, vorbei an prächtigen alten Häusern und verfallenen, leeren Gebäuden und Hallen. Es sind Stationen einer verlorenen Liebe, die in Steinplatten, Mauerritzen und vielen anderen Dingen noch einmal, vergeblich allerdings, beschworen wird. Die Dinge, sonst hundertmal gesehen und übersehen, werden zu Zeichen der intimen Nähe zweier Menschen, die einmal geglaubt haben, ihre Gefühle könnten „ewig“ währen. Der „Hör-Gang“ durch die Stadt vermittelt das Gefühl, dort zu sein, wo man sonst auch oft ist, und gleichzeitig woanders zu sein, in die Erlebnisse eines anderen einzutauchen. Realität und Träume, Theater und Wirklichkeit vermengen sich und ermöglichen ganz eigene Erfahrungen und schaffen neue Räume.

Den Preis für die besten NachwuchsschauspielerInnen möchte die Jury den DarstellerInnen der Theaterperipherie Frankfurt für ihre Inszenierung des Stückes ,,Ehrensache“ von Lutz Hübner unter der Regie von Alexander Brill verleihen. Diese sind: Anja Arncken, Arasch Farugie, Deniz Kezer und Hadi Khanjanpour

Das Stück, das den gesellschaftlich brisanten Stoff eines Ehrenmordes unter die Haut gehend zeigt, überzeugt insbesondere  durch die authentische, überaus engagierte und differenzierte Spielweise der LaiendarstellerInnen mit Migrationshintergrund.

Es gelingt den SchauspielerInnen die Widersprüchlichkeit ihrer Gefühlswelt, die zwischen Ausbruch aus konformen Rollenzwängen und ihrem darin Verhaftetbleiben oszilliert, dem Publikum ergreifend vor Augen zu führen. Plausibel nachvollziehbar werden die herkunftsbedingten Zwänge, die - psychologisch fundiert vermittelt - über Provokationen des eigenen ,,Ehrbegriffs“ bei den jungen Männern eine Eskalation von Gewalt auslösen und allen Beteiligten zum Verhängnis werden. Die Darsteller-Innen von Sina, Cem, Ellena und Ulli verleihen ihren Figuren Kraft und agieren bisweilen so authentisch, dass man vergisst, dass es SchauspielerInnen sind. Sie ermöglichen einen Blick in die Gefühlswelt der jungen MigrantInnen und der inneren Bedrängnis, der sie letztlich auch als Opfer durch den Rollenkonformismus ihrer Herkunft ausgeliefert sind.

Die Spielweise der DarstellerInnen ermöglicht ein dichtes, intensives Theater-erlebnis, das die ZuschauerInnen betroffen und nachdenklich entlässt.
Der Preis für die beste schauspielerische Leistung der diesjährigen Hessischen Theatertage geht an Anke Stedingk in ihrer Rolle der Agaue in der Produktion Bakchen von Euripides des Staatstheaters Kassel.

Anke Stedingk als Mutter des Pentheus tritt zunächst mit unmotiviert anmutenden Tanzeinlagen in Erscheinung. „Als Frau, die auf Partys immer alleine tanzt“, wird sie in einer Theaterkritik trefflich umschrieben. Erst Dionysos holt sie aus der Versenkung, zerrt sie gleichsam ans Licht, als er sie zum Vehikel seiner Rache macht.

Jetzt entwickelt Anke Stedingk ihre gesamte Spielkraft. Sie spielt die Wilde, die Orgiastische, die „Zerfleischerin“, aber auch die grenzenlos Naive derart intensiv, dass man als Zuschauer geneigt ist, ihr zuzurufen, dass sie einem grausamen Irrtum aufgesessen ist und statt eines Löwen ihren Sohn erlegt hat.

Aber auch den quälenden Moment der Erkenntnis weiß Anke Stedingk eindringlich zu vermitteln, als sie am Ende in all ihrem Elend als Jammerbündel auf der Bühne steht.

Der Preis für die beste Inszenierung der Hessischen Theatertage 2009 geht an
"Die Bakchen" von Euripides  in der Regie von Gustav Rueb am Staatstheater Kassel. In der Aufführung verbinden sich in eindrucksvoller Weise Bilder, wahre „Blutbilder“, die zu einer fremden, bedrohlichen archaischen Welt gehören, mit Bildern aus unserer Zeit der fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Das Archaische in Gestalt des Dionysos und seiner Bakchen bricht in die moderne Welt aus Langeweile, Biederkeit und schäbiger Gewöhnlichkeit mit einer alles sprengenden Urkraft herein, verändert alle und alles und lässt am Ende gebrochene Menschen zurück. Dionysos erscheint wie ein Heilsbringer, wird aber bald zu etwas allzu Gefährlichem: Er bringt wilde, ekstatische Lust, dann Gewalt und Zerfleischung, dann auf Seiten der Bakchen erschreckendes Erkennen dessen, was mit Pentheus, aber auch mit ihnen selbst geschehen ist, und zuletzt tiefe Verzweiflung über ihre tragische Verblendung und den Verlust des Glücks auf immer. Aus dem Kneipenraum, der am Anfang in großer Intensität das Warten auf den rauschhaften „Kick“ symbolisiert, wird mehr und mehr der mit Blut besudelte, mit Unrat, Geröll und Mobiliar vollgestellte Raum einer unfassbaren Gewaltorgie und eines Schlachtfelds.

Die Kasseler Inszenierung, in der Text, Bühnenbild und hervorragende Schauspielerleistungen eine große Wirkung entfalten, zeigt die verstörende Aktualität des fast 2500 Jahre alten antiken Dramas.

Weitere Informationen: www.theater-marburg.com

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