Castorfs Bermudadreieck

von

Foto. David Baltzer
Foto. David Baltzer

Liebe Leser, der folgende Text besteht aus Notizen zu Arbeiten Frank Castorfs. Er ist weder abgeschlossen noch strebt er Konsistenz an. Ein gedanklicher Zusammenhang stellt sich möglicherweise durch Ihr Lesen her.

In Frank Castorfs Theater ist die Körperlichkeit der Schauspieler der gesamten Versprachlichung gegenläufig. Indem Castorf den Schauspieler an seine körperlichen Grenzen treibt, produziert er eine Bedeutung, die die Derrida’sche theologische Bühne mit ihrer Annahme von einem gottgleichen Autor untergräbt. Dieser große Kraftaufwand, die körperliche Präsenz zu erhöhen, scheint in Bezug zu Castorfs akribischem Interesse an Literatur paradox. Doch das ist es eigentlich nicht. Indem Castorf die verbale und körperliche Präsenz des Schauspielers einander gegenüberstellt – Bedeutungen und sich widersetzende Körper –, verdrängt er Konflikte aus dem Bereich der fiktiven Welt, aus deren Charakteren und der an ihnen hängenden Handlung. Um es mit den Worten Hans-Thies Lehmanns zu sagen: „Das zentrale Theaterzeichen, der Körper des Schauspielers, verweigert den Signifikantendienst.“1

Ein weiteres charakteristisches Merkmal von Castorfs Theater ist der umfassende Einsatz von Vermittlungstechniken. In seinen Inszenierungen wird hauptsächlich live auf der Bühne gespielt, das Spiel wird jedoch gleichzeitig gefilmt und für das Publikum projiziert. Wenngleich mediatisierte Performances in diesem Zusammenhang verschiedene dramaturgische Funktionen haben können, wird doch immer die Frage nach der Beziehung zwischen live und aufgezeichnet gestellt. Steve Wurtzler schreibt dazu: „Als sozial und historisch erzeugt, stehen die beiden Kategorien von ‚live‘ und ‚auf -gezeichnet‘ in einer besonderen wechselseitigen Beziehung zueinander. Die Vorstellung von ‚live‘ basiert auf der Abwesenheit der Aufnahme, die Aufnahme hingegen ist durch das Fehlen von ‚live‘ definiert“.2

Castorf benutzt Videos nicht, um eine Ontologie des Live-Begriffs durch eine gegenseitige Ausgrenzung zu begründen. Seine radikale Frage nach der „Liveness“, um den Titel des Buches von Philip Auslander zu zitieren, dient nicht der konzeptuellen Rekonstruktion des verlorenen Wesens des Theaters. Castorf ist bewusst, „dass die Beziehung zwischen live und mediatisiert auf kultur-ökonomischer Ebene in einem konkurrierenden Widerspruch steht“. Aber er sieht diesen Widerspruch „nicht von den intrinsischen Charakteristika abgeleitet, sondern vielmehr von kulturellen und historischen Zufälligkeiten bestimmt“.3 Castorfs Arbeit repräsentiert, auf dieser Ebene, die Emanzipation des Theaters vom Primat der Live-Performance und dem dazugehörigen Authentizitätsdiskurs.

Beginnend mit dem Schauspielkörper, der sich von dem Text und dessen Repräsentationsregime abwendet, kreiert Castorf seine Antithese, indem er die Ideologie von Körpern im Theater und dessen falsches Versprechen einer Rückkehr ins prä-repräsentative Paradies befragt. Sogar in den radikalsten Beispielen der Performance-Kunst ist der Körper nie unabhängig von kultureller, politischer oder ökonomischer Kodierung. Die Materialität des Körpers erreicht nie die völlige Hegemonie gegenüber der Semiotik.

Indem Castorf seine Theaterarbeit massiv über Medien vermittelt, sucht er nach dem, was Steven Shaviro als postcinematic affect bezeichnet. Shaviro sagt: „Mitte des 20. Jahrhunderts gab der Film die ‚kulturelle Dominanz‘ bereits an das Fernsehen ab, welches wiederum den computer- und netzwerkbasierten, digitalen ‚Neuen Medien‘ in den letzten Jahren weichen musste.“4 Man kann also sagen, mutatis mutandis, dass das Theater seit der Erfindung des Films begonnen hat, seine kulturelle Dominanz an andere, neuere Medien abzugeben. Um es noch einmal mit Shaviro zu sagen, haben „digitale Technologien, zusammen mit neoliberal-ökonomischen Beziehungen, neue, radikale Wege in der Herstellung und Artikulierung von Live-Erfahrungen geschaffen.“5 Castorfs Arbeit kann als ein weiterer Beitrag dazu gesehen werden.

Eine weitere wichtige Abgrenzung, die Shaviro hinsichtlich des post-cinematic affect beschreibt und die man auf Castorfs Arbeiten anwenden kann, ist das Unterscheiden von Emotionen und Affekten. Eine derartige Abgrenzung sollte beim nochmaligen Lesen und Überprüfen der wichtigsten Theatertheorien in Relation zur neoliberalen Produktion von Affekten und deren verschiedenen Folgen nützlich sein. Auf den Gesellschaftstheoretiker Brian Massumi Bezug nehmend sagt Shaviro, dass „Affekte primär, unbewusst, asubjektiv oder präsubjektiv, ungerichtet, unbestimmt und intensiv sind. Hingegen ist die Emotion ein Affekt, der von einem Subjekt erfasst oder gebändigt und soweit reduziert wird, dass er dem Subjekt entspricht.“6

Die differentia specifica von Affekten im Vergleich zu Emotionen ist die Unmöglichkeit, Affekte auf „irgendeine Art von Repräsentation zu reduzieren“.7 In Verbindung setzen kann man dies zu Derridas Schriften über Artaud, der schreibt: „Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist. Das Leben ist der nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation.“8 Beim Hervorbringen eines theatralen Dreiecks, dessen Eckpunkte Überverbalisierung, ausgestellte Körperlichkeit des Schauspielers und die mediatisierte Performance sind, tendiert Castorf in seinen Aufführungen zum Herausstreichen der Repräsentation zugunsten der Aufführung. Mit verschiedenen Darstellungen und auf unterschiedlichen Ebenen von Repräsentation begibt er sich auf die Suche nach dem, was sich jenseits von ihr befindet und wirkt so der Vorstellung von Theater als Repräsentation des Lebens entgegen – Heimat aller Realitäten.

Castorfs häufige Verwendung von Videos kann nicht unabhängig von der Arbeit eines Vorgängers an der Volksbühne gesehen werden, Erwin Piscator. Als Pionier in diesem Bereich bezeichnet, hat Piscator eine Basis geschaffen, um weitere konzeptuelle Untersuchungen der Beziehung von Theater und anderen Medien durchführen zu können. Während Castorfs Verwendung von medialer Performance als Herausforderung der körperlichen Präsenz des Schauspielers dient, war die Verwendung von Film bei Piscator ein Instrument der Episierung von Theater. Nichtsdestotrotz sollte das Potenzial der verschiedenen meta-theatralen Verbindungen zwischen beiden nicht übersehen werden, wenn man das Produzieren neuer Bedeutungen bedenkt.

Aus dem Englischen von Ida Steffen.

1 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main 2011, S. 163.
2 Steve Wurtzler: „She Sang Live, But The Microphone Was Turned Off: The Live, the Recorded and the Subject of Representation“, in: Rick Altman (Hg.): Sound Theory, Sound Practice. New York u. London 1992, S. 89. Aus dem Englischen von Ida Steffen.
3 Philip Auslander: Liveness: Performance in a Mediatized Culture. New York u. London 1999, S. 11. Aus dem Englischen von Ida Steffen.
4 Steven Shaviro: Post-Cinematic Affect. Winchester [u.a.] 2010. Aus dem Englischen von Ida Steffen.
5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd.
8 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1994, S. 353.

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