Recherchen 37
Das Analoge sträubt sich gegen das Digitale?
Materialitäten des deutschen Theaters in einer Welt des Virtuellen
Herausgegeben von David Barnett, Karen Jürs-Munby und Moray McGowan
Paperback mit 160 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-93434481-5
»Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte«: Brecht reichte die Theaterästhetik des 19. Jahrhunderts nicht mehr aus, den materiellen und technischen Realitäten des 20. Jahrhunderts beizukommen. Daher seine Suche nach einem Theater des Materiellen, ja des wissenschaftlichen Zeitalters. Wie steht es in der heutigen Welt, in der das Digitale und das Virtuelle immer beharrlicher das Analoge und das Materielle an den Rand zu drängen scheinen? Ist Brechts Theater, ja das Theater überhaupt, ästhetisch überholt und entbehrlich geworden? Oder wurde es zur Rückgewinnung seines Potenzials provoziert? Laut Heiner Müller ist das Theater »Steinzeit«, seine Anachronizität sein Vorteil und seine Überlebenschance: Sträubt sich also das Analoge gegen das Digitale?
Dieser Frage nähern sich in einem breiten Spektrum von Werken und Inszenierungen des deutschsprachigen Gegenwartstheaters die in diesem Band versammelten Essays.
>Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte
Doch diese Neubesinnung liegt nun schon gut ein Dreivierteljahrhundert zurück; seitdem haben wir so paradigmatische Infragestellungen des Materiellen wie die Internetkommunikation, die Genmanipulation, den Dotcom-Boom (und seinen Zusammenbruch) erlebt. Ist somit das innovative Theater Brechts durch die allgegenwärtige Erfahrung des Virtuellen ästhetisch überholt und entbehrlich gemacht worden? Ist das Theater an sich durch die unübersehbare Quantität und Vielfalt der Medienalternativen ins Abseits gedrängt worden? Oder haben diese Entwicklungen vielmehr zur Redefinierung des Potenzials von Theater geführt? Welche Konsequenzen hat die radikal veränderte und sich stets weiterverändernde technologische, gesellschaftliche und mentale Umwelt des 21. Jahrhunderts für die ästhetischen Formen des Theaters? Bietet das Theater adäquate Mittel, um der ästhetischen und technischen Herausforderung gewachsen zu sein, die in der Darstellung des Undarstellbaren liegt, im Erfahrbarmachen des Unsichtbaren, Virtuellen oder Abwesenden? Befindet sich das dramatische Theater aller voreiligen Verkündungen seines Ablebens zum Trotz vielleicht doch weiterhin in der Lage, die Welt darzustellen, da es bei der theatralischen Repräsentation immer schon auch um das abwesende >Reale< ging? Oder bieten eher postdramatische Texte und Inszenierungsformen die adäquaten Möglichkeiten, die Manifestationen und Auswirkungen des Virtuellen theatralisch zu erfassen? Was ist der Zusammenhang zwischen dem Nichterfassbaren der Erfahrung im 21. Jahrhundert und dem Erhabenen und Numinosen, mit der sich ästhetische Praxis und Theorie auch in vergangenen Epochen befasst hat?
Laut Heiner Müller ist das Theater »Steinzeit«2 und darf seinen Stoff und Inhalt einer anderen Erfahrung der Zeit gegenüberstellen, um Einsichten in die neuen Verhältnisse von Raum und Zeit zu gewinnen. Das Theater mag also seine zeitlichen Grenzen zum Vorteil nutzen.
Andere Theatermacher eignen sich die Innovationen neuerer Medien an, um der Gegenwart gerecht zu werden, indem schnelle filmische Schnitte und digitale Technologien verwendet werden. Die Formen der Performance Art und Aktionskunst werden auch in Anspruch genommen. Die Essays dieses Bandes setzen sich mit den aktuellen Problemen der Darstellung und ihrer Verweigerung auseinander und ergeben ein kaleidoskopisches und widersprüchliches Panorama, das die Vielfalt der Institution »Theater« im deutschsprachigen Raum reich beschreibt und analysiert.
Unsere im September 2005 in Dublin veranstaltete Tagung strebte an, anhand der von den Beitragenden ausgewählten Beispiele den Zusammenhang zwischen einer der ältesten Formen der ästhetischen Praxis einerseits und einer globalisierten Welt andererseits zu befragen - einer Welt, welche die Formen, in denen sie sich manifestiert, in immer kürzeren Abständen zu überholen scheint. Hauptgegenstand unserer Untersuchungen und Fragestellungen waren dabei die ästhetischen Strategien, mit denen Autoren und Theatermacher im deutschsprachigen Raum diese Wirklichkeiten konfrontieren. Die hier versammelten Aufsätze sind nach der Tagung und ihren intensiven kritischen Diskussionen im Sinne unserer Fragestellung überarbeitet worden. Wir verstehen diesen Band als Beitrag zum Verständnis des deutschsprachigen Gegenwartstheaters in seinen kritischen Auseinandersetzungen mit den hier angesprochenen gesellschaftlich-technisch-mentalen Entwicklungen.
David Barnett Moray McGowan Karen Jürs-Munby
1 Brecht, Bertolt: »Über Stoffe und Form«, in: ders.: Werke, Bd. 21, Schriften 1, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Berlin; Frankfurt/M. 1992, S. 302-304; hier S. 303.
2 Zit. nach Schläpfer, Franziska: »Kulturfrau Jana Caniga, bitte zuhören!«, in: Tages-Anzeiger, 5. Mai 1999.
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»Don't know what I want, but I know how to get it«Falk Richter bei MTV, René Pollesch im Chatvon Christian Schlösser | Seite 8 |
Kunst in der Suppenküche des Kapitals:Pollesch@Pratervon Katrin Sieg | Seite 21 |
Was wir vom Neoliberalismus lernen könnenMatthias von Hartz' postdramatische Theaterformate zur Globalisierungvon Klaus Wannemacher | Seite 33 |
»Der letzte Ort für Metaphysik«?Das Theater von Werner Fritschvon Sinéad Crowe | Seite 46 |
BühnenbusinessMensch, Markt und Management in drei neueren deutschen Theaterstückenvon David Barnett | Seite 56 |
Von Webern und GurkenfliegernChorische Dramaturgien von Arbeit und Arbeitslosigkeitvon Moray McGowan | Seite 71 |
»Ich möchte seicht sein«Elfriede Jelineks postdramatisches Schauspielmodel(l) als Ideologiekritik und Medienstörungvon Karen Jürs-Munby | Seite 86 |
Im Netz der MoralMonologe, Massenmedien und Mythologie in Elfriede Jelineks Babelvon Allyson Fiddler | Seite 101 |
Ethik und AusnahmeMachtspiele in Marlene Streeruwitz' Theatertexten am Beispiel von Waikiki Beachvon Gillian Pye | Seite 113 |
Unbestimmtheit als MethodeDie endlosen Stücke von Martin Heckmannsvon Jerome Carroll | Seite 128 |
Heiner Goebbels: Zur Dramaturgie des Samplingsvon Christopher Balme | Seite 142 |
Autorinnen und Autoren | Seite 154 |
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