Recherchen 130
Das transkulturelle Theater
von Günther Heeg
Paperback mit 190 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-078-0
Das transkulturelle Theater ist an der Zeit. In einer historischen Konstellation, in der fundamentalistische Bewegungen weltweit Fremdenangst und Fremdenhass ausagieren, ist das transkulturelle Theater ein entscheidendes Medium der Hinwendung zum Fremden. Es ist das Produkt einer Forschungsperspektive, die es erlaubt, historisch und räumlich unterschiedliche Praktiken von Theater im Licht einer künftigen transkulturellen Gemeinschaft zu sehen. Der Forschungsperspektive inhärent ist ein Erkenntnisinteresse, das das Singuläre von Theater-Praktiken und Darstellungsformen wie Geste, Szene, Medium und Transmedialität, Verkleidung und Maskierung ins Auge fasst und exponiert. Günther Heeg entfaltet die Idee des transkulturellen Theaters, entwirft seinen Welt-Raum und untersucht an zahlreichen Inszenierungen und Aufführungen seine Praxis im Wechselspiel von Theatererfahrung und theoretischer Reflexion.
Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr.
Dieser Punkt ist zu erreichen.
Kafka1
Hic sunt leones2
Acht Vasen stehen in einer freien Anordnung auf dem Boden. Sie gleichen Urnen mit bauchiger, scharfkantiger Mitte. Keine ist wie die andere, jede strahlt in einem anderen Farbton: Dunkelrot, Silber, Blau, Tiefgrün oder Schwarz. Die Vasen stammen aus der Han-Dynastie (202 v. Chr. bis 220 n. Chr.). Sie leuchten wie neu. Das kommt von einem metallisch glänzenden Autolack, mit dem sie überzogen sind. Die Installation Han-Dynastie-Vasen mit Autolack war 2014 im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen. Ai Weiwei hat aus den Standardfarbpaletten von Mercedes-Benz und BMW die beliebtesten Autofarben in China herausgesucht und damit die antiken Vasen so lackiert, dass unter der glatten, hauchdünnen Farbschicht von heute die alte Textur der zweitausend Jahre alten Gefäße und ihr Farbschimmer sichtbar bleiben. Die Gegenwart des globalisierten kapitalistischen Konsumverhaltens und die jahrtausendealte kulturelle Vergangenheit Chinas zeichnen sich im Überzug von Lack und Keramik als Zeit-Schichten ab. Geschichte und Gegenwart sind in den Gefäßen ungleichzeitig-gleichzeitig präsent. Keines genießt dabei einen Vorrang, keines wird zum Maßstab des anderen. Weder beklagen die Vasen aus der Han-Zeit in kulturpessimistischer Manier die leere Oberflächlichkeit jetziger Zeiten noch feiert die makellos glänzende Oberfläche heutiger Luxusgefährte einen Triumph über die anachronistischen Kulturgüter. Stattdessen bilden die Zeit-Schichten Umschriften voneinander. Die Durchdringung des Eigenraums der chinesischen Geschichte und Kultur durch die vor keinem kulturellen Reservat Halt machende ökonomische Globalisierung steht ebenso quer zu den Fragen nach der Rettung der Vergangenheit wie nach der Notwendigkeit der Abnabelung und Trennung von ihr. Der Verweis auf das Recycling des Alten in weltweit standardisierten Designerprozessen wird konterkariert durch die ausdrückliche Schönheit des Widerstandes gegen diese Abläufe, die von den Vasen ausstrahlt.
In den Han-Dynastie-Vasen mit Autolack verbindet sich die alle kulturellen Grenzen überschreitende Erfahrung der Globalisierung mit dem Rückgriff auf Artefakte der chinesischen Kulturgeschichte. Darin zeichnet sich eine Entwicklung ab, die für die Idee einer Transkulturellen Theaterpraxis charakteristisch ist. Künstler aus unterschiedlichen Teilen der Welt antworten in ähnlicher Weise auf die Erfahrung, dass die globale Akkumulation des Kapitals sowie die Digitalisierung und Rationalisierung von allen historisch gewachsenen Lebenswelten abstrahiert und diese sogar zum Verschwinden bringt. Die „Furie des Verschwindens“3 ruiniert den Bestand an Tradition. Bereits der Begriff des kulturellen Erbes zeigt an, dass eine einstmals verbindende kulturelle Praxis zum Besitz geworden und verdinglicht ist.4 In dieser Situation wenden sich gegenwärtig Theatermacher und andere Künstler5 in aller Welt den Überresten ihrer jeweiligen kulturellen Traditionen zu. Nicht um sie wieder zum Ganzen einer Nationalkultur zusammenzufügen, sondern um die Einzelteile auf ihre Verwendbarkeit in einer veränderten, werdenden Welt zu prüfen. Das setzt eine Stellung gegenüber der eigenen kulturellen Vergangenheit voraus, die sich sowohl durch Abstand wie auch durch Zuwendung auszeichnet. In dieser Stellung bringen sie die Bruchstücke der kulturellen Traditionen in eine Konstellation mit der Gegenwart, um durch diese Wieder-Holung der Vergangenheit Zukunft zu gewinnen.6
Es ist bezeichnend für Ai Weiwei, dass er durchweg mit historischen Gebrauchsgegenständen und Artefakten, Formen und Materialien arbeitet. Ai Weiwei war vor seiner eigenen künstlerischen Karriere Sammler und Kunsthändler, aber er blickt nicht nostalgisch auf das Vergangene zurück. Sein buchstäblich gebrochenes Verhältnis zur Tradition der „eigenen Kultur“ zeigt sich in einer anderen Kunstaktion, Han-Vases Dropping, die ihn zeigt, während er die wertvollen Vasen zu Boden fallen lässt, so dass sie zerbrechen. Ai Weiwei interessiert das wiederholte Auftauchen von Materialien, Stoffen, Bruchstücken und Überresten der Vergangenheit in der Gegenwart. Ihn interessiert ihr Einstand und ihr „Eingedenken“7 in der Jetztzeit, der das Immergleiche und So-und-nicht-Anders der Gegenwart unterbricht und den Kreis der vermeintlich eigenen Kultur überschreitet.
Die Möglichkeit zu Unterbrechung und Überschreitung entspringt der Theater-Erfahrung, die Ai Weiweis Han-Dynastie-Vasen mit Autolack ausstrahlen. An Lack und Vase lässt sich die Erfahrung einer Verkleidung machen, von der sich nicht sagen lässt, was Kostüm und was Kern, was Essenz und was bloße Erscheinung ist. Hat sich das Gefäß, das Jahrtausende überdauerte, ein modisches Outfit zugelegt oder hat die warenförmige Welt-Essenz der Autolacke auf einen zufälligen Körper zugegriffen? Lack wie Vase sind einer des/der anderen Verkleidung und Maske – und kein Kern, kein Eigentliches lässt sich an diesem Double ausmachen. Das irritiert die Wahrnehmung und verstört den Betrachter. Die Irritation, dass sich unter Kostüm und Maske nichts verbirgt, was Bestand hat, macht Theater-Erfahrung aus. Sie äußert sich nicht als Störung durch ein Objekt außerhalb. Die Erfahrungsstörung unterbricht den Welt-Bezug des Betrachters. Sie setzt Alltagsroutinen des Wahrnehmens und Urteilens außer Kraft. Gerade aber durch die Aussetzung der alltagsweltlichen Orientierung wird es möglich, die Grenzen der gewohnten Welt-Sicht zu überschreiten und bislang Unsichtbares und Unerhörtes wahrzunehmen. Theater-Erfahrung impliziert die Überschreitung der selbstverständlich gewordenen eigenen Lebenswelt auf eine mögliche andere hin.
In der Wiederholung der Vergangenheit und der Theater-Erfahrung der Wiederholung als Theater gleichen sich – bei allen Unterschieden der künstlerischen Verfahren im Einzelnen – die Arbeiten von Ai Weiwei, Masataka Matsuda, Frank Castorf, des Nature Theater of Oklahoma, von Toshiki Okada und Chelfitsch, von Chiten, Laurent Chétouane, von Bertolt Brecht, Heiner Müller, Elfriede Jelinek und vielen anderen. Es ist nicht ihr Ziel zu restaurieren, sondern die Überschreitung der kulturellen Eigenräume hin zu einer transkulturellen Gemeinschaft. Dabei werden die Überreste der Vergangenheit zu Sprengkapseln an den Mausoleen der Nationalkulturen und zu Überlebensmitteln in den leeren Räumen einer globalisierten Gegenwart.
Voraussetzung dafür ist es, Abstand zur vermeintlich eigenen kulturellen Tradition zu nehmen. Dazu braucht es den fremden Blick von außen, auch wenn er von innen erfolgt. Die Karriere des 1957 geborenen Ai Weiwei ist beispielhaft für die Aneignung des fremden Blicks auf die kulturelle Umgebung, in der man aufgewachsen ist. Nach dem Studium an der Filmakademie in Peking ging Ai Weiwei 1981 nach New York City. Dort war er mit der westlichen Spielart der Moderne von Marcel Duchamp bis zur Performancekunst konfrontiert. Aber er hat in der westlichen Kunst keine zweite Heimat gefunden, von deren sicherem Boden er auf die Kultur Chinas hätte blicken können. Erfahren hat er in New York City nur das eigentümliche Verhältnis von Diskontinuität und Kontinuität, das jedwede Moderne auszeichnet: den radikalen Bruch mit allem Vergangenen bei gleichzeitiger Berufung auf bestimmte überkommene historische Formen und Praktiken. Das bedeutet, zugleich außerhalb und innerhalb überkommener kultureller Lebenswelten zu stehen und daher immer fremd zu sein. Mit dieser Erfahrung kehrt Ai Weiwei 1993 (aus privaten Gründen) nach China zurück. Sie wird zur Grunderfahrung, die singulär, aber zugleich paradigmatisch für die Stellung von zeitgenössischen Künstlern zur Tradition ist, und zum Antrieb seiner Arbeit.
Ai Weiweis Kunst-Stücke sind Fremdkörper. Rätselhaft strahlen uns die glänzenden Vasen mit ihrer antiken Textur an und treffen uns mit emotionaler Wucht. Woher kommt diese affektive Stärke? Die Han-Vasen sind ihrem kulturellen Ursprung und Umfeld entrissen. Funktionslos im leeren Raum stehend, umgibt sie Trennungsenergie: Energie, die dem Ent-Setzen entstammt, aber transformiert ist in die Kraft, mit der sich die obsoleten Artefakte in ungewohntem Gewand der ungewohnten Umgebung aussetzen und sich in ihr erhalten und behaupten. Die Han-Vasen mit Autolack zeugen vom Überleben als Fremde in der Fremde. Es sind affektgeladene, steingewordene Gesten einer transkulturellen Überschreitung. Sie warten auf eine Antwort.
Ai Weiweis Vasen bieten in nuce das Schauspiel eines Transkulturellen Theaters. Marginal und unbedeutend auf den ersten Blick wie die Han-Vasen angesichts der Gewalt der weltpolitischen Ereignisse ist das Transkulturelle Theater dennoch und deswegen das privilegierte Medium einer anderen Welt-Erfahrung als der alltäglich gemachten. In einer Welt, die im Werden ist, ist das Transkulturelle Theater ein Katalysator der Weltwerdung. Das zu zeigen, ist die Aufgabe dieses Buchs.
1 Kafka, Franz: „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“, in: ders.: Beim Bau der Chinesischen Mauer. Prosa und Betrachtungen aus dem Nachlaß, Leipzig/Weimar 1982, S. 154.
2 Auf alten Landkarten im Sinne von terra incognita oder nullius terra.
3 Hegel, Georg W. F.: [Phänomenologie des Geistes], in: ders.: Werke 3, hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986, S. 436; Marx, Karl/Engels, Friedrich: Das kommunistische Manifest, Jubiläumsausg. mit einem Vorw. v. Léon Blum, Singen 1948.
4 Siehe zu dem Begriff „Klassiker als Besitz“ Herbert Jhering in Brecht, Bertolt: [Gespräch über Klassiker], in: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei u. Klaus-Detlef Müller, Berlin u. Frankfurt am Main 1992, S. 309–315 (im Folgenden mit Sigle GBA angegeben).
5 Performative und andere Künste wie Malerei, Musik, Literatur etc. werden hier unter dem Gesichtspunkt betrachtet, ob und inwieweit ihnen eine gemeinsame Theatralität inhärent ist. Sie sind für die Untersuchung von Interesse, insofern an ihnen Praktiken der Wiederholung, eine exponierte Interaktion mit den Zuschauern/Zuhörern/Betrachtern sowie ein gestischer Charakter der Darstellung ablesbar sind.
6 Siehe Kierkegaard, Søren: [Die Wiederholung], in: ders.: Werke II, aus dem Dänischen von Liselotte Richter, Reinbek 1961, S. 5–83. Die Wiederholung ist ein Erinnern nach vorwärts.
7 Benjamin, Walter: [Über den Begriff der Geschichte], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 704.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Einleitungvon Günther Heeg | Seite 7 |
Idee des transkulturellen Theaters | |
I. Theater im Werdenvon Günther Heeg | Seite 14 |
II. Aktualität des Transkulturellen Theatersvon Günther Heeg | Seite 23 |
III. Theatrale Einbildungenvon Günther Heeg | Seite 26 |
IV. Die Fremde als Ort des Transkulturellen Theatersvon Günther Heeg | Seite 34 |
V. Transit-Existenzvon Günther Heeg | Seite 57 |
Welt-Raum des transkulturellen Theaters | |
I. Theater der Weltwerdungvon Günther Heeg | Seite 82 |
II. Ptolemäisches Welttheatervon Günther Heeg | Seite 87 |
III. Theater der Welt-Erfahrungvon Günther Heeg | Seite 91 |
Praxis des transkulturellen Theaters | |
I. Die Wendung zur Geschichtevon Günther Heeg | Seite 112 |
II. Aufstieg und Fall des Phantasmas der Nationalkulturvon Günther Heeg | Seite 115 |
III. Die Wiederholung als Aktionsform des Transkulturellen Theatersvon Günther Heeg | Seite 129 |
IV. Revolution in der Karibik. Die Praxis transkultureller Flexionenvon Günther Heeg | Seite 139 |
V. Die Geste als Akteur des Transkulturellen Theatersvon Günther Heeg | Seite 149 |
VI. Das Transkulturelle Theater als Kraftwerk der Gefühlevon Günther Heeg | Seite 167 |
Danksagungvon Günther Heeg | Seite 186 |
Der Autor | Seite 187 |
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Günther Heeg
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Eröffnung der Ringvorlesung
Bibliographie
Beiträge von Günther Heeg finden Sie in folgenden Publikationen:
Recherchen 161
Günther Heeg
Fremde Leidenschaften Oper
Das Theater der Wiederholung I
Heft 12/2018
Feier des Absurden
Nürnbergs neuer Schauspielchef Jan Philipp Gloger
Recherchen 136
Recycling Brecht
Materialwert, Nachleben, Überleben
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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