Asyl als Übergang

Transiträume in der griechischen Tragödie

von

V. Flucht und Szene

Die Momente von Flucht und Transit wurden im Vorangehenden vor allem in zweierlei Hinsicht in den Blick genommen: Zum einen korrespondieren sie mit anderen Aspekten der Liminalität und des Übergangs, wie der Jungfräulichkeit, der Trauer oder dem Tod. Das Ritual der Hikesie, das das Auf-der-Flucht-Sein fortsetzt und ausstellt, dient hier in einer existenziellen Weise als Rahmung einer Situation des Prekären, des In-Between. Zum anderen erfordern und akzentuieren Flucht und Transit eine bestimmte Intensität des Sprechens, mit der die fliehenden Protagonisten ihren Fall vorbringen und ihr Leben zu erhalten suchen. Dieses Sprechen der Hikesie, der Flüchtenden arbeitet dem Pathos-Regime der Gattung Tragödie zu, es ist ein Sprechen, das insbesondere die beiden von Aristoteles ins Zentrum der tragischen Affektlehre gestellten Emotionen, phobos und eleos, Furcht und Mitleid (bzw. Jammer) aufruft.44 Die Hikesie inszeniert und provoziert zudem – und dieser dritte Aspekt wurde hier weniger ausführlich behandelt – Entscheidungsszenen und gibt daher Anlass, erneut darüber nachzudenken, welche (auch politischen) Handlungsmodelle die Tragödie entwirft und reflektiert. Entscheidung wird in der Hikesie-Situation zum Problem, Ansprüche – die des Fliehenden und die des Verfolgers – müssen geklärt werden, die Durchlässigkeit des eigenen Systems, die Offenheit für Fremde steht auf dem Spiel.45 In den Hiketiden des Aischylos ist es Pelasgos, der erpresst wird, bevor er den Fall an die Volksversammlung delegiert; in den Hiketiden des Euripides muss Theseus erst überredet werden, sich der trauernden Frauen, die seine Ordnung stören, anzunehmen; in Euripides’ Herakliden geschieht die Aufnahme um einen hohen Preis: das Opfer einer der schutzflehenden Herakles-Töchter.

Mit dem Titel dieses Sammelbandes und der gleichnamigen Tagung im Sommer 2016 in Konstanz weisen die Herausgeberinnen auf eine Analogie zwischen dem Fliehen und dem Szenischen des Dramas hin, die dieser Beitrag im Aspekt des Transits, des Übergangs auszuloten versucht hat. Als Moment des Zwischen, als immer wieder neu, durch Auftritte und Abgänge sich konstituierende Form, scheint die Szene besonders geeignet, den Status des Fliehenden, des Schutzlosen, des Asyl Suchenden ins Bild zu setzen.46 Für die griechische Tragödie hat insbesondere Hans-Thies Lehmann die theatrale Szene, die er mit der emotionalen Aussprache und der diskursiven Reflexion, aber auch mit dem Bruch jeglicher Form der Kontinuität verband, gegenüber dem im engeren Sinne Dramatischen als zentral herausgearbeitet: „Die Plötzlichkeit der Szene setzt nicht erst in der Anagnorisis ein, sie ist der Puls und Lebensnerv des tragischen Diskurses“.47 Lehmann priorisiert weiter die Szene vor dem Schluss der Tragödie und verortet im „Zwischen“ der dramatischen Momente, in der Verzögerung, die Konstitution des Subjekts, das „sich [sein Leiden] vor Augen stellt“.48 Für die hier besprochenen Tragödien wird dies bestätigt durch den Befund, dass am Ende des Stücks oftmals keine zufriedenstellende Lösung des Falls steht, dass Konflikte eher ausgestellt als ausgeräumt werden und dass – selbst noch im Fall des schmerzfreien und wundersamen Todes des Ödipus auf Kolonos – das Ende mehr Fragen als Antworten bereithält.

Arbeitet die Flucht und die Bitte um Aufnahme also einer bestimmten Formsemantik – dem Reflexionspotenzial des Szenischen – zu, außerdem der Intensivierung der damit einhergehenden Affekte (phobos, eleos) und der Eindringlichkeit des Sprechens, das oftmals an die Stelle von Handlungen tritt, so sollte nicht vergessen werden, dass vermittelt durch diese ästhetisch-theatralen Momente auch ein politisches Thema verhandelt wird. Flucht und Verfolgung waren, das belegen die historischen Zeugnisse, ubiquitär in der Welt der Athener Theaterzuschauer, und die Tragödie konnte die existenziellen Entscheidungsszenarien modellhaft nachspielen und die Konfrontation von fremd und autochthon, von humanitärem Ethos und xenophober Ideologie zum Gegenstand einer öffentlichen Debatte machen. Ohne eine genealogische Verbindung von antikem Theater und Asyl postulieren zu wollen, lässt sich gewiss behaupten, dass die Mittel des Theaters geeignet sind, das Leid und die Rhetorik von Geflohenen sowie die Entscheidung über ihr Bleiben in Szene zu setzen. Theater und Asyl, genauer Asylverhandlung, weisen Strukturanalogien auf. Mit dem Raum des Theaters – zunächst der Orchestra, später einer leicht erhöhten Spielstätte vor dem Bühnenhaus, der Skene49 – betritt der Protagonist vor allem einen Raum des ‚Gesehen-Werdens‘, des Weiteren der (oft monologisch-lyrischen) Aussprache und der (übrigens nicht unbedingt dialogischen) Verhandlung. Ob dieser Ort – wie der des rituellen Asylgesuchs, der Hikesie – auch ein sakraler Ort ist, wird von Historikern des antiken Theaters kontrovers diskutiert. Das Dionysos-Heiligtum mit seinem Altar lag in unmittelbarer Nachbarschaft des Athener Theaters, die Zuschauer waren Teil einer Festgemeinschaft und hatten zuvor an einer großen Prozession und einem Opfermahl teilgenommen. Das Theater selbst verfügte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht über einen Altar, doch die Hikesie-Tragödien setzen einen solchen als Requisit und Zentrum des dramatischen Spiels fraglos voraus.50 Doch dürfte deutlich geworden sein, dass der Altar in diesem Geschehen zwar Fluchtpunkt und Anlaufstelle ist, häufig auch als Schutzwehr und Garantie für Sicherheit bezeichnet wird, dass er aber in literarisch-dramatischer Hinsicht vielmehr als Zeichen der Instabilität, des Übergangs und des Sakrilegs eingesetzt wird. Die Abfolge von sakraler Hikesie und politisch verfügtem Asyl ist kein Automatismus. Es gilt vielmehr stets auszuhandeln, bis zu welchem Punkt die Normen beider Bereiche konfliktfrei nebeneinander existieren können.

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