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Lob des Realismus – Die Debatte
Herausgegeben von Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann
Taschenbuch mit 216 Seiten, Format: 115 x 180 mm
ISBN 978-3-95749-074-2
Wie kann Kunst die sich zuspitzenden Widersprüche der Gegenwart erkennbar machen? Mit dieser Frage hat sich der Realismus zu allen Zeiten beschäftigt. „Lob des Realismus“ von Bernd Stegemann hat eine weitreichende Debatte um einen neuen Realismus angestoßen.
Essays und Gespräche von:
Rolf Bossart
Heinz Bude
Wolfgang Engler
Jette Gindner
Nicole Gronemeyer
Boris Groys
Jakob Hayner
Alexander Kluge
Simon Kubisch
Peter Laudenbach
André Leipold
Thomas Ostermeier
Armin Petras
Milo Rau
Kathrin Röggla
Eugen Ruge
Enno Stahl
Bernd Stegemann
Wolfgang Streeck
Seit das „Lob des Realismus“ von Bernd Stegemann im Jahr 2015 den Versuch unternommen hat, an die folgenreichen Debatten um die realistischen Künste anzuknüpfen und sie für die Gegenwart fruchtbar zu machen, sind in der Zeitschrift Theater der Zeit mehr als ein Dutzend Beiträge hierzu erschienen. Künstlerinnen und Künstler, Theoretikerinnen und Theoretiker von internationalem Rang und aus den unterschiedlichsten Disziplinen haben Position bezogen und versucht, die Diskussion um einen neuen Realismus für unsere Zeit zu führen. Grund genug, diese wertvollen Beiträge in Buchform zugänglich zu machen und um weitere Statements zu ergänzen.
Alle Beiträge sind in einem Punkt einig: Ihr Verständnis davon, was Realismus bedeutet, bezieht sich nicht auf eine Erkenntnis der Welt „ohne uns“, sondern ringt um eine Haltung zur Welt, in der sich die Widersprüche wieder zuspitzen. Diese Widersprüche hat Wolfgang Streeck in seinem Text klar für unsere Gegenwart analysiert, die er in Anlehnung an Gramsci als Interregnum bezeichnet: eine Zeit von unbestimmter Dauer, in der eine alte Ordnung schon zerbrochen ist, eine neue aber noch nicht entstehen kann, eine Zeit voller Verwerfungen und Unsicherheiten, in der alte Lösungen nicht mehr greifen und neue noch nicht gefunden sind. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Realismus steht also die Frage, wie die Kunst diese Widersprüche erkennbar machen und mit welchen ästhetischen Mitteln sie sie ins Werk setzen kann.
So gilt für die meisten der Beiträgerinnen und Beiträger der Realismus Bertolt Brechts als Wegmarke. Sein episches Theater zielte darauf, die Wirklichkeit nicht zu bestätigen, sondern dagegen zu protestieren. Und seine realistische Methode wollte die verborgenen gesellschaftlichen Widersprüche mittels der Verfremdung sichtbar werden lassen. Im Verlauf der jüngeren Theatergeschichte haben sich die Verfremdungsmittel von der ihnen zugeschriebenen Rolle entfernt und beanspruchen immer mehr eine ästhetische Autonomie, in der die Eigenrealität des sinnlichen Ereignisses auf der Bühne in den Vordergrund treten soll. So wurden die Mittel der Verfremdung von einem Instrument dialektischen Denkens zu Mitteln der Dekonstruktion umgebaut. Deren Bescheidenheit, angesichts einer komplexen Wirklichkeit die Unmöglichkeit von Repräsentation zu thematisieren, ist jedoch inzwischen zu einer Herrschaftsgeste geronnen. Alain Badiou brachte die politische Tendenz einer solchen Kunst in einem Interview auf den Punkt: „Ich misstraue dieser Richtung. In diesem Fall zöge das Theater aus der Betrachtung der Welt, wie sie ist, die Schlussfolgerung, es müsse der Welt entsprechen. Darin besteht die gesamte Idee des postdramatischen Theaters, des Theaters, das selbst potenziell zu einer Zirkulation von Gegenständen und Zeichen wird, oder von Körpern und Zeichen, allerdings von in ihren leidenschaftlichen oder zerrissenen, aber gleichzeitig hoffnungs- und ausweglosen Beziehungen beinahe objektivierten Körpern. Wenn das Theater sich nur zum Spiegel der Logik des Fehlens einer Welt macht, betrachte ich es, selbst wenn es sich für avantgardistisch hält, als konservatives Theater. Es ist eine Konzeption des Theaters als Ende des Theaters. Es ist ein Theater, das seine eigene repräsentative Unmöglichkeit in einer Welt darstellt, die es nicht mehr erlaubt, dargestellt zu werden. Und das ist meiner Meinung nach ein nihilistisches Theater. Ein Theater, das in einem neuen Sinn weiterhin lebendiges und dramatisches Theater ist, ist ein Theater, das den Widerspruch zwischen dem Fehlen einer Welt und dem Wunsch nach einer Welt zur Schau trägt. Das Theater ist ein aktives Prinzip.“1
Sich heute die Frage nach dem Realismus zu stellen, führt demnach ins Zentrum einer Kritik der Postmoderne. Denn es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Dekonstruktion von sprachlichen und sozialen Zuschreibungen immer weiter von ihrem emanzipatorischen Anspruch entfernt und in ihr Gegenteil verkehrt hat. In Zeiten von alternativen Fakten und Internettribunalen hat die Dekonstruktion immer öfter den Effekt, dass angesichts einer zersplitterten Realität nicht mehr zu erkennen ist, wer tatsächlich in ihr profitiert. Es ist also an der Zeit, den kollektiven Individualismus als „große Erzählung“ eines enthemmten Neoliberalismus zu begreifen, von dem nur wenige profitieren und der ein unfassbares Ausmaß an globaler Ausbeutung und Zerstörung produziert hat. Oder wie Milo Rau sagte: „Denn das ist für mich die einzige Weise, realistische Kunst zu schaffen: wirklich einzugreifen ins Getriebe der Welt, ins Getriebe der Geschichte. Trotz der ganzen beschissenen Zweideutigkeit jeder Position.“
Wir möchten allen Autorinnen und Autoren und allen Gesprächspartnern für ihre klugen Diagnosen danken und wir danken dem Verlag Theater der Zeit, dass er einer solchen Debatte den Raum gegeben hat, den sie in unserer Zeit nicht selbstverständlich erwarten durfte.
Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann
Berlin, September 2017
1 Alain Badiou im Gespräch mit Florian Borchmeyer im Spielzeitheft der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 2015.
Kapitel | Seite |
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Zur Fragevon Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann | Seite 8 |
I. Es geht wieder um Realismus | |
Es geht (wieder) um den RealismusDie Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindungvon Wolfgang Engler | Seite 13 |
Die andere Art des WissensEin Plädoyer für das Erzählenvon Eugen Ruge | Seite 23 |
Negativer Realismusvon Kathrin Röggla | Seite 33 |
Hyperreales TheaterDas Zentrum für Politische Schönheit schärft die Konturen der Realitätvon André Leipold | Seite 42 |
II. Künstlergespräche über Realismus | |
Tschukowskis Telefon. Umwege zum RealismusAlexander Kluge im Gespräch mit Nicole Gronemeyervon Nicole Gronemeyer und Alexander Kluge | Seite 55 |
Buchenwald, Bukavu, Bochum Was ist globaler Realismus?Milo Rau im Gespräch mit Rolf Bossartvon Milo Rau und Rolf Bossart | Seite 66 |
Wir Ichlinge. Wie das Theater als vorpolitischer Raum der Vereinzelung im Neoliberalismus entgegenwirken kannThomas Ostermeier im Gespräch mit Wolfgang Englervon Wolfgang Engler und Thomas Ostermeier | Seite 78 |
Wo ist Wir?Armin Petras im Gespräch mit Nicole Gronemeyervon Nicole Gronemeyer und Armin Petras | Seite 89 |
Das Helsingør-Syndrom. Über den kapitalistischen Realismus und seine möglichen AlternativenSimon Kubisch im Gespräch mit Jakob Haynervon Jakob Hayner und Simon Kubisch | Seite 100 |
III. Realistische Kunst | |
Für den Neuen Realismus oder Die Rückkehr der Seelevon Boris Groys | Seite 113 |
Analytischer Realismus im Romanvon Enno Stahl | Seite 122 |
Realness ist nicht realistischEinige Beobachtungen zum Grenzverkehr zwischen Kunst und Wirklichkeitvon Peter Laudenbach | Seite 132 |
Nichts als ScheinBemerkungen zum Begriff des Realismusvon Jakob Hayner | Seite 144 |
Realismus nach 2008Kunst und die Krise des Kapitalismusvon Jette Gindner | Seite 152 |
IV. Politischer Realismus | |
Postparadoxer Realismusvon Heinz Bude | Seite 163 |
Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismusvon Wolfgang Streeck | Seite 169 |
Der Realismus ist totvon Bernd Stegemann | Seite 194 |
Autorinnen und Autoren |
„Was Stegemanns 'Lob des Realismus' zur Provokation macht, ist nicht nur die Abfertigung gängiger Trend-Ästhetiken, sondern sein Versuch, eine normative Ästhetik in der Tradition Brechts zu formulieren.“Süddeutsche Zeitung
„Stegemanns „Lob des Realismus“ hat in Theaterkreisen sowohl Widerspruch als auch Zustimmung provoziert. Seine Ästhetik setzt auf klare Abgrenzung gegen andere zumindest dem Selbstanspruch nach progressive Gesellschaftsgruppen und künstlerische Ausdrucksformen. Beeindruckend exklusive Voraussetzungen für eine Sammlungsbewegung.“Frankfurter Allgemeine Zeitung
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