Heft 01/1992
»Daidalos. Torso« von Gerd Knappe
Broschur mit 96 Seiten, Format: 220 x 310 mm
ISSN 0040-5418
Überflüssig? Man kommt nicht drumherum: Wann, wo immer und zu welchem Anlaß von Kinder- und Jugendtheater die Rede ist, man muß es legitimieren. Wer gar bekennt, eben dort seinen künstlerischen Interessen und Ambitionen nachzugehen und Broterwerb zu suchen, wird oft sehr schnell mit eben dem nämlich mitleidigen Blick des wohlwollenden Ermunterns bedacht werden, den die Kinder so gut kennen, wenn er ihnen signalisiert: Seid lieb, seid lustig, seid brav, denn Ihr seid unvollständig. Kinder sind die Amateur-Menschen unter den Erwachsenen. Nichts anderes ist der Kinder- und Jugendtheatermacher für den richtigen Theatergänger, für den richtigen Kritiker, den richtigen Theatermacher, den richtigen Theaterwissenschaftler und den richtigen Subventionsgeber.
Einer, der das neue Kinder- und Jugendtheater mit seinen Stücken ins Leben gerufen hat und wesentlich prägte, Volker Ludwig vom Grips-Theater in Berlin, beschrieb kürzlich seine Erfahrungen als Autor für diese Sparte in einem Interview:
»Ich bin noch nie so viel gelobt worden als zu der Zeit, wo ich anfing, Kindertheater zu machen. Ich lief in West-Berlin mit einer schiefen linken Schulter rum, auf die ich immer geklopft wurde, weil es so unendlich wichtig ist, was ich mache, und so gut, und so, das muß sein, und das ist toll, und das brauchen wir jetzt, und das vor allem von den großen Autoren, die für Fernsehen, Funk und Erwachsenentheater schrieben, indem sie sagten, das können wir gar nicht. Und später beim Saufen fingen sie dann an zu fragen, sag mal, wie hältst Du das denn aus, Dich so zu kastrieren für solche Kinder...«
Es sind also nicht nur die geringen Tantiemen schließlich zahlen Kinder sehr viel geringere Eintrittspreise als das Publikum des Erwachsenentheaters, denn bekanntlich lebt der Autor vom Prozentualanteil der Vorstellungseinnahme - es ist auch sein Leumund, der viele gute potentielle Autoren vom Kinder- und Jugendtheater fern hält. Dieses Theater kommt ihnen erst gar nicht in den Sinn. Oder zu groß ist bei ihnen immer noch die Sorge, daß in diesem Spezialtheater der Autor nichts anderes sein soll als ein didaktischer Dialogisierer, der Autor als Erzieher oder der Autor ein Szenen-Dichter, der mit hutzig-putzigen Geschichten und Moralitäten unvollständige Menschen beglücken soll. (Und viele von ihnen bestätigen mit ihren pädagogischen Pedanterien und Lustigkeitslügen dieses Autorenbild. Denn das Kinder- und Jugendtheater gilt noch oft genug als künstlerischer Tummelplatz für den Gelegenheitsdramatiker.)
An dieser Situation seines Rufes ist das Kinder- und Jugendtheater nicht ganz unschuldig. Es mußte sich über Jahrzehnte so besonders, so sparten- und zielgruppenhaft, so kindheitsweltspezifisch, so anders als das andere Theater darstellen, wenn es überhaupt von staatlichen Geldgebern und der kulturellen Öffentlichkeit registriert werden wollte; aber auch dies: Wenn es gelingen sollte, die Kinder zuhauf mit ihren Eltern, Lehrern und anderen Erwachsenen überhaupt ins Theater zu locken. Im richtigen, dem Erwachsenentheater war die Tür für Kinder und zum Teil auch für Jugendliche nur zur Weihnachtszeit breit geöffnet; sonst waren Kinder eher unerwünscht (und sind sie es nicht auch heute noch?).
Im Weihnachtsmärchen machten dramatisierende Hausdramaturgen ihr monetäres Glück mit einem zumeist zweifelhaften Theatervergnügen für die jungen Zuschauer. Im neuen Kinder- und Jugendtheater konnten diese dagegen als willkommenes Publikum ihre Erfahrungen mit Theater ernsthaft und selbst ernstgenommen ganzjährig machen.
Unter denen, die beruflich dieses Theater betreiben, ist eines gewiß: Kinder brauchen Theater! Dieser Slogan einigt alle, während um alles andere, was denn nun Kinder- und Jugendtheater sei, nach wie vor heftigst gestritten wird. Antinomien bestimmten noch jüngst auf Symposien, bei Tagungen und Autorenwerkstätten die Diskussion: Poesie oder Pädagogik; Märchen- oder Themenstücke; Kindertheater für Kinder oder Kindertheater für alle Menschen und so weiter.
Eines scheint heute sicher: Kindertheater und Jugendtheater wird immer ein Theater bleiben, das sich mit der Kindheit und Jugend eines Publikums auseinanderzusetzen
hat. Das bedeutet auch, Zeit und Gesellschaft seines Publikums aktuell im Blick zu haben. Das Kinder- und Jugendtheater ist daher mehr denn je und entschiedener als das Erwachsenentheater ein Uraufführungstheater, ein Aktualitätentheater seiner Zeit, ist Gegenwartstheater. Aber es muß auch ein Experimentiertheater der ästhetischen Ausdrucksformen sein angesichts des rapiden Wechsels der Wahrnehmungsweisen und Wahrnehmungsgeschwindigkeiten von heutigen Kindern und Jugendlichen. Jedenfalls sind das Anforderungen, durch deren Verfolgung und Erfüllung das Kinder- und Jugendtheater sich gegenüber dem anderen, dem Erwachsenentheater nur als besondere Sparte wird behaupten können. Ein solches Theater ist immer wieder auf neue Autoren angewiesen, die in der Lage sind, sich dem jungen Publikum ästhetisch und inhaltlich innovativ zu stellen. Ansonsten ist Kinder- und Jugendtheater nichts andere? als Theater - es legitimiert sich wie alle Kunst: im Uberflüssigsein.
Jörg Richard
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Artikel | Seite |
Entrée | Seite 1 |
»Überflüssig?«von Jörg Richard | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Schauspiel | Seite 4 |
Grenzland zwischen Kunst und WirklichkeitÜber das »FamilienHerbstPaket« im Theater der Freundschaftvon Silvia Brendenal | |
Gespräch | |
Ein eigenes ProfilGespräch mit Manuel Schöbel, Intendant des Theaters der Freundschaftvon Ingeborg Pietzsch und Manuel Schöbel | Seite 6 |
Fremdland betretenGespräch mit Jürgen Zielinskivon Wolfgang Wöhlert und Jürgen Zielinski | Seite 12 |
Gustaf brachte mich zum SpielenGarderobengespräch mit Albrecht Roservon Gisela Ullrich und Albrecht Roser | Seite 14 |
Götter, Helden und DämonenSüdostindisches Schattentheater auf Deutschland-Tourneevon Marina Dafova | |
Festival | |
Spiele aus Liebe und ZufallLeipziger Festtage anläßlich eines kleinen Jubiläums der Eröffnung des ersten deutschen Staatstheatersvon Thomas Irmer und Matthias Schmidt | Seite 18 |
Ziemlich aufregendeuro-szene leipzigvon Dietmar Fritzsche | Seite 21 |
Tanz | Seite 22 |
Eindrücke von Tanztheater-Gastspielenvon Dietmar Fritzsche | |
Performance | Seite 24 |
Eindrücke von Performencesvon Martin Morgner | |
Freie Szene | |
Stagnation?Woche der Freien Theaterszene Prenzlauer Bergvon Martin Morgner | Seite 25 |
Rasend rasantCompagnie de Comédie Rostock: »Der Frieden«von Martin Morgner | Seite 27 |
Gespräch | Seite 28 |
Reise ans Ende unseres SelbstGespräch mit Roberto Ciulli, Leiter des Theaters an der Ruhr Mülheimvon Heinz-Norbert Jocks | |
Inszenierung | Seite 34 |
Hautnah»Ödipus« von Sophokles in einer Inszenierung von Roberto Ciullivon Heinz-Norbert Jocks | |
Schauspiel | |
Schlicht und sinnlichSchauspiel Bonn »Ankunft Quai vier« von Janusz Wisniewskivon Volker Trauth | Seite 35 |
Liebe und TodRoma-Theater Pra lipe:» Bluthochzeit« von García Lorcavon Joachim Knauth | Seite 36 |
Bühne für wacklige BeweisführungDortmund: »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« von Bertolt Brechtvon Heinz-Norbert Jocks | Seite 36 |
Eine BeichteBremer Theater: »Mütter und Söhne« von Javier Tomeovon Ingeborg Pietzsch | Seite 38 |
Ironische FußnoteKinder- und Jugendtheater Nürnberg: »Räuber-Projekt« (nach Schiller) von lbrikvon Dietmar Bruckner | Seite 38 |
Die Verlorenen - die VerliererNeue Szene Leipzig: »Krankheit der Jugend« von Ferdinand Brucknervon Ingeborg Pietzsch | Seite 39 |
Kaum kritikwürdigKleist-Theater Frankfurt/Oder »Der Prinz von Homburg« von Kleistvon Volker Trauth | Seite 40 |
Am Stück vorbeiMecklenburgisches Landestheater Parchim »Der Schein trügt« von Thomas Bernhardvon Volker Trauth | Seite 41 |
Es war einmalHans-Otto-Theater Potsdam: »Tag Monster« von Pauline Molvon Stefan Pietzsch | Seite 41 |
Eine DurchgangsstationVolksbühne Berlin: »Auf der großen Straße von Tschechow«von Ingeborg Pietzsch | Seite 42 |
Von der Realität eingeholtBerlin / Maxim Gorki Theater: »Die alte Frau brütet« von Tadeusz Rózewiczvon Martin Linzer | Seite 43 |
Inszenierung | Seite 44 |
Denke ich an Deutschland...Herbert Wernicke inszenierte den »Ring des Nibelungen« am Théatre de la Monnâie Brüsselvon Bettina-Cornelia Schmidt | |
Oper | Seite 52 |
In Basel ist alles andersBasel als Opern- und Musikstadtvon Nora Eckert | |
Ohne substantielle Brisanz. Ohne UtopieStadttheater Basel: »I capuletti« von Bellinivon Frank Kämpfer | |
Uraufführungen | Seite 56 |
Versch(r)obenUraufführung »Antigone« von Katzer in der Komischen Oper Berlinvon Bettina-Cornelia Schmidt | |
Oper | |
Zuviel Eloquenz»Der Meister und Margarita« von York Höller in Kölnvon Wolfgang Lange | Seite 59 |
Mit E. T. A. HoffmannOpernhaus Chemnit / Luxorpalast: »Hoffmanns Erzählungen« von Offenbachvon Hans-Jürgen Schneider | Seite 60 |
Mission erfülltMusiktheater der Stadt Görlitz: »Carmen« von Bizetvon Gottfried Blumenstein | Seite 60 |
Kafkaeske VisionenOper Leipzig / Kellertheater »Die Puppen« von Zbigniew Rudzinskivon Matthias Frede | Seite 61 |
Im NibelungendunkelHamburg Oper: »Simon Boccanegra« von Verdivon Rolf Fath | Seite 61 |
Amüsement und ÄrgernisAalto-Theater Essen: »Il Trovatore« von Verdivon Irene Tüngler | Seite 62 |
Umsonst gelebtOe Vlaamse Opera Antwerpen: »Der fliegende Holländer« von Richard Wagnervon Nora Eckert | Seite 63 |
Labyrinth in der MuldeHamburg Oper: »Cosi fan tutte« von Mozartvon Wolfgang Lange | Seite 64 |
Uraufführungen | Seite 65 |
Mischung aus griechischer Tragödie und ShowballettUraufführung des Tanzstücks »Kirke und Odysseus« von Dominique Efstratiou am Landestheater Hallevon Ann-Elisabeth Wolff | |
Tanz | |
Versuche mit DalcrozeFrühere Tanzreform wiederbelebbar?von Dietmar Fritzsche | Seite 67 |
Zurück ins LebenVolksoper Wien: »Tod in Wien - W. A. Mozart«von Hartmut Regitz | Seite 68 |
SehnsüchteMecklenburgisches Staatstheater Schwerin / Tanztheater: Bolero / Rhapsody in Blue / Der Feuervogel von Joachim Ahnevon Dietmar Fritzsche | Seite 68 |
Deutsche Oper Berlin: »La Sylphide« von August Bournonville / Peter Schaufuss / Hermann von Lovenskjoldvon Dietmar Fritzsche | Seite 69 |
Festival | Seite 71 |
»Irrtum und Zweifel«»Theaterformen« - ein Theaterfestival in Braunschweigvon Ingeborg Pietzsch | |
Uraufführungen | Seite 72 |
Düster-trauriger AbgesangTheaterformen Braunschweig: »Dämonen« von Lew Dodin uraufgeführtvon Detlef Friedrich | |
Inszenierung | Seite 75 |
Deutsch-Polnischespolnisches theater kiel: »Gespräche mit dem Henker« von Kazimierz Moczarski / Zygmunt Hübnervon Rosa Reitenspieß | |
Gespräch | Seite 76 |
Für die 100 Stunden-WocheGespräch moit Tadeuz Galia, Direktor des polnischen theaters kielvon Alexander Galin und Joachim Knauth | |
Porträt | Seite 77 |
Stéphane BraunschweigEin junges Regietalent aus Frankreichvon Lorenz Tomerius | |
Magazin | |
Die schöne Welt der Illusion...Die Staatlichen Museen Meiningen präsentieren Kulissen des Meininger Hoftheatersvon Dana Kern | Seite 79 |
Palucca wird 90von Harald Wandtke | Seite 79 |
Jacobsen / Prümm / Wenz (Hg.): Willy Haas. Der Kritiker als Mitproduzent - Texte zum Film 1920-1933Beiträge zu Theater, Film und Fernsehen aus dem Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Bd. VI. Edition Hentrich, Berlin 1991, 270 S. ISBN 3-926175-98-2von Jochen Gleiß | Seite 80 |
Hofmann / Graf / Stammen (Hg.): TagTraumTheater. Das Leben hinter den Kulissen in Bildern und TextenEine Anthologie. Casimir Katz Verlag, Gernsbach 1991, 356 S. ISBN 3-925825-33-9von Jochen Gleiß | Seite 80 |
Essay | Seite 80 |
Für ein Europäisches Theater in Berlinvon Ernst Schumacher | |
Stück | Seite 82 |
»Daidalos. Torso«ein vorgang unter anderen. gegenentwurf zu einem antikeprojekt anlage eines rooming - invon Gerd Knappe | |
Premieren | Seite 93 |
Januar 1992 | |
Spielpläne | Seite 93 |
Januar 1992 | |
Besetzungen | Seite 96 |
Schauspiel | |
Anzeigen | Seite 96 |
Gottfried Blumenstein
Silvia Brendenal
Dietmar Bruckner
Marina Dafova
Nora Eckert
Rolf Fath
Matthias Frede
Detlef Friedrich
Dietmar Fritzsche
Alexander Galin
Jochen Gleiß
Thomas Irmer
Heinz-Norbert Jocks
Frank Kämpfer
Dana Kern
Gerd Knappe
Joachim Knauth
Wolfgang Lange
Martin Linzer
Martin Morgner
Ingeborg Pietzsch
Stefan Pietzsch
Hartmut Regitz
Rosa Reitenspieß
Jörg Richard
Albrecht Roser
Bettina-Cornelia Schmidt
Matthias Schmidt
Hans-Jürgen Schneider
Manuel Schöbel
Ernst Schumacher
Lorenz Tomerius
Volker Trauth
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