Heft 01/2001
Heiner Müller
Fragment "Lysistrate 70"
Broschur mit 92 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Verballungen: Es verwundert nicht, dass beim momentanen religionsverdächtigen Schöpfungsfuror der Wissenschaften, der immer noch die Kulturdebatten beherrscht, man eher an den ersten geklonten Menschen geglaubt hätte als an ein Festival neuen Typs mit 40-Millionen-Etat. Den Beschluss des Landes Nordrhein-Westfalen, sich eine internationale, Musiktheater, Schauspiel und bildende Kunst vereinende Triennale zu schenken und als Leiter Gerard Mortier zu engagieren, kann man durchaus als eine Gegenbewegung zur Bundeskulturpolitik sehen: Die Regierung hat sich für Berlin und eine Hauptstadtkultur entschieden, und es wäre fatal, wenn die politische Marginalisierung, die Bonn damit erfahren hat, sich in der Kultur fortsetzten würde. Auch das Engagement von Mortier, der ja auch für die Leitung der Berliner Festspiele im Gespräch war, spielt da hinein.
Obwohl Mortier erst 2003 in NRW eröffnet, steht Joachim Sartorius in Berlin jetzt nicht nur mehr unter dem programmatischen Druck, die ersten Bundes-Festspiele zu organisieren (auch wenn er sich absolute Autonomie in seinem Vertrag garantieren ließ), sondern muss quasi gegen einen fiktiven Konkurrenten vorbauen, der zudem über einen höheren Etat verfügt. Fast scheint es, dass Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement dem jetzigen Zeit-Herausgeber/Redakteur Michael Naumann einmal zeigen wollte, was es mit der Kulturhoheits-Folklore so auf sich hat. Aber dieses Festival ist kein Schuss aus der Hüfte: Angesiedelt in einer der dichtest bevölkerten Gegenden Europas, braucht man sich über Infrastruktur wenig Sorgen machen. Man wird, wie zum Beispiel auch nächstes Jahr "Theater der Welt", die Bühnen des gesamten Bundeslandes bespielen; als Ausstellungsort macht Mortier die Bochumer Jahrhunderthalle zur Bedingung. Ob man mit diesem Verteilungsprinzip eine wirkliche Festivalstimmung erzeugen kann, bleibt jedoch fraglich. Bereits die Ruhrfestspiele, die ja in die Triennale integriert werden sollen, oder das Impulse-Festival (siehe S. 80) sind mit dieser Streuung nicht unbedingt glücklich.
Mit der avisierten Internationalität kann das Festival im kleinen wie im großen Rahmen agieren. Die Theaterszene in den angrenzenden Benelux-Länder hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Entwicklung genommen. Mit dem Flamen und erfolgreichen Festival-Manager Mortier liegt man da nicht falsch. Luk Perceval hat im vorvergangenen Jahr in Mortiers Salzburg-Programm mit seinen "Schlachten!" der deutschen Theaterszene ein absolutes Event beschert; Alain Platel, der seit Jahren schon zu den gefragtesten Festival-Teilnehmern gehört (S. 54); und Jan Fabre ist ein guter Kandidat für die Schnittstelle zwischen Theater und bildender Kunst. Natürlich wäre in der nächsten Zeit nicht nur interessant zu erfahren, ob Mortier vormals angedachte Opern-Projekte mit David Bowie oder David Lynch jetzt umsetzen kann, sondern vor allem, wen der Superimpresario in seine leitende Equipe für das Schauspiel und die Kunst berufen wird. Mit der entstandenen Polarisierung zwischen Berlin und NRW, also dem gierig erwarteten Kampf, scheint plötzlich die lärmende Kritik ausgeblendet, mit der man über die immer offensichtlicher werdende Vernetzung von Festivals und ihrer respektiven Austauschbarkeit herzog - nicht zuletzt die Notwendigkeit der Berliner Festspiele in Frage stellend. Indem man die Bühnen in NRW mit einem so massiven Festival bespielt, befördert man an den dortigen Häusern auch ein denkwürdiges Gastspiel-Image und gräbt ihnen in den Etat-und Strukturverhandlungen mit der
Landesregierung das Wasser ab (S. 8r). Für eingeladene Theatergruppen wäre es natürlich günstig, vom Berliner Theatertreffen via Wiener Festwochen und/oder Salzburg am offensichtlich nicht ausgelasteten Flughafen Düsseldorf gleich wieder den Anschluss-Flug nach Hause zu bekommen. Für den Zuschauer ist diese altneue Strategie des "fliegenden Volks" ohne Zweifel praktisch und korreliert mit den neuen Verhaltenmustern der wachsenden Internetgemeinde: grenzenlosen Zugang zur Welt, ohne dass man sich von der Stelle bewegen muss - und der Druck auf alle Macher und Vielflieger wächst sowieso, wie John von Düffel meint (S. 64).
Föderal ist dieses Wir-bleiben-bei-uns-aber-arbeiten-zusammen-Prinzip allemal, und damit auch deutscWandkompatibel. Man weiß gar nicht mehr, warum sich auf regionaler Ebene über den Verrat der Eigenständigkeit kleiner Theaterhäuser durch die politische Doktrin von Fusionen aufgeregt wird, wenn das Gastspiel- und Austauschverfahren der großen Theater, Festspiele und der professionalisierten Off-Szene von der Mehrheit als erfolgreiche Methode befürwortet wird.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Verballungen | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 4 |
Elementarteilchen verkeilenFrank Castorfs Version nach Michel Houellebecq und ein Dresdner Kleinformatvon Thomas Irmer | |
Essay | Seite 7 |
OVERSEXEDMichel Houellebecq als Leitfigur für das deutsche Theatervon Michael Börgerding | |
Heiner Müller | Seite 9 |
"Lysistrate"Texte aus dem Nachlassvon Heiner Müller | |
Bühnenbild | Seite 12 |
"Ich bin ein Kameramann, der Räume baut"Erich Wonder im Gespräch mit Claudia Tour-Sarkissianvon Claudia Tour-Sarkissian und Erich Wonder | |
Wien | Seite 18 |
Der liebe Gott und die GmbHZadek und Breth am Burgtheater - nach der Revolution, die keine warvon Uwe Mattheiß | |
Neustarts in Thüringen | Seite 22 |
Fusion und InfusionNeubeginn in Weimar und Altenburg-Geravon Frank Quilitzsch | |
Rollenbild | Seite 26 |
Ein reiches FeldAnne Ratte-Polle spielt in Cottbus Effi Briestvon Martin Linzer | |
Zürich | Seite 28 |
Im Schiffbau über BordDas Schauspielhaus als Drehpunkt zwischen Frankreich und Deutschlandvon Daniel de Roulet | |
Eine Woche in... | Seite 30 |
Einst seiner Zeit vorausEine Woche in Bernvon Stefan Koslowski | |
Ausbildung | Seite 33 |
Ein Blues im BetonDas Teatro und die Scuola Dimitri in Verscio/Tessinvon Heinz Kluncker | |
Freies Theater | Seite 36 |
Nagel mit KopfDas Düsseldorfer Forum Freies Theatervon Ulrich Deuter | |
Theater in der Provinz | |
Zwischen Leuchtturm und roter LaterneDinslakenvon Christian Peiseler | Seite 40 |
Nah am PublikumDessauvon Nora Eckert | Seite 42 |
Der Erfolg einer ultima ratioEisenach-rudolstadt-Saalfeldvon Michael Helbing | Seite 44 |
Auftritt | |
"So wild ist es in unseren Wäldern schon lange nicht mehr" von Theresia Walser und "Golem" von Christopher Blenkinsop und Carsten DaneMünchenvon Tristan Berger | Seite 46 |
Uraufführung von Heiko Buhrs "Ausstand" an den DT-KammerspielenBerlinvon Martin Linzer | Seite 48 |
Einar Schleefs "Totentrompeten 3" in der Regie von Ernst M. Binders uraufgeführtSchwerinvon Stefan Grund | Seite 48 |
Mayenburgs "Feuergesicht" und "Private Eyes" von Steven DietzAachenvon Ulrich Deuter | Seite 49 |
Roberto Ciulli inszeniert "Der Kaufmann von Venedig"Mülheimvon Christian Peiseler | Seite 51 |
"Alice" von Wilson / Waits / Schmidt und Jelineks "Stecken, Stab und Stangl"Kölnvon Christian Peiseler | Seite 52 |
Das zehnte euro-scene-FestivalLeipzigvon Sven Crefeld | Seite 54 |
Ricarda Beilharz inszeniert "Die Frau vom Meer", Lars-Ole-Walburg "Erreger"Baselvon Stefan Koslowski | Seite 56 |
Puppentheater "Die Galeere am Säntis" von Kurt FröhlichSt. Gallenvon Elke Krafka | Seite 57 |
Drei Produktionen im Theater an der WinkelwieseZürichvon Stefan Koslowski | Seite 58 |
Hans-Werner Kroesingers "Mor(t)al Combat - The Kosovo Files"Berlinvon Anja Nioduschewski | Seite 60 |
Adriana Hölszkys Oper "Giuseppe e Sylvia" uraufgeführtStuttgartvon Jens Knorr | Seite 61 |
Erstaufführung von "King Kongs Töchter" am Teatr PolskiPoznanvon Thomas Irmer | Seite 62 |
Kolumne | Seite 63 |
Zonenrandentmutigung: Alles wird jetzt Neumannvon Robin Detje | |
Stück | |
Ins Offene der MitteEin kurzes Gespräch von Thomas Irmer mit John von Düffelvon John von Düffel und Thomas Irmer | Seite 64 |
BALKONSZENENvon John von Düffel | Seite 65 |
Magazin | |
9. Festival der Union des Theatres del' Europe vom 10.-29. November 2000von Anja Nioduschewski | Seite 80 |
Starke Impulsevon Ulrich Deuter | Seite 80 |
Bonner Modellevon Ulrich Deuter | Seite 81 |
Schillertheater WuppertalZum Kuckuckvon Christian Peiseler | Seite 81 |
BücherKlaus Dermutz: christoph Marthaler. die einsamen Menschen sind die besonderen Menschen. Residenz Verlag, Salzburg 2000, 223 S.von Stefan Koslowski | Seite 81 |
BücherSetfan Frey: "Was sagt ihr zu diesem Erfolg". Franz Lehár und die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts. Insel Verlag, Frankfurt, Leipzig 1999, 459 S., zahlr. Abb.von Nora Eckert | Seite 82 |
BücherAugusto Boal: Der Regenbogen der Wünsche aus Theater und Therapie. Hg. und bearb. von Jürgen Weintz, Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, Seelze (Velber) 1999, 168 S.von Joachim Liebig | Seite 83 |
NachrufGötz Friedrichvon Siegfried Matthus | Seite 83 |
Meldungen | Seite 84 |
Jahresregister | Seite 85 |
Premierenkalender | Seite 89 |
Autoren | Seite 92 |
Impressum | Seite 92 |
Tristan Berger
Michael Börgerding
Sven Crefeld
Daniel de Roulet
Robin Detje
Ulrich Deuter
Nora Eckert
Stefan Grund
Michael Helbing
Thomas Irmer
Heinz Kluncker
Jens Knorr
Stefan Koslowski
Elke Krafka
Joachim Liebig
Martin Linzer
Uwe Mattheiß
Siegfried Matthus
Heiner Müller
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Christian Peiseler
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