Ein Gespenst geht um In seinen Kindheitserinnerungen mit dem Titel "Ake" erzählt der nigerianische Dramatiker und Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka von einer schmerzhaften Initiation, die sein Großvater an ihm, dem damals achtjährigen Enkel, vollzieht: Die Fußgelenke des Jungen werden dabei zunächst in einen Schraubstock gezwängt. Und während ein älterer Mann und ein Junge assistieren, ritzt der Großvater seinem Enkel mit einem Skalpell präzise Schnitte in das Fleisch um die Knöchel. Als der Schmerz schon nachgelassen hat und die Knöchel verbunden sind, sagt der Großvater das, was er seinem Enkel als Ratschlag für dessen zukünftiges Leben auf den Weg geben will - die Narben stehen für die Mitgift des Großvaters. Ohne das Wissen des Alten soll der Junge nicht in die Zukunft gehen. Den Gedanken, mit dem Wissen der Vorfahren in die Zukunft zu gehen, formuliert auch Henning Mankell in einem Interview, das TdZ im Kontext des Heftschwerpunktes Utopien geführt hat. MankeIl, der seit den 80er-Jahren in Afrika Theater macht, erzählt von der Tradition einiger Mosambikaner, beim Umzug in eine andere Stadt die Knochen ihrer Vorfahren mitzunehmen. "In Europa schauen wir immer aufmorgen,um die Zukunft besser zu machen", sagt der schwedische Theatermacher. "Die Afrikaner machen das ähnlich - mit einem Unterschied: Sie blicken nie nach vorne, ohne dabei nicht auch die Vergangenheit mit einzubeziehen."
Die Deutschen denken derzeit so intensiv über ihre Zukunft nach wie schon lange nicht mehr - und malträtiert fühlen sie sich dabei allemal. Ein Gespenst geht um in unserem Land und es heißt Hartz IV. Und trotz einer Orientierungslosigkeit im Allgemeinen glauben die meisten genau zu wissen, wie wir uns die Auswirkungen im Konkreten zu denken haben: Hartz IV steht für sozialen Abstieg, für den Ausverkaufsozialer Werte, Hartz IV ist die Begleitmusik zu unverändert hohen Arbeitslosenzahlen. Bei so vielen apokalyptischen Prognosen ist das Nachdenken über Utopien wieder zu einem Bedürfnis geworden - auch im deutschen Theater. Wer die Spielzeithefte der deutschsprachigen Bühnen für die kommende Spielzeit durchsieht, stößt in den programmatischen Reden der Intendanten auf diesen Begriff: "Wir haben wieder Lust auf Erfolgsgeschichten. Oder Utopien...", heißt es aus dem Deutschen Theater Göttingen. Und Tübingens Intendant Peter Spuhler fragt sich programmatisch, warum es wichtig sei, "Utopien - dennoch - zu denken?" Manuel Soubeyrand schließlich, der mit dieser Spielzeit von Chemnitz ins beschauliche Esslingen wechselt, liest diesen Begriff vor dem Hintergrund seiner ostdeutschen Sozialisation: "Ich selbst bin in einem Staat großgeworden, in dem von einer Utopie geträumt wurde, und als sich herausstellte, dass die Umsetzung dieser Utopie nur Demagogie und Unterdrückung war, verschwand auch das Land."
Der Einleitungsessay des Autors und Philosophen Gunnar Decker, der den Auftakt gibt zum Themenschwerpunkt Utopien, den TdZ als Reihe in die Spielzeit 2004/05 mit hineinnehmen wird, ist ebenfalls von einer ostdeutschen Erfahrung geprägt. Decker diskutiert das Utopiepotenzial unserer Zeit unter kulturgeschichtlichen und philosophischen Vorzeichen. Und er denkt dabei die Enttäuschung über eine gescheiterte deutsche Wiedervereinigung nach dem Scheitern des sozialistischen Projektes gleich mit. Der Historiker Jörn Rüsen wiederum erklärt im Gespräch mit TdZ, warum heute wieder über Utopien nachgedacht werden sollte. Dem Gedanken von Henning MankeIl nicht unähnlich, vertritt Rüsen eine Geschichtsschreibung, die in der Vergangenheit ihre Sinnangebote findet. Und während der Schriftsteller Georg Klein die Personifikation von Utopie im menschlichen Körper gefunden hat, fokussiert sich der Blick des in Zürich lebenden Fotografen Peter Tillessen auf der Suche nach Utopien auf menschliche Köpfe.
Bei so viel Zukünftigem besinnt sich TdZ auch auf Vergangenes und blickt zurück: auf den Festivalsommer 2004, nach Wien, Avignon, Bayreuth, nach NRW, Hannover, Wiesbaden, Potsdam und Stuttgart. Nicht zuletzt blicken wir auf die 50-jährige Mitarbeit Martin Linzers für diese Zeitschrift. Der Dramaturg und langjährige Wegbegleiter Linzers, Alexander Weigel, schreibt über gemeinsame Stationen und zitiert Heiner Müller, der da über den Kritiker Linzer sagte: "Und er ist einer der seltenen Kritiker in der DDR, der nie mehr als notwendig gelogen hat, um die Wahrheit zu sagen." Die Redaktion von TdZ dankt Martin Linzer für dessen ungebrochenes Engagement als Kritiker für diese Zeitschrift, für Hinweise, Ratschläge und Erlebnisberichte, die Schwärmereien für Schauspielerinnen inklusive, für seine Zeit und Geduld beim Produzieren unserer Hefte.
Das Insert dieses Septemberheftes, dessen Redaktion Carola Dürr übernommen hat, widmet sich schließlich dem Theaterland Mexiko. Renommierte mexikanische Kritiker, Theaterleute und Wissenschaftler stellen in konzentrierter und möglichst umfassender Form das mexikanische Theater der Gegenwart vor. Wer sich für die Theaterszene Mexikos interessiert, kann im soeben im Verlag Theater der Zeit erschienenen Dialog-Band "Eine unendliche Reise. Neue Theaterstücke aus Mexiko" zeitgenössische mexikanische Theatertexte lesen. Viel Spaß damit!
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Editorial | Seite 3 |
Ein Gespenst geht um | |
Utopie | |
Martin Linzer zum 50. Redaktionsjubiläum bei TdZvon Alexander Weigel | Seite 6 |
Götterfunken statt SelbstvergötterungFehlt es uns an mehr Mut zur Utopie - oder haben uns Utopien gerade noch gefehlt?von Gunnar Decker | Seite 9 |
Die Kraft des ÜberschwänglichenDirk Pilz im Gespräch mit dem Historiker Jörn Rüsenvon Dirk Pilz | Seite 13 |
In den Rückspiegel sehen auf dem Weg in die ZukunftSimone Kaempf und Nina Peters im Telefoninterview mit Henning Mankellvon Simone Kaempf und Nina Peters | Seite 16 |
Festival | |
GeisterbeschwörungDie Wiener Festwochen verlaufen sich in der eigenen Überfüllevon Stefan Hilpold | Seite 23 |
PublikumsbeschnüffelungTheaterformen auf der Suche nach dem Politischen im Theatervon Karin Cerny | Seite 26 |
Frischzellenkur für die RentnerstadtManfred Beilharz hat die Theaterbiennale nach Wiesbaden mitgenommenvon Shirin Sojitrawalla | Seite 28 |
Bayreuth - Befremdungen, Befindlichkeiten, BedrohungenSchlingensief organisiert mit "Parsifal" einen Aufstand der Zeichenvon Heinz Kluncker | Seite 31 |
Griff nach den Sternendas Festival d´Avignon nimmt neuen Anlaufvon Barbara Engelhardt | Seite 33 |
Aus dem Poesiealbum der KolonialismuskritikPeter Brooks "Tierno Bokar" bei der RuhrTriennalevon Hans-Christoph Zimmermann | Seite 36 |
Ein Fall für den Toten MannFrank Castorfs Blitzauftritt als Intendant der Ruhrfestspielevon Jörg Buddenberg | Seite 38 |
(Keine) Besserung in SichtDas Kinder- und Jugendtheaterfestival Schöne Aussicht in Stuttgartvon Tristan Berger | Seite 41 |
Gegen den TrendDas 11. Unidram-Festival in Potsdam präsentierte sich am neuen Spielort und in konzentrierter Formvon Jörg Giese | Seite 44 |
Mexiko Spezial | Seite 57 |
Insert Mexiko Spezial32 Seiten | |
Kolumne | Seite 57 |
Aus dem Atemgang der Utopie gesprochenvon Georg Klein | |
Stück | Seite 58 |
Das Ohr des SchreibersVier Selbstauskünfte von Fausto Paravidinovon Fausto Paravidino | |
Magazin | |
100. Geburtstag von Witold Gombrowiczvon Bernhard Hartmann | Seite 85 |
Ulf Reiher geht nach 17 Jahren Intendanz am Landestheater Detmold in den Ruhestandvon Martin Linzer | Seite 85 |
"Der Herbst des Patriarchen" -Oper von Giorgio Battistelli nach dem Roman von Gabriel Garcia Màrquez und einem Libretto von Gotthart Kuppel in Bremen uraufgeführtvon Alexander Schnackenburg | Seite 86 |
XXX. Weltkongress des Internationalen Theaterinstituts (ITI)/unesco im mexikanischen Tampicovon Naomi Schenck | Seite 87 |
Zum Tod von Marlon Brando"Die Verletzung"von Ulrich Zieger | Seite 88 |
BücherWiebke Morgan (Hrsg.): PAYE 2004 - Performing Arts Yearbook for Europevon Wolfgang J. Ruf | Seite 89 |
BücherDario Fo: Meine ersten sieben Jahre und ein paar dazu. Aus dem Italienischen von Peter O. Chotjewitz.von Renate Chotjewitz-Häfner | Seite 89 |
Meldungen | Seite 90 |
Premierenkalender | Seite 93 |
Oktober 2004 | |
Impressum | Seite 95 |
Kommentar | Seite 96 |
Utopie IVvon Anja Dürrschmidt | |
Vorschau | Seite 96 |
Oktober 2004 |
Tristan Berger
Jörg Buddenberg
Karin Cerny
Renate Chotjewitz-Häfner
Gunnar Decker
Anja Dürrschmidt
Barbara Engelhardt
Jörg Giese
Bernhard Hartmann
Stefan Hilpold
Simone Kaempf
Georg Klein
Heinz Kluncker
Martin Linzer
Fausto Paravidino
Nina Peters
Dirk Pilz
Wolfgang J. Ruf
Naomi Schenck
Alexander Schnackenburg
Shirin Sojitrawalla
Alexander Weigel
Ulrich Zieger
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