Heft 11/2008
Der Kulturkämpfer
Theatergenius René Pollesch über neue Perspektiven
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
„Es geschieht trotzdem“, formuliert Nietzsche und berührt damit eine der unheimlichsten Dimensionen moderner Geschichte. Im Gegensatz zur Natur lässt sie sich vom parmenideischen Logos, der die Identität von Denken und Sein beschwört, nicht wirklich erschließen. So kommen wir eigentlich nicht über die homerische Vorstellung von Geschichte als Spiel der Götter hinaus, wo eine Fraktion als Antwort auf den November1989 die Hybriskarte zieht und mit einem überraschenden Oktober 2008 antwortet. In diesem Fall wird den Betroffenen unmissverständlich klargemacht, dass nicht nur die Finanzsysteme erneuert, sondern auch das Realitätsmodell und ein ihm korrespondierender Kunstbegriff revidiert werden müssen. Verdattert muss die internationale Gemeinschaft zur Kenntnis nehmen, dass da, wo eben noch ökonomische Notwendigkeiten regierten, sich eine gigantische Inszenierung zu erkennen gibt. Nur der Abschaum der Gesellschaft erträgt es, ohne Scham sich zu widersprechen – das hatte Roland Barthes als zentralen Steuerungsmechanismus der sokratisch geprägten Kultur erkannt. Den gelebten Selbstwiderspruch aber fordert René Pollesch als Antwort auf die einförmigen, sich ständig neu begründenden Realitätsmodelle, die Welten ohne Widerspruch kollektiv halluzinieren. Ein paradoxales Denken und Handeln, um den undurchschaubaren Winkelzügen der Geschichte zu begegnen. In den Widersprüchen zwischen einem durch die Finanzkrise enorm eingeschränkten Handlungsspielraum und seinen Ansprüchen, Wandlung herbeizuführen, wird sich auch der künftige Präsident der Vereinigten Staaten Barack Obama bewegen müssen. Die Obama-Falle zumindest kann Medienphilosoph Samuel Weber der Glaskugel entnehmen, obwohl er zugesteht, dass er im Jahre 2000 bei Bushs Amtsantritt niemals geglaubt hätte, dass es so kommen würde, wie es gekommen ist.
Ein Künstler, der schon immer bezweifelt hat, dass die Realität so ist, wie sie ist, und sich von ihr nie in irgendein Zwangskorsett schnüren ließ, ist Herbert Achternbusch, dem wir auf diesem Wege gern zu seinem 70. Geburtstag gratulieren. Die Laudatio verfasst Josef Bierbichler, der sich erinnert, wie er seinem Idol einmal körperlichen Schmerz zufügen musste, weil Achternbusch ihn über alle Maßen genervt hatte. Schmerzen hat Gunnar Decker nun nicht wirklich empfunden, als er zum Saisonstart die Berliner Theater inspizierte, eher nahm er einen Ton der Behutsamkeit wahr. Nur das DT fällt etwas aus dem erschöpften Rahmen – von der unerwarteten Asbestsanierung des Hauses überrascht, treibt es forcierte Unterhaltungsseligkeit in ein gefährliches Schwarzes Loch.
Während Peter Stein auf der Bühne des BE Barrikaden gegen die Moderne errichtet, lädt Luc Bondy alle Halter von Hausangestellten zum wohltemperierten Abend mit Genets „Zofen“. Ihnen graviert der Altmeister ins Poesiealbum, dass den oberen Schichten, selbst falls sie vorübergehend wegen fauler Kredite hinter Schloß und Riegel sitzen, von der Dienstleistungsgesellschaft keine existenzielle Gefahr droht. Feiern dagegen kann Sebastian Kirsch die Ruhrtriennale, wo Schorsch Kamerun Texte Rolf Dieter Brinkmanns in bislang unerreichte theatralische Höhen katapultiert und es Christoph Schlingensief gelingt, die eigene Krebserkrankung ins Mandala eines erschütternden Gesamtkunstwerks zu setzen, das ebenso ratlos wie traurig macht.
Für Furore sorgen die Starts der Intendanzen im Kirchenschiff Leipzig, im insolvenzbedrohten Oberhausen und in Heilbronn. Daneben lenkt die Verleihung des Konrad-Wolf-Preises an Complicite-Gründer Simon McBurney den Blick auf eine Größe des internationalen Theaters. Das Kunstinsert gehört diesmal der Regisseurin und Bühnenbildnerin Penelope Wehrli, die mit einer unglaublichen Komplexität ihrer Arrangements zu faszinieren weiß. Theater in Zeiten der Krise. Wir sind gespannt.
Die Redaktion
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Artikel | Seite |
Porträt | Seite 8 |
Zum Greifen fernDie Regisseurin und Bühnenbildnerin Penelope Wehrli im Porträtvon Christopher Langer | |
Gespräch | Seite 12 |
Lebe im Selbstwiderspruch!Der Autor und Regisseur René Pollesch im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz | |
USA | |
Die Sehnsucht nach WoodstockDer Medienwissenschaftler Samuel Weber im Gespräch mit Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch | Seite 16 |
Die Befindlichkeiten von drübenAlte Werte und neue Notwendigkeit: Neue US-amerikanische Stücke in London und Bielefeldvon Willibald Spatz | Seite 19 |
TdZ gratuliert | Seite 21 |
Denn nix ist mehr als gar nixDem Autor, Regisseur und Maler Herbert Achternbusch zum 70. Geburtstagvon Josef Bierbichler | |
Porträt | Seite 24 |
Die Magie der WeltzusammenhängeEin Porträt des Complicite-Gründers Simon McBurney zur Verleihung des Konrad-Wolf-Preises 2008von Stephan Wetzel | |
Auftakt | Seite 26 |
Das Leben ist grausamer als wirSpielzeiteröffnung am Deutschen Theater – und anderen Berliner Bühnenvon Gunnar Decker | |
Festival | Seite 30 |
To everybody I say goodbyeDie Ruhrtriennale 2008 zeigt sich melancholisch – und deutlich interessanter als in den Vorjahrenvon Rainer Kirsch und Verena Cornely | |
Neustart | |
Kein Opfer, keine ErlösungSebastian Hartmann beginnt seine Intendanz in Leipzig zwischen dem Dies- und Jenseits der Systemevon Christian Horn | Seite 33 |
Auf- statt AbbruchWie der neue Oberhausener Intendant Peter Carp sich mit Humor, Mut und Spielwut gegen die finanzielle Misere stemmtvon Vasco Boenisch | Seite 36 |
Wir müssen, müssen Freunde seinTrotz angeblicher Stasi-Affäre – der neue Intendant Axel Vornam startet in Heilbronn mit spannendem, schnörkellosem Theatervon Otto Paul Burkhardt | Seite 38 |
Auftritt | |
Mythos und Marktpotenzial - „Die Judith von Shimoda“ von Bertolt BrechtWien/Osnabrückvon Lena Schneider | Seite 44 |
Endstation Aufbruch - Schauspielhaus Chemnitz: „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee WilliamsChemnitzvon Hartmut Krug | Seite 46 |
Der Sound der Vergeblichkeit - Staatstheater Wiebaden: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ von Eugene O’NeillWiebadenvon Shirin Sojitrawalla | Seite 48 |
Mit Sprache den Stadtraum befeuern - theatercombinat: „Bambiland“ nach Elfriede JelinekWienvon Margarete Affenzeller | Seite 49 |
Riesenrad der Weltordnung Theater Biel-Solothurn: „Amerika“ von Gerhard MeisterSolothurnvon Simone von Büren | Seite 50 |
Lesarten | Seite 52 |
Jürgen Fuchs „Gäste kommen und gehen oder Der Verkauf der Landeskinder“von Thomas Freyer | |
Kolumne | Seite 53 |
Die letzte 68er-Theatergeschichtevon Emine Sevgi Özdamar | |
Autorengespräch | Seite 54 |
Eine Landschaft, die immer fremder wirdThomas Freyer im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers | |
Stück | Seite 55 |
Und in den Nächten liegen wir stummvon Thomas Freyer | |
Magazin | |
Like a fish in the waterZum Tod des Theaterleiters, bildenden Künstlers und Gründers von DasArts Ritsaert ten Catevon Tom Stromberg | Seite 64 |
Tutu gegen KimonoVersuch eines Dialogs der Kulturen – das Festival „Ohayô, Japan!“ in Leipzig, Dessau und Dresdenvon Torben Ibs | Seite 65 |
Ballspiele mit Flamen und WallonenDas Het Theaterfestival 2008 in Antwerpenvon Jörg Vorhaben | Seite 66 |
Wenn die Angst baden gehtDas Mannheimer Festival „Wunder der Prärie“ hat nach fünf Jahren seinen Platz gefundenvon Ralf-Carl Langhals | Seite 68 |
BücherHans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks.von Holger Kuhn | Seite 70 |
BücherDas Theater von Urs Widmer.von Anna Blume | Seite 71 |
Randplatzvon Gunnar Decker | Seite 72 |
Linzers Eck | Seite 73 |
In der DDR war nicht alles schlecht oder Die Kantine im Wandel der Zeitenvon Martin Linzer | |
Magazin | |
etc.von Sebastian Kirsch | Seite 74 |
Meldungen | Seite 74 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | Seite 75 |
Korrespondenten | Seite 75 |
Aus den KorrespondentenbürosMünchen, Hamburg, Bochum | |
Radiovorschau | Seite 76 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Premierenkalender | Seite 77 |
November 2008 | |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
Boomzeit für Schwarze Orchideenvon Frank M. Raddatz |
Margarete Affenzeller
Josef Bierbichler
Anna Blume
Vasco Boenisch
Otto Paul Burkhardt
Verena Cornely
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Thomas Freyer
Christian Horn
Torben Ibs
Rainer Kirsch
Sebastian Kirsch
Hartmut Krug
Holger Kuhn
Christopher Langer
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