Heft 12/2008
Liebe Finanzkrise
Banken gehen pleite - aber wohin gehen wir?
Broschur mit 120 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
„Unsere einzige Hoffnung ist der Fehler, der Zufall, die Katastrophe", sagt Heiner Müller und erinnert damit an eine wesentliche Eigenschaft des Theaters, nämlich Veränderung, Metamorphose zu wollen. Brechts Me-ti drückt diesen Tatbestand etwas instruktiver aus: „Nicht eins mit sich sein, sich in Krisen drängen, kleine Änderungen in große verwandeln und so weiter, das alles kann man nicht nur beobachten sondern auch machen." So gesehen schafft der Finanzkollaps ideale Voraussetzungen für ein avanciertes Theaterspiel, das mehr sein will als effizienzorientierte Dienstleistung eines eventgeilen Unterhaltungssektors, der in der bürgerlichen Antike einmal Öffentlichkeit hieß.
Veränderung, darunter konnte sich die postindustrielle Gesellschaft bislang nur eines vorstellen:
nämlich Beschleunigung. Dass aber die Zeit der Maschinen und die Zeit des Subjekts nicht identisch sind, wusste bereits Brechts Me-ti. Dem amerikanischen Philosophen Frederic Jameson zufolge besteht Brechts eigentliches Verdienst darin, dass er den Marxismus erweiterte, indem er ihm das Tao schenkte, also die Lehre von der Leere. Ein Geschenk, das unversehens bei der Reflexion ästhetischer Konsequenzen der gegenwärtigen Situation des bankrotten Casinokapitalismus wiederauftauchte. Auf welch wundersamen Pfaden Helena Waldmann, Friedrich Dieckmann und Wolfgang Engler zum Luxus der Leere gelangen, zu Positionen, wie sie in seltener Eintracht Einar Schleef und John Cage vertraten, lohnt die bedächtige Lektüre.
Ihr Fund eines heilsamen Nichts, das zugleich ein Alles umschließt, wird von einem viel fältigen Spektrum von Stimmen und Kommentaren zur Explosion des Turbokapitalismus begleitet.
Ob Etel Adnan oder Athol Fugard, Claudia Bosse oder Kathrin Röggla, Hansgünther Heyme oder Anselm Weber, Volker Lösch oder Hans Jürgen Syberberg und andere, sie alle zeigen, dass Theater gegenüber dem Geist der Zeit gewappnet ist und machen keinen Hehl daraus, froh zu sein, dass endlich von den neoliberalen Heilsversprechen der Lack ab ist. Keiner freut sich allerdings so schön wie Harald Schmidt im Interview mit Sebastian Kirsch, „dass der ganze Rotz jetzt weg ist. Es ist im Grunde ja nur Belastung. Ich verliere gerade auch wahnsinnig viel Geld, find's aber toll".
Statt wie in der Weimarer Republik Verhaltenslehren der Kälte aufzustellen, sehen sich Harald Schmidt und Sebastian Kirsch in Rokoko und Barock nach Wegweisern um. Eine schöne neue Seuche zwischen den zerplatzenden Blasen fehlt noch, um die Angelegenheit rund zu machen.
In Nigeria, Benin und Ghana ist man in dieser Hinsicht schon etwas weiter, auch wenn man in Sachen theatrale Aufarbeitung noch etwas hinterherhinkt. Allerdings nicht dermaßen, wie es Joachim Fiebach noch aus den 1990er Jahren in Erinnerung hatte. Erstaunt registriert er, dass nicht nur Nollywood, das afrikanische Gegenstück zum indischen Bollywood, boomt, sondern an afrikanischen Universitäten „die Aufarbeitung des Faschismus auf deutschen Bühnen" zwecks politischer Bewusstseinsbildung auf dem Programm steht. Letztere kann man auch auf recht gelungenem Niveau in der Otto-Dix-Stadt Gera finden, wo Sinje Homann und Susanne Harkort eine „Akademie für angewandtes Leben" betreiben und nützliche Dingen lehren, zum Beispiel ultimativ barock: „Wie feiere ich richtig krank!" Ob die Regierungskoalition nach der Kinder - armut die Kinderarbeit auf der Agenda hat, wissen wir nicht, doch Günter Wallraff, der den Schutzschirm über das „Hotel Subbotnik" spannt, fordert präventiv: „Wenn wir Utopien ent wickeln, dürfen wir keine Angst haben, zu weit zu gehen." Man sieht, nach einem längeren Urlaub in der Welt des Posthistoire bekommt die Realität langsam wieder erkennbare Züge. Das Staatstheater Nürnberg nimmt sich unterdessen mit „Arbeits - Ende:Gestern - eine dokumentarische Collage" der postindustriellen Arbeitslosen von AEG an, die live von der großen Familie erzählen, in deren Kreis sie einst Existenzsicherung betrieben.
Im sturmgewohnten Hamburg geht es etwas weniger familiär zu. Am repräsentativen Schauspielhaus rüstet Unruheherd Volker Lösch Hartz IV-Empfänger der Hansestadt auf den Brettern, die was auch immer bedeuten, mit einem robusten Mandat aus. Und siehe da - Kollege Arbeitslos kann mit Facharbeitern im verstaubten Kostüm durchaus mithalten.
Kollegial gaben sich auch die Zivilpolizisten in Heiligendamm, die auffielen, weil sie ihre Mitdemonstranten beim Steinewerfen siezten. Für Johannes Schrettle ein zukunftsträchtiger Ausgangspunkt seines neuen Stückes „kollege von niemand". Welt und Einzelner sind in den letzten Tagen näher aneinandergerückt. Der Raum zwischen Realität und Wahrheit füllt sich mit Spannungen, Conditio sine qua non aller - Gott sei Dank zurückgekehrten - Dramatik. Die Redaktion
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Porträt | Seite 8 |
Boden ohne GrundDer Bühnenbildner Peter Pabst im Porträt. Eine Wiederbegegnung im Kunstmuseum Bochumvon Fabian Lettow | |
Gespräch | Seite 12 |
Frau Feinkost-Böhm und der KommunismusHarald Schmidt über Geld, Ideenklau und Despotismus im Gespräch mit Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch und Harald Schmidt | |
Krise | |
Der Luxus der LeereFrank Raddatz im Tischgespräch mit Friedrich Dieckmann, Wolfgang Engler und Helena Waldmann über Natur und Potenzial der Krisevon Friedrich Dieckmann, Wolfgang Engler, Frank M. Raddatz und Helena Waldmann | Seite 16 |
Banker in die UnterbühneZwölf Autoren und Künstler über die Finanzkrise und ihr Theater | Seite 24 |
Liebe Finanzkrisevon Volker Lösch | Seite 24 |
Ein Düsenjäger wenigervon Peter Konwitschny | Seite 26 |
Starren ins Allvon Hasko Weber | Seite 27 |
Die Welthaltigkeit, meine Bank und ichvon Johannes Schrettle | Seite 28 |
Bitten bei Bertelsmannvon Hansgünther Heyme | Seite 29 |
Gemalte Hänger oder Banker in die Unterbühne!von Tilman Gersch | Seite 30 |
Zurück zu den Wurzelnvon Athol Fugard | Seite 31 |
Jenseits des reinen Profitsvon Claudia Bosse | Seite 31 |
Blasenökonomie Kunstmarktvon Malte Ludwig | Seite 33 |
Im Monsterkabinettvon Kathrin Röggla | Seite 34 |
Moment der Wahrheitvon Etel Adnan | Seite 35 |
Ganz einfachvon Hans Jürgen Syberberg | Seite 36 |
Überleben heute | |
Haben statt Sein„Marat/Sade“ in der Regie von Volker Lösch am Schauspielhaus Hamburgvon Gunnar Decker | Seite 38 |
Gestatten, Kabelbau„ArbeitsEnde:Gestern“ am Staatstheater Nürnbergvon Sabine Wirth | Seite 40 |
Utopie mit VollpensionDas Projekt „Hotel Subbotnik“ der TheaterFabrik in Geravon Frauke Adrians | Seite 41 |
Hausporträt | |
Theaterträume von sozialer AktionDas Staatstheater Cottbus feiert seinen 100. Geburtstag mit einer „Trilogie der Träume“von Hartmut Krug | Seite 42 |
SommernachtssenfDie Neue Bühne Senftenberg beginnt die Saison mit Träumen und Alpträumenvon Martin Linzer | Seite 44 |
Ausland | Seite 46 |
Eine Million MagierTheater zwischen Lagos und Accra – ein Reisebericht aus Afrikavon Joachim Fiebach | |
Auftritt | |
Gute Aussichten im ZukunftspanoptikumFreiburgvon Bodo Blitz | Seite 50 |
´Die Uckermärkischen Bühnen feiern ihren 30. mit dem Klassiker „Nicht schummeln, Liebling“Schwedtvon Hartmut Krug | Seite 52 |
Thomas Melles „Schmutzige Schöpfung – Making of Frankenstein“ versinkt bei Alice Buddeberg im Lehmvon Michael Helbing | Seite 53 |
Viel Erzähltheater bei der Uraufführung von „Und in den Nächten liegen wir stumm“Hannovervon Alexander Schnackenburg | Seite 54 |
Sabine Loew inszeniert Wyrypajews „Juli“ temporeich und reduziertKonstanzvon Bodo Blitz | Seite 55 |
„Schicht C“ von Tobias Rausch thematisiert in einem Stadtprojekt die Schneekatastrophe von 1978Greifswaldvon Gunnar Decker | Seite 56 |
Lesarten | Seite 58 |
Bertolt Brecht „Der Brotladen“Maßnahmen 2008von Sebastian Kirsch | |
Kolumne | Seite 59 |
Gesellschaft mit Atembeschwerdenvon Josef Bierbichler | |
Stück | |
Möglichkeiten des WirJohannes Schrettle im E-Mail-Interview mit Lena Schneidervon Lena Schneider und Johannes Schrettle | Seite 60 |
„kollege von niemand“von Johannes Schrettle | Seite 61 |
Magazin | |
Neoliberalismus als DressurSympathisch undogmatisch - das Festival steirischer herbst 2008von Hermann Götz | Seite 65 |
Katastrophen mit AussichtDie Dortmunder favoriten 08 präsentieren sich als runderneuertes Festival der freien Szene in NRWvon Hans-Christoph Zimmermann | Seite 67 |
Universum der ErinnerungSpurensuche 9 - Arbeitstreffen der freien Kinder- und Jugendtheater in Berlin und Potsdamvon Anna Opel | Seite 68 |
Allein auf dem Rummelplatz der Welt16. Werkstatt-Tage der Kinder- und Jugendtheater im Theater der Jungen Welt Leipzigvon Michael Bartsch | Seite 69 |
"Aber es muss gelebt werden"Zum Tod des Regisseurs und Autors Ralf-Günter Krolkiewiczvon Roland Schneider | Seite 70 |
BücherP. Hacks/K. Ensikat: Gewisse Geheimnisse . P. Hacks/R. Hurzlmeier: Die Dinge in Butavon Holger Teschke | Seite 71 |
Gegendarstellungzu "Dramaturgen an die Macht oder Wie man der deutschen Gegenwartsdramatik sicher nicht weiterhilft" (Linzers Eck, 8/08)von Rolf Kemnitzer | Seite 72 |
Linzers Eck | Seite 73 |
Operativ zersetzte Biografien oder Kann man nach Hohenschönhausen Theaterstücke schreiben?von Martin Linzer | |
Magazin | Seite 74 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Meldungen | |
Korrespondenten | Seite 75 |
Bremen: Hausregisseur will nicht länger Hausregisseur seinvon Alexander Schnackenburg | |
Zittau: Hauptmann-Theater spielt weitervon Michael Bartsch | |
Magazin | Seite 75 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 76 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Premierenkalender | Seite 77 |
Dezember 2008 | |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
In der Krise liegt die Kraftvon Carmen Eller |
Etel Adnan
Frauke Adrians
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Bodo Blitz
Claudia Bosse
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Carmen Eller
Wolfgang Engler
Gerwig Epkes
Joachim Fiebach
Athol Fugard
Tilman Gersch
Hermann Götz
Michael Helbing
Hansgünther Heyme
Rolf Kemnitzer
Sebastian Kirsch
Peter Konwitschny
Hartmut Krug
Fabian Lettow
Martin Linzer
Volker Lösch
Malte Ludwig
Anna Opel
Frank M. Raddatz
Kathrin Röggla
Harald Schmidt
Alexander Schnackenburg
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Johannes Schrettle
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