Heft 04/2009
Das Reale überrumpeln
Die Regisseurin Claudia Bosse über die Lust an Widerständen
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Ernst Bloch warnt in „Erbschaft dieser Zeit" davor, dem Faschismus das Gebiet der „Irratio" zu überlassen. Gemeint waren Märchen, Mythen und Legenden. Heiner Müller nimmt in seinem Kommentar zu Syberbergs Epos „Hitler - Ein Film aus Deutschland" diese Argumentation auf, wenn er schreibt: „Der Film unternimmt die Wiedereroberung des besetzten Geländes." In Dresden haben sich Volker Lösch und Stefan Schnabel nun an ein schwieriges und von rechter Legendenbildung überwuchertes Thema gewagt - die Zerstörung Dresdens durch die Alliierten im Februar 1945. Eine höchst umstrittene militärische Aktion, die sich mehr gegen die Zivilbevölkerung richtete, als dass der militärische Nutzen einsichtig war. Einerseits nichts Neues, ist doch der Roman „Schlachthof 5", in dem Kurt Vonnegut, damals Kriegsgefangener in Dresden, seine Erlebnisse verarbeitet, längst mit großem Erfolg für die Bühne adaptiert worden. Und andererseits doch ein richtiger und längst notwendiger Schritt, dem vielleicht noch Aufarbeitungen folgen müssten, damit „Die Wunde Dresden", wie der sinnfällige Titel dieser Unternehmung lautet, nicht schwärt, sondern im Europa der Regionen vernarbt, was nebenbei natürlich nichts anderes ist als eine Allianz von Schuldigen. Lena Schneider hat dem Tanz auf der Nadelspitze beigewohnt und berichtet.
Um Schuldverflechtungen geht es auch in Schnitzlers „Der einsame Weg", den Filmregisseur Christian Petzold am Deutschen Theater fand, um mit Nina Hoss und Ulrich Matthes die bedeutsamen Bretter zu bespielen. Gunnar Decker bespricht das Ereignis. Gedämpft bei dicken Teppichen und Sahnetorte geht Dorte Lena Eilers mit dem Musiker und Autor PeterLicht und der Künstlerin S. E. Struck zur Sache, um zu erkunden, ob Ich-Müdigkeit und Melancholie Schlüsselbegriffe der Zeit darstellen oder nur Begriffsmedaillen, die in der umfassenden Produktionsgemeinschaft aller Lebenden auch da das Rad am Laufen halten, wo schon längst ewige Leere angesagt ist. Oder sind wir müde, weil wir vergiftet worden sind - vergiftet von der großen Woge des Konsums, die nichts anderes will als ...? Das lässt sich nachlesen in dem fulminanten Prosaessay von Armin Petras, der sich noch genau erinnert, wie die Zeit tropfte, als sie mit der klebrigen Gebärzange der Utopie gequetscht wurde, und wie sie jetzt über Autobahnen und Froschbrücken hippt.
Müde wurde man auch in Holland, dem einstigen Eldorado der freien Szene. Nicht weil das Theater zum Gähnen war, ganz im Gegenteil konnte das niederländische Theater gerade in den letzten Jahren Erstaunliches bieten. Nein, die Müdigkeit trat angesichts der Berge von Anträgen ein, die Jahr für Jahr vom Kulturrat gesichtet werden mussten. Deswegen schlug die Bürokratie nun zurück und entwickelte ein planwirtschaftliches Strukturmodell, das unsere Autorin Marijke Hoogenboom mit einiger Skepsis analysiert.
Dagegen pfeift die große Vorsitzende des theatercombinat wien Claudia Bosse im Gespräch mit Frank Raddatz auf die Segnungen des Stadttheaters, will sie doch dem öffentlichen Raum ihre eigene Signatur einschreiben. Da kann man nur mit Peter Sloterdijk sagen: „Wenn man's denn kann!" Und sie kann es. Im Oktober rüttelt sie Wiens XII. Bezirk gleich mit vier Tragödien durch. Ihr jedenfalls ist keine Müdigkeit anzumerken, macht sie es sich doch extra schwer und genießt die Herausforderungen - wozu auch das Unverständliche gehört.
Den Müden im Lande empfiehlt unser Hausarzt Dr. Bataille eine Erinnerungskur: „Die größte Gefahr liegt im Vergessen des dunklen und zerrissenen Untergrunds durch die Geburt des erwachten Menschen. Die größte Gefahr besteht darin, dass die Menschen, indem sie sich nicht mehr in die Dunkelheit des Schlafs und der Mutter-Tragödie verlieren, die Versklavung an die nützliche Arbeit vollenden."
Die Redaktion
P.S.: Mutter-Tragödie. Der erste Band des im Buchverlag von Theater der Zeit erschienenen Briefwechsels von Einar Schleef mit seiner Mutter liegt vor. Ein Auszug wird im Heft als Appetithäppchen angeboten.
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Künstlerinsert | Seite 2 |
Videostills und Fotosvon Constanze Fischbeck | |
Porträt | Seite 8 |
Charme des UnfertigenDie Bühnenbildnerin und Videokünstlerin Constanze Fischbeck im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Constanze Fischbeck | |
Gespräch | Seite 12 |
Sich in den öffentlichen Raum einschreibenDie Regisseurin Claudia Bosse über ihre Lust an Widerständen im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Claudia Bosse | |
20 Jahre Mauerfall | Seite 17 |
Dead on Arrivalvon Armin Petras | |
Porträt | |
Die toten SeelenDer Filmregisseur Christian Petzold inszeniert am Deutschen Theater Berlin Arthur Schnitzlers "Der einsame Weg"von Gunnar Decker | Seite 20 |
Sukzessive SelbstabschaffungPeter Licht und S.E. Struck über den verschwindenden Schlawiner Kapitalismus, Melancholieproduktion und ihr Festival vom unsichtbaren Menschen im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Peter Licht | Seite 24 |
Dauerlächelnde MöbelpackerPeter Lichts Festival vom unsichtbaren Menschen an den Münchner Kammerspielenvon Tristan Berger | Seite 27 |
Schleef spezial | Seite 29 |
Es grüßt dich ganz herzlich - "Einar und Gertrud Schleef - Briefwechsel 1963-1976"Ein Auszug aus dem Sommer 1968von Einar Schleef | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 32 |
Vom Umherschieben der MasseIn Großbuchstaben durch die Geschichte - Volker Löschs "Die Wunde Dresden" am Staatsschauspiel Dresdenvon Lena Schneider | |
Ausland | Seite 34 |
Recht auf RisikoWie in den Niederlanden kulturelle Planwirtschaft betrieben wird - und sich junge Künstler dagegen sträubenvon Marijke Hoogenboom | |
Auftritt | |
Ausgeträumt: "Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev..." (UA) von Philipp LöhleTheater Heidelbergvon Otto Paul Burkhardt | Seite 38 |
Ausgeträumt: "Liv Stein" (UA) von Nino HaratischwiliTheater Heidelbergvon Otto Paul Burkhardt | Seite 38 |
Wer hat das Geld versteckt?Theater Freiburg: "Bettleroper" (UA), Regie Christoph Frick; "Der Sturm" von Shakespeare, Regie Jarg Patakivon Bodo Blitz | Seite 40 |
Eine Geisel für einsame StundenOldenburg: "Meier Müller Schulz oder Nie wieder einsam!" (UA) von Marc Becker; "Platz der Republik" (UA) von Katharina Schmittvon Alexander Schnackenburg | Seite 42 |
Einspruch gegen VereinzelungTheaterlabor Bremen: "Plutos oder Wie der Reichtum sehend wurde" nach Aristophanes, Bearbeitung und Regie Frank-Patrick Steckelvon Anna Opel | Seite 44 |
Keine RuheTheater der Jungen Welt Leipzig: "Bis in die Wüste" von Jean-Michel Räbervon Christian Horn | Seite 45 |
TheaterabendunsinnsritualNeues Theater Halle: "Der Raub der Sabinerinnen" von Paul und Franz von Schönthanvon Christian Horn | Seite 46 |
Endstation AbflughalleStaatstheater Wiesbaden: "Funkenflug" (DEA) von Tena Ŝtivičićvon Shirin Sojitrawalla | Seite 47 |
Lesarten | Seite 48 |
William Shakespeare "König Lear"Der wahre Narr des Glücksvon Gunnar Decker | |
Kolumne | Seite 49 |
Der Sizilianervon Ralph Hammerthaler | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 50 |
Sag ihr oder sag ihr nichtWie Caryl Churchills Stück "Sieben Jüdische Kinder - Ein Stück für Gaza" am Londoner Royal Court Theatre die Zuschauer polarisiertvon Lydia Ziemke | |
Stück | Seite 52 |
Sieben Jüdische Kinder - Ein Stück für Gazavon Caryl Churchill | |
Magazin | |
Neuberin der NeuzeitDer Theaterprinzipalin Ariane Mnouchkine zum 70. Geburtstagvon Eberhard Spreng | Seite 55 |
Im kalten Wasser egoistischer BerechnungMit "L'Ordinaire" inszeniert Michel Vinaver erstmals ein eigenes Stückvon Maurice Taszman | Seite 56 |
EurovisionenDie Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Erlangen fragte nach europäischem Theatervon Anna Teuwen | Seite 58 |
Agitation zwischen Patzifikstrand und East EndDer Aufbruch von Vancouvers Theaterszene beim 5. PuSh-Festivalvon Christian Horn | Seite 59 |
Lateinamerika in der HauptrolleWie das chilenische Theaterfestival Santiago a Mil den Kontinent erobertvon Ilona Goyeneche | Seite 60 |
Nicht ganz brav und nicht ganz schrägDas Societaetstheater, ältestes und zugleich jüngstes Theaterhaus Dresdens, wird zehnvon Michael Bartsch | Seite 62 |
Glotzen oder SehenDie Ausstellung "Blick-Wechsel! Die Kunst des Zuschauens" im Theatermuseum Düsseldorfvon Andreas Rehnolt | Seite 63 |
Marx in tausend DetailsAlexander Kluge hat "Das Kapital" verfilmt - "Nachrichten aus der ideologischen Antike" in neun Stundenvon Sebastian Kirsch | Seite 64 |
BücherThomas Berhard: Meine Preise. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., 2009, 144 S., 15,80 EUR.von Klaus Dermutz | Seite 65 |
Radiovorschau | Seite 66 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 67 |
Berliner Störfälle oder Naht das Ende des "Regie-Theaters"?von Martin Linzer | |
Korrespondenten | Seite 68 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Augsburg: Brecht endlich wieder provinziellvon Willibald Spatz | |
Berlin: Das GRIPS Theater flüchtetvon Kasimir Schmeicher | |
Aufgelesen | Seite 69 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Meldungen | Seite 69 |
Premierenkalender | Seite 71 |
Autoren | Seite 73 |
Impressum | Seite 73 |
Kommentar | Seite 74 |
Winnenden. Angriff auf die Superchiffrevon Ulrike Haß |
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