Heft 05/2010
Theatertreffen 2010
11 Einladungen - 11 Alternativen
Broschur mit 96 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
„Es liefert sich aus, ohne Rückhalt in Ironie oder Zynismus.“ Lena Schneider gelingt es, das Credo echten Gegenwartstheaters programmatisch zu benennen. Das trifft nun leider nicht für jene Inszenierungen zu, die die Jury zum Berliner Theatertreffen akklamierte. Offenbar ein Team, das selbst dem Zug der Zeit nur hinterherwinken kann. Mit einem in dieser Form wohl einzigartigen Kraftakt haben wir für die Maiausgabe nicht nur alle Einladungen ausführlich begutachtet, sondern auch im gleichen Umfang die Gegenprobe veranstaltet und Korrespondenten wie Redakteure um eigene Vorschläge gebeten. Das Ergebnis ist frappant. Das angebliche Qualitätsurteil erweist sich angesichts der Faktenlage als eindeutig politisch konnotiert. Wenn allerorten überzeugende und Mut machende Arbeiten von der Frage Roland Barthes’ angetrieben werden: „Wie zusammen leben?“ – so Sebastian Kirsch im Zusammenhang mit seiner Besprechung von Laurent Chétouanes „Dantons Tod“ –, huldigt man in Berlin dem überkommenen Geist der Repräsentation, lädt die bekannten Marken aus Wien, Berlin und München auf den Laufsteg zur „Modenschau der Abgewirtschafteten“ (Margarete Affenzeller) und verkleistert die Widrigkeiten der Realität, während das Theater den Zusammenbruch der neoliberalen Utopie als neue Kraftquelle entdeckt. Ob in Rostock oder Freiburg, in Hannover, Köln, Dresden oder München – überall demonstrieren kraftvolle Inszenierungen die Rückkehr der Geschichte als unberechenbare Größe.
Doch statt sich entschlossen der Zukunft zu stellen, opfert man mit Roland Schimmelpfennig einen kleinen Chinesen auf dem Altar der Spaß-und-Konsens-Kultur, ergeht sich in Ressentiments gegen die Globalisierung und unterschlägt den von Tilmann Köhler in Szene gesetzten „Aufstand des Büchsenfleischs“ (Lena Schneider). Der ewige Marthaler wird abonniert, wobei, so Margarete Affenzeller aus Wien, durchaus angezweifelt werden darf, ob eine Produktion herausragt, „die nach einem bewährten Muster ihre geschätzte Kurve nahm“. Ähnlich urteilt Christoph Leibold aus München über Luk Percevals „Kleiner Mann – was nun?“: „In einer Zeit, da die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg längst auch den Mittelstand und vermeintlich gehobenere bürgerliche Schichten erfasst hat, ist das als Kommentar zur Gegenwart ein bisschen zu wenig.“ Auch die Ovation des Authentischen, wie es das Nature Theater of Oklahoma so fein zelebriert, wird im deutschen Powerhaus des Theaters ja nicht erst seit gestern gefertigt. Und selbst das wäre als geschichtliches Sediment zu bekommen. Beispielsweise von Stefan Kaegi in München, wo eine junge Frau auftritt, „die aus dem Bürgerkriegsland Somalia geflüchtet ist. Oder ein Kameramann, der unter Lebensgefahr im Jugoslawienkrieg gedreht hat“ (Christoph Leibold).Die in die Hauptstadt geladene Auswahl ist, so die traurige Bilanz, von einer irrationalen Phobie gegenüber der Geschichte bestimmt. Das mag gestern schick gewesen sein, heute bewegt man sich damit nicht mehr auf Ballhöhe. „Die Geschichte spielt immer mit. Entweder das Theater weiß davon oder nicht“, konstatiert Gunnar Decker trocken. Und so ergibt sich das seltsame Bild, dass das Theater weiß, aber seine obersten Aussteller davon nichts wissen wollen und sich wie Gourmets die verdaulichen Weisheiten herauspicken. Für sie gilt, was Ralf-Carl Langhals über „Der Mann der die Welt aß“ festhält: „Er, der bisher stets Erfolgreiche, will alles richtig machen, kann es nicht und verliert den Überblick!“ Wir können nur hoffen, dass die deutsche Auswahl bei der WM nicht ebenso verschlafen daherkommt wie dieses Theatertreffen.
Die Redaktion
PS: Selbst die Kunst des Choreografen, Regisseurs und Autors Jan Fabre, dessen neuestes Stück Ende Mai in Düsseldorf zu sehen sein wird und sich hier abgedruckt findet, wühlt in den Mythen und im Dreck der Geschichte, wie Frank Raddatz erfuhr.
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Künstlerinsert | Seite 2 |
Bühnenbildervon Katrin Hoffmann | |
Porträt | Seite 8 |
Die Eroberung des RaumesDie Bühnenbilder von Katrin Hoffmann legen in Falk Richters Inszenierungen den Blick für das Wesentliche freivon Anja Dürrschmidt | |
Debatte | Seite 14 |
Das Stadttheater sind wirKarin Beier, Intendantin des Schauspiel Köln, im Gesprächvon Sebastian Kirsch und Karin Beier | |
Theatertreffen Berlin | |
In der Endlosschleife gefangenoder Hat das Theatertreffen (k)eine Zukunft?von Martin Linzer | Seite 19 |
Ich sehe nix, mein Herr!Das Berliner Theatertreffen, als die Stadt noch ein Unort warvon Andrzej Tadeusz Wirth | Seite 21 |
Die Auswahl | |
Amüsiert euch malSchauspiel Köln: „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth, Regie Johan Simons und Paul Koek, Bühne Bert Neumann, Kostüme Nina von Mechow (Premiere 3. Dezember 2009)von Dorte Lena Eilers | Seite 22 |
Eine wunderbare UnmöglichkeitBurgtheater Wien: „Life and Times – Episode 1“, Konzept und Regie Kelly Copper und Pavol Liska / Nature Theater of Oklahoma, Ausstattung Peter Nigrini (Premiere 7. September 2009)von Judith Staudinger | Seite 24 |
Die Masse Mensch als RührstückMünchner Kammerspiele: „Kleiner Mann – was nun?“ nach Hans Fallada, Regie Luk Perceval, Bühne Annette Kurz, Kostüme Ilse Vandenbussche (Premiere 25. April 2009)von Christoph Leibold | Seite 26 |
Palim, Palim!Deutsches Theater Berlin: „Diebe“ von Dea Loher, Regie und Bühne Andreas Kriegenburg, Kostüme Barbara Drosihn (UA 15. Januar 2010)von Sebastian Kirsch | Seite 28 |
Modenschau der AbgewirtschaftetenWiener Festwochen: „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ von Christoph Marthaler und Anna Viebrock, Regie Christoph Marthaler, Bühne Anna Viebrock, Kostüme Sarah Schitteck (UA 10. Mai 2009)von Margarete Affenzeller | Seite 30 |
Widerspenstige ZierfischeSchauspiel Köln: „Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“ nach dem Film von Ettore Scola, Regie Karin Beier, Bühne Thomas Dreissigacker, Kostüme Maria Roers (UA 8. Januar 2010)von Lena Schneider | Seite 32 |
Ein bisschen wie im FernsehenThalia Theater Hamburg: „Liebe und Geld“ von Dennis Kelly, Regie Stephan Kimmig, Bühne Katja Haß und Oliver Helf, Kostüme Anja Rabes (Premiere 21. März 2009)von Annette Stiekele | Seite 34 |
Es lebe das RessentimentBurgtheater Wien: „Der Goldene Drache“ von Roland Schimmelpfennig, Regie Roland Schimmelpfennig, Ausstattung Johannes Schütz (UA 5. September 2009)von Frank M. Raddatz | Seite 36 |
Die Sprache des GeldesThalia Theater Hamburg: „Die Kontrakte des Kaufmanns“ von Elfriede Jelinek, Regie Nicolas Stemann, Bühne Katrin Nottrodt, Kostüme Marysol del Castillo (UA 16. April 2009 Schauspiel Köln)von Gunnar Decker | Seite 38 |
Schnellfeuer der PoesieSchauspielhaus Graz: „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ von Peter Handke, Regie Viktor Bodó, Bühne Viktor Bodó und Pascal Raich, Kostüme Fruzsina Nagy (Premiere 14. Mai 2009)von Hermann Götz | Seite 40 |
Der Knick in der MitteKampnagel Hamburg / FFT Düsseldorf: „Othello c’est qui“ von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen (UA 29. Februar 2008 auf Kampnagel / Preisträger Festival Impulse)von Sebastian Kirsch | Seite 42 |
Theatertreffen Die Alternative | |
Ohne Zynismus – Ohne IronieDas Theatertreffen eines wirklich programmatischen Gegenwartstheatersvon Frank M. Raddatz | Seite 44 |
Momente des ÜbergangsVolkstheater Rostock: „Alles offen“, Regie Tobias Rausch / lunatiks produktion, Ausstattung Michael Böhler (UA 3. Oktober 2009)von Gunnar Decker | Seite 46 |
Bell mal!Schaubühne Berlin: „Trust“, Text Falk Richter, Regie und Choreografie Falk Richter und Anouk van Dijk, Bühne Katrin Hoffmann, Kostüme Daniela Selig (UA 10. Oktober 2009)von Nicole Gronemeyer | Seite 48 |
Frau ParzivalSchauspiel Hannover: „Parzival“ von Lukas Bärfuss nach Wolfram von Eschenbach, Regie Lars-Ole Walburg, Bühne Reinhild Blaschke, Kostüme Kathrin Krumbein (UA 16. Januar 2010)von Dorte Lena Eilers | Seite 50 |
Ein anderes StadttheaterNeue Bühne Senftenberg: „Die Hermannsschlacht“ von Christian Dietrich Grabbe, Regie Sewan Latchinian, Ausstattung Tobias Wartenberg (Premiere 3. Oktober 2009)von Hartmut Krug | Seite 52 |
Der Aufstand des BüchsenfleischsStaatstheater Dresden: „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht, Regie Tilmann Köhler, Bühne Karoly Risz, Kostüme Susanne Uhl (Premiere 17. Oktober 2009)von Lena Schneider | Seite 54 |
Eine Angelegenheit des VolkesSchauspiel Köln: „Dantons Tod“ von Georg Büchner, Regie Laurent Chétouane, Bühne Patrick Koch, Kostüme Sanna Dembowski (Premiere 16. Januar 2010)von Sebastian Kirsch | Seite 56 |
Multiples OpfertribunalTheater Heidelberg: „Der Mann der die Welt aß“ von Nis-Momme Stockmann, Regie Dominique Schnizer, Bühne und Kostüm Christin Treunert (UA 17. Dezember 2009)von Ralf-Carl Langhals | Seite 58 |
Geschichte, ein GespensterreigenStaatsschauspiel Stuttgart: „Die Flucht“ von Michail Bulgakow, Regie Sebastian Baumgarten, Bühne Peter Schubert, Kostüme Tabea Braun (Premiere 28. November 2009)von Otto Paul Burkhardt | Seite 60 |
Rüstungsvertreter in RaubkopieMünchner Kammerspiele: „Sicherheitskonferenz“, Konzept und Regie Stefan Kaegi, Ausstattung Eva-Maria Bauer (UA 22. Oktober 2009)von Christoph Leibold | Seite 62 |
Arbeite! Spare! Bete!Theater Freiburg: „Buddenbrooks“ nach Thomas Mann, Fassung und Regie Viola Hasselberg und Jarg Pataki, Bühne Anna Börnsen, Kostüme Margret Burneleit (Premiere 10. Oktober 2009)von Bodo Blitz | Seite 64 |
Die Ichs auf der Hand des KellnersTheater Marie Aarau: „Orlando“ nach Virginia Woolf, Regie Nils Torpus, Ausstattung Andy Giger und Ensemble (UA 18. März 2009)von Simone von Büren | Seite 66 |
Lesarten | Seite 68 |
Eine Welt, die sich rötetAischylos „Agamemnon“von Michael Astroh | |
Kolumne | Seite 69 |
Angriffe auf Annevon Ralph Hammerthaler | |
Gespräch | Seite 70 |
Für eine unzeitgemäße AvantgardeDer Choreograf, Regisseur und Autor Jan Fabre im Gespräch mit Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Jan Fabre | |
Stück | Seite 71 |
Der Diener der Schönheitvon Jan Fabre | |
Verlage im Porträt (7) | Seite 79 |
Ein Tusch den Drahtziehern20 Jahre henschel Schauspiel Berlin – Ein Besuch bei Frank Kroll, Lektor und Geschäftsführervon Gunnar Decker | |
Magazin | Seite 80 |
Die Tube Seele auspressenDas 7. Körber Studio Junge Regie in Hamburgvon Friederike Felbeck | |
etc.von Sebastian Kirsch | |
Bücher | |
Der Verwandler – Klaus Michael Grüber.Ein Bildband von Ruth Walz und Karl-Ernst Herrmann mit Texten von Bruno Ganz. Alexander Verlag, Berlin 2009, 224 S., 58 EUR.von Nicole Gronemeyer | Seite 82 |
Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland.Hrsg. von Janine Ludwig und Mirjam Meuser, Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen, Freiburg 2009, 290 S., 29,90 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 83 |
Aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 88 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 89 |
(25)Meese hin oder her – das Prinzip Petras jedenfalls hat sich bewährt. Eine Lobpreisungvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 90 |
Frankfurt (Oder): Solidarität mit Wuppertalvon Martin Linzer | |
Warschau: Theater wegen Trauer geschlossenvon Friederike Felbeck | |
Meldungen | Seite 91 |
Leserbrief zum Artikel „Die verlorene Stimme. Über die Wiederbelebung des katalanischen Sprechtheaters“ von Dietrich Grosse, TdZ 03/2010von Lilli Nitsche | |
Premieren | Seite 92 |
Mai 2010Deutschland / Österreich / Schweiz / Festival Deutschland | |
Autoren | Seite 95 |
Impressum | Seite 95 |
Kommentar | Seite 96 |
Beerdigungskultur statt Totenkultvon Gunnar Decker | |
Ankündigungen | Seite 96 |
Debatte | |
Nachruf | Seite 96 |
Zum Tod von Werner Schroeter am 12. April 2010 |
Margarete Affenzeller
Michael Astroh
Karin Beier
Bodo Blitz
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Anja Dürrschmidt
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Jan Fabre
Friederike Felbeck
Hermann Götz
Nicole Gronemeyer
Ralph Hammerthaler
Katrin Hoffmann
Sebastian Kirsch
Hartmut Krug
Ralf-Carl Langhals
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