Heft 05/2011
Im Bergwerk der Seele
Perceval inszeniert Borchert
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Alle Jahre wieder steht das Theatertreffen vor der Tür. Auch in diesem Jahr ist eine fleißige Jury durchs Land gereist, um den Sack mit Präsenten für das Berliner Publikum prall zu füllen. Eine Theaterzeitung, die in Berlin erscheint, kommt schwer um diese Festtage des Theaterjahres herum, auch wenn sie in der gesamten Republik, in der Schweiz, Österreich und auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes gelesen wird. Zusätzlich zur Mai-Ausgabe veröffentlichen wir daher zu diesem Zentralereignis des Theaterjahres eine Beilage, die im handlichen Format – zu finden auf der Titelseite jeder Ausgabe – alle zehn eingeladenen Inszenierungen kommentiert, analysiert und begleitet. Der eigentliche Knaller in diesem Jahr ist dabei der Durchbruch der freien Szene bzw. der neuen Theaterformen auf breiter Front. Zu Recht, wird doch von den Ausbildern in Gießen & Co. ein innovatives Potenzial freigesetzt, das die Stadttheater alt aussehen lässt. Was die schwer begabten Schauspieler dieses Landes eigentlich machen, während die Laien mit Efeu im Haar auf der Bühne jubilieren, wäre eine eigene Untersuchung wert.
Dass entgegen allen Versuchen des Theaters, Realität aufzuheben und damit als veränderbar zu zeigen, die Wirklichkeit auch gern zurückschlägt, ist bekannt. Doch nur selten geschieht es derart primitiv und brutal wie in Jenin (Westjordanland), wo Juliano Mer Khamis, der Theatermacher und Leiter des Freedom Theatre, Anfang April mit fünf gezielten Schüssen ermordet wurde. Renate Klett berichtet.
In einer Zeit, wo die Schauplätze der bewaffneten Konflikte permanent zunehmen, die Allgegenwart des Krieges immer alltäglicher wird, ist es kein Zufall, dass Luk Perceval ausgerechnet dem verstaubten Borchert-Text „Draußen vor der Tür“ über den traumatisierten Kriegsheimkehrer Beckmann neue Dimensionen abgewinnt. „Es ist ein einziger Todestraum, der Blick zurück desjenigen, der bereits über die Grenze ging und nun nicht mehr dazugehört zu den Lebenden“, schreibt Gunnar Decker begeistert. Den Wiedergänger spielt Felix Knopp.
Den permanenten Krieg auch als Krieg der Geschlechter macht die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken als Paradigma von Heinrich von Kleists „Herrmannsschlacht“ sinnfällig: „Deutsch heißt nach Kleist, dass Ehemänner ihre Ehefrauen, Väter und Landesväter ihre Töchter vertieren. Es ist die vollkommene Pervertierung dessen, was das römische Kriegsprinzip des guten Krieges, aber auch der legitimen Revolution schützen sollte: mit der patria potestas die res publica.“ Ganz Kleist-nah auch Mirjam Meusers Lesart von Stefan Schütz’ „Laokoon“-Drama. Der Seher besteht vergebens auf der Zerstörung des Trojanischen Pferdes und „warnt das Volk vor der Macht des Wunsches: der Sehnsucht nach Frieden, die blind macht und das Denken lähmt!“
Einen ganz anderen Krieg führt der französische Kultautor Valère Novarina, der mit einer überbordenden Sprache gegen das neoliberale Menschenbild eines vernünftig sprechenden und auf Effektivität bedachten Wesens zu Felde zieht. Frank Raddatz zeigt sich beeindruckt und empfiehlt dem Leser, sich den Stückabdruck „Die Szene“ zu Gemüte zu führen, um sich in die Irre führen zu lassen.
Obsessionen ganz anderer Art huldigt das skulpturale Theater John Bocks. Der hippe Aktionskünstler inszeniert am liebsten Objekte und dann „sich selbst, weil anfangs niemand da war, der das machen wollte“. Das chaotische Inferno, so Ute Müller-Tischler, bringt auch den Theaterdiskurs ganz schön ins Schleudern. Das vermögen auch Einar Schleefs in „Droge Faust Parsifal“ formulierten theatertheoretischen Thesen, wie die Inszenierung von Armin Petras „Droge Faust“ mit den Theaterwunderkindern Anja Schneider und Thomas Lawinky in Leipzig zeigt. „Das ist ein Hammer!“, sagte Schleef, wenn ihm etwas gefiel. „Das ist in der Tat ein Hammer.“
In diesem Sinne freuen wir uns, Sie auch in diesem Jahr im Rahmen des Theatertreffens wieder in unserem Container vor dem Haus der Berliner Festspiele begrüßen zu dürfen.
Die Redaktion
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Künstlerinsert | Seite 2 |
„Malträtierte Fregatte“Eine Performance im Magazin der Staatsoper Berlin 2006von John Bock | |
Magazin | Seite 3 |
Meister der menschlichen KommunikationZum Tod des Sprecherziehers Egon Aderhold (1929–2011)von Herbert Minnich | |
Künstlerporträt | Seite 8 |
SummenmutationenEin Gespräch über Überraschungsdistanzen und Universen voll Halluzinationenvon Ute Müller-Tischler und John Bock | |
Porträt | Seite 12 |
Im Bergwerk der SeeleLuk Perceval inszeniert am Thalia Theater in Hamburg Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“von Gunnar Decker | |
Ausland | Seite 18 |
Wenn die Realität stärker ist als die UtopieZur Ermordung des Theatermachers und Leiters des Freedom Theatre in Jenin Juliano Mer Khamisvon Renate Klett | |
Kleist 2011 | Seite 22 |
Kleist 2011 (5): Wenn Väter Töchter vertierenHeinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ – Revision eines falsch verstandenen Nationalepos. Ein Essayvon Barbara Vinken | |
Hausporträt | Seite 26 |
Brüchige ExistenzenWährend auf der Bühne die Weltwirtschaft kriselt, glänzt der Neubau des Nürnberger Schauspielhauses ganz krisensichervon Sabine Wirth | |
TdZ entdeckt | |
In jedem Rückblick ein AusblickDer Regisseur Sebastian Blasius übermalt die Inszenierungen von anderen – und zeigt, dass Reenactments neue, verstörende Stücke hervorbringen könnenvon Timmy De Laet | Seite 28 |
Nur nicht bremsen lassenMatthias Reichwald beweist, dass die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenrolle so obsolet ist wie die zwischen Regisseur und Schauspielervon Johanna Lemke | Seite 29 |
Ausbildung | Seite 30 |
Existenz erspielenDie traditionsreiche Russische Theaterakademie GITIS in Moskau zeigt, dass die stanislawskische Formel des „Ich in vorgeschlagenen Umständen“ viele Formen zulässtvon Ruth Wyneken | |
Gespräch | Seite 32 |
Mit dem Menschenbild unser Spiel treibenDer französische Autor Valère Novarina im Gespräch über das Geheimnis, wie das Wirbeln der Sprache unser Menschenbild befreitvon Frank M. Raddatz und Valère Novarina | |
Stück | Seite 36 |
„Die Szene“von Valère Novarina | |
Kolumne | Seite 51 |
Drittens. Stoß nach vornvon Ralph Hammerthaler | |
Auftritt | |
Dresden: Im unschuldigsten Weiß beginnt die ApokalypseStaatsschauspiel Dresden: „Das halbe Meer“ (UA) von Thomas Freyer. Regie Tilmann Köhler, Bühne Karoly Risz, Kostüm Susanne Uhlvon Michael Bartsch | Seite 52 |
Göttingen: Wutbürger – ist das was zu essen?Deutsches Theater: „Wunderkinder“ (UA) von andcompany&Co. Regie und Kostüme andcompany&Co., Bühne Jan Brokofvon Hans-Thies Lehmann | Seite 53 |
Kassel: Was der Mensch so treibt, und wieStaatstheater: „Sex“ (DE) von Justine del Corte. Regie und Bühne Johannes Schütz, Kostüme Lane Schäfervon Alexander Kohlmann | Seite 54 |
Leipzig: Ein HammerCentraltheater: „Droge Faust“ (UA) von Armin Petras nach Einar Schleef und Johann Wolfgang von Goethe. Regie Armin Petras, Ausstattung Patricia Talackovon Frank M. Raddatz | Seite 55 |
Lübeck: Absoluter NiedergangTheater Lübeck: „Der Fall der Götter“ nach „Die Verdammten“ von Luchino Visconti. Regie Pit Holzwarth, Ausstattung Werner Brennervon Johanna Egger | Seite 56 |
Lesarten | Seite 57 |
„Laokoon“ von Stefan Schützgelesenvon Mirjam Meuser | |
Magazin | |
Weltbürger von hinter de BergenVor 100 Jahren wurde Max Frisch geborenvon Gunnar Decker | Seite 58 |
Ein beispielloser FundusFestival für Internationale Neue Dramatik F.I.N.D. 2011 an der Berliner Schaubühnevon Lydia Ziemke | Seite 60 |
Nicht nur Kindersoldaten und GoldgräberMit „Projekt Afrika – Fremde“ versucht das Berliner Theater 89 eine Annäherung an den Kontinent jenseits von Klischeesvon Martin Linzer | Seite 61 |
Nahrhaft oder ungenießbar?Ein neues Leitungsteam will das Fabriktheater der Roten Fabrik in Zürich zu einem Ort für mutige Experimente machenvon Simone von Büren | Seite 62 |
etcvon Sebastian Kirsch | |
Bücher | |
Lücken sehen ... Beiträge zu Theater, Literatur und Performance. Festschrift für Hans-Thies Lehmann zum 66. GeburtstagHrsg. von Patrick Primavesi und Martina Groß, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2010, 334 S., 45,00 EUR, ISBN 978-3-8253-5777-1von Sebastian Kirsch | Seite 64 |
Kuan-wu Lin: Westlicher Geist im östlichen Körper? „Medea“ im interkulturellen Theater Chinas und Taiwanstranscript Verlag, Bielefeld 2010, 376 S., 34,80 EUR, ISBN 978-3-8376-1350-6von Lin Chen | Seite 65 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | |
Radiovorschau | Seite 66 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 67 |
(35): Die Berliner Volksbühne als Drehort: Drei gefilmte Lebenswege rund um den Rosa-Luxemburg-Platz. Zwei freundliche Empfehlungen – und eine dringlichevon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 68 |
Basel: Spiel um Schuld und Sühne am Theater Baselvon Dominique Spirgi | |
Schwerin: Politisch verordnetes Theatersterbenvon Gunnar Decker | |
Kommentar | Seite 69 |
Das kaputtgesparte „Käthchen“ von Frankfurt (Oder)von Stephanie Lubasch | |
Meldungen | Seite 70 |
Premieren | Seite 71 |
Mai 2011 | |
Vorschau | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Autoren | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Rolf Hochhuth?von Gunnar Decker und Rolf Hochhuth |
Michael Bartsch
John Bock
Lin Chen
Timmy De Laet
Gunnar Decker
Johanna Egger
Gerwig Epkes
Ralph Hammerthaler
Rolf Hochhuth
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Alexander Kohlmann
Hans-Thies Lehmann
Johanna Lemke
Martin Linzer
Stephanie Lubasch
Mirjam Meuser
Herbert Minnich
Ute Müller-Tischler
Valère Novarina
Frank M. Raddatz
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Sabine Wirth
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