Heft 06/2011
Christoph Schlingensief
Hommage in Venedig
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Das Schreckgespenst der Krise hat sich verzogen. Jedenfalls aus Deutschland, „diesem neuen, wilden Kontinent im Innern Europas“, wie Roberto Calasso mit dem Blick des 18. Jahrhunderts beschreibt, was plötzlich aus den Nebelmeeren Caspar David Friedrichs auftaucht. Dagegen scheint sich die Krise an den südlichen und westlichen Rändern des Unionsgebiets umso beharrlicher festzukrallen. Wie aber agiert das Theater am Abgrund des Staatsbankrotts? Erstaunlich stabil, zeigt ein Blick auf das arg gebeutelte Griechenland. Im Geburtsland des Theaters sind die Aufführungen nach wie vor gut besucht, verteidigen die Zuschauer ihre Theater mit Händen und Füßen. Auch wenn die Mittel knapper werden, herrscht noch Hoffnung im hellenischen Theaterland.
Zeichen der Hoffnung hat auch Christoph Schlingensief gepflanzt. Kurz vor seinem Tod von Kuratorin Susanne Gaensheimer eingeladen, den Deutschen Pavillon auf der Kunstbiennale in Venedig 2011 zu gestalten, entwarf er u. a. ein afrikanisches Wellnesszentrum mit deutlichem Bezug zum Operndorf. Ute Müller-Tischler sprach mit der Kostümbildnerin und Witwe von Christoph Schlingensief Aino Laberenz über seine Ideen und die neuen Entwürfe für den Pavillon in Venedig sowie über den Versuch, Zeichen des Optimismus und Möglichkeiten der Kreativität auf dem schwarzen Erdteil zu setzen. Arbeitsmöglichkeiten will auch Stefan Hilterhaus gewähren. Der künstlerische Leiter von PACT Zollverein in Essen sprach mit Sebastian Kirsch über Residenzprogramme, den „Herzschlag des Hauses“ und fragt sich und damit auch uns, wie in Zukunft der Falle der „Kreativwirtschaftsveranstalter“ zu entgehen sei.
Zur „Kreativwirtschaft“, dem neuen Zauberwort der neoliberalen Menschenfresser, lässt sich das Gefängnistheater-Stück „Vamos al Oro!“ (Auf zum Gold!) in der Haftanstalt Colina 1 unweit von Santiago de Chile sicherlich nicht zählen. Der Berliner Regisseur Peter Atanassow formte auf der Basis von Bertolt Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ und Pablo Nerudas „Glanz und Tod des Joaquín Murieta“ rivalisierende Insassen zu wuchtigen Chören. Tom Mustroph porträtiert die Arbeit des Regisseurs in Chile, der dieses Jahr für seine Arbeiten mit dem Gefängnistheater aufBruch in der Berliner Haftanstalt Tegel den George-Tabori-Förderpreis 2011 erhielt. Der Welt des Verbrechens widmet sich auch das Theaterhaus Jena. Man zeigt „Gotham City“. „Dort, wo sich einst Batman zum Rächer der Erniedrigten und Beleidigten aufschwang, lebt man längst jenseits jeder Heldendämmerung, in einer Stadt voller Sex and Drugs, aber ohne Rock ’n’ Roll“, resümiert Michael Helbing das Ende der siebenjährigen Ära Markus Heinzelmann.
Einen Neuanfang hat dagegen Bremerhaven zu verzeichnen. Der frischgebackene Intendant Ulrich Mokrusch öffnet dem Stadttheater neue Räume. Bei „Verzögerte Heimkehr. Einige reisen nach Eldorado“ von matthaei & konsorten wirken sechzig Einwohner mit. Im seit einigen Jahren leerstehenden Bremerhavener Luxushotel Naber werden – so berichtet Alexander Schnackenburg – vorab recherchierte Biografien Bremerhavener Bürger nacherzählt. Ganz im zeitgemäßen Design des Authentischen geht es an der Nordsee nun zur Theatersache.
Ob sich Heinrich von Kleist auch schon für die Signatur des Authentischen interessierte, fragt sich Frank Raddatz und muss feststellen, dass sich der Autor der „Penthesilea“, als Anhänger des Wilden im Menschen, ganz im Gegenteil für den Mehrwert der Simulation begeisterte. Alkmene, noch außer sich und von Ekstase erschüttert, legt Kleist die Frage vor, wer denn echter sei: ihr Mann oder der schauspielernde Gott. Sie entscheidet sich – ach – für die Simulation und damit einmal mehr für die Lust am oder beim Theater. Bei Kristian Smeds hingegen geht es direkter zu. Der finnische Autor und Regisseur, schreibt Anna Teuwen in ihrem Porträt, vergleicht sein Theater gerne mit einer öffentlichen Sauna: Es soll Dinge herausschwitzen, die sonst verborgen bleiben. In diesem Sinne wünschen wir einen erfüllten Sommer.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | Seite 2 |
Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der 54. Kunstbiennale 2011 in Venedignach Ideen von Christoph Schlingensiefvon Aino Laberenz | |
Gespräch | Seite 8 |
Er war schon immer einen Schritt weiterDie Kostümbildnerin und Witwe von Christoph Schlingensief Aino Laberenz über Fluxus, Lebensfluss und die Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der Kunstbiennale in Venedigvon Ute Müller-Tischler und Aino Laberenz | |
Ausland | Seite 12 |
Die Stadt und der BankrottAthener Bühnen in Zeiten der Krise (Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese)von Kostas Annoussis | |
Freie Szene | Seite 16 |
Ein Haus für die Kunst, nicht umgekehrtStefan Hilterhaus, künstlerischer Leiter PACT Zollverein Essen, im Gesprächvon Sebastian Kirsch und Stefan Hilterhaus | |
Kleist 2011 | Seite 19 |
Alkmene im Spiegel der EkstaseHeinrich von Kleists „Amphitryon“ durch die Lupe des Authentischenvon Frank M. Raddatz | |
Schnittstellen | |
Die Narration gelebten LebensEin internationales Symposium über Gefängnistheater in Chile diskutiert das Verhältnis von Knast und Kunstvon Tom Mustroph | Seite 22 |
Echo vergangener MännerhordenDer Regisseur Peter Atanassow vom Berliner aufBruch-Theater hat für seine Arbeit mit Gefängnisinsassen eine bestechende ästhetische Form gefunden – den Chorvon Tom Mustroph | Seite 25 |
Neustart | Seite 26 |
Auf und davonBremerhavens neuer Intendant Ulrich Mokrusch will das Theater wieder mehr zur Stadt öffnen – und verlässt dafür gern auch mal das eigene Hausvon Alexander Schnackenburg | |
Hausporträt | |
Eine Stadt auf der CouchMit „Gotham City“ leitet Markus Heinzelmann am Theaterhaus Jena nach sieben Jahren einen Generationswechsel ein. Ein Rückblickvon Michael Helbing | Seite 28 |
Die schön’n altn HeuslWas wird aus einem Schlosstheater, wenn ihm das Schloss abhanden kommt? Ein Besuch in der Residenzstadt Celle in Zeiten des Umbausvon Lena Schneider | Seite 30 |
Phantasmagorien der VergeblichkeitGrillparzer, Brecht und Strauß im Wiener Burgtheatervon Friedrich Dieckmann | Seite 32 |
TdZ entdeckt | |
Vom Klang der OrteDie Regisseurin Anna Malunat verwebt Sprache und Musik, Bewegung und Bühnenbild zu einer Partitur aus immer neuen Variationenvon Kim Stapelfeldt | Seite 34 |
Die doppelte HanseatinIm Spiel der Schauspielerin Frederike Duggen verwandelt sich Machtlosigkeit in eine Form von Stärkevon Gunnar Decker | Seite 35 |
Porträt | Seite 36 |
Der Bär schweigtDer finnische Autor und Regisseur Kristian Smeds im Porträtvon Anna Teuwen | |
Stück | Seite 40 |
Gott ist Schönheitnach Paavo Rintalavon Kristian Smeds | |
Auftritt | |
Aarau: Wer unten ist, der bleibt es auchTheater Marie: „Augusta“ (SE) von Richard Dresser. Regie Nils Torpus, Bühne Renato Grob, Kostüme Sara Giancanevon Dominique Spirgi | Seite 50 |
Berlin: Den Tod durchleben, spielendSophiensaele: „Die Kleider der Frauen“ von Brigitte Kronauer (UA). Regie Thorsten Lensing und Jan Heinvon Martin Linzer | Seite 51 |
Heilbronn: Die Marseillaise als RotzgeräuschTheater Heilbronn: „Exit Europa“ (UA), Textfassung von Peggy Mädler, Christian Marten-Molnár und Axel Vornam. Regie Axel Vornam, Ausstattung Tom Muschvon Otto Paul Burkhardt | Seite 52 |
Luzern: „Muh wie Muezzin“Luzerner Theater: „Biedermanns. umgezogen“ (UA) von Gisela Widmer. Regie Hannes Rudolph, Bühne Tobias Schunck, Kostüme Anna Schnydervon Simone von Büren | Seite 53 |
München: Kontextualisierung statt AktualisierungMünchner Kammerspiele: „Die Perser“ von Aischylos. Regie Johan Simons, Bühne Eva Veronica Born und Johan Simons, Kostüme Greta Goirisvon Frank M. Raddatz | Seite 54 |
Plauen/Zwickau: Postdramatisches Geschnatter dreier Kaffstadt-GöttinnenTheater Plauen-Zwickau: „Trailer für die nahe Zukunft“ (UA) von Oliver Schmaering. Regie Marie Bues, Ausstattung Floor Savelkoulvon Michael Bartsch | Seite 55 |
Magazin | |
Hier stehen wir, wir können nicht andersDas 8. Körber Studio Junge Regie am Thalia Theater Hamburgvon Elske Brault | Seite 57 |
Kunst oder Sozialarbeit?In Köln feierte der Heimspiel-Fonds sein Abschlussfest und fragte „Wem gehört die Bühne?“von Dorothea Marcus | Seite 58 |
Dann bleib ich erst mal für immerDer 28. Heidelberger Stückemarkt prämiert türkische Dramatikvon Otto Paul Burkhardt | Seite 59 |
Der Tod und das TheaterDie letzte Arbeit des ermordeten Regisseurs Juliano Mer Khamis bei den Al Manara Theatre Days 2011von Lydia Ziemke | Seite 60 |
Moderator und PerfektionistDem Schauspieler Dieter Mann zum 70. Geburtstagvon Gunnar Decker | Seite 61 |
etcvon Sebastian Kirsch | Seite 62 |
Bücher | |
Ulrike Maack, Wilfried Minks: Wilfried Minks. Bühnenbauer.Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 274 S., 39,90 EUR, ISBN 978-3-518-42196-3von Anja Dürrschmidt | Seite 62 |
Müller mp3. Heiner Müller Tondokumente 1972–1995.Kristin Schulz (Hg.), vier mp3-CDs (36 Stunden) und ein Begleitbuch (192 S.), Alexander Verlag, Berlin 2011, 78 EUR, ISBN 978-3-89581-129-6von Sebastian Kirsch | Seite 63 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | Seite 63 |
Nachrufe | Seite 64 |
Geliebter KoboldZum Tod des Volksbühnenschauspielers Michael Klobevon Gunnar Decker | |
In Opposition zum MainstreamZum Tod des Dramatikers, Drehbuchautors, Kommunismusforschers und Redakteurs Michael Peschkevon Hugo Velarde | |
Kolumne | Seite 65 |
Einvernehmliches MissverstehenAus dem Englischen von Lilian-Astrid Geesevon Etel Adnan | |
Meldungen | Seite 66 |
Linzers Eck | Seite 67 |
(36): O Sancta Nostalgica oder Warum ich immer mal wieder an das Theater in der DDR erinnert werde. Keine Entschuldigungvon Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 68 |
Stralsund/Greifswald/Putbus: Dirk Löschner wird 2012 Intendant am Theater Vorpommernvon Gunnar Decker | |
Berlin: Shermin Langhoff wechselt 2014 in die Leitung der Wiener Festwochenvon Patrick Wildermann | |
Kommentar | Seite 69 |
Ist Thilo da?von Gunnar Decker | |
Radiovorschau | Seite 70 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Premieren | Seite 71 |
Juni 2011Die Premieren für Juli/August 2011 finden Sie unter www.theaterderzeit.de | |
Vorschau | Seite 79 |
Arbeitsbuch 2011. Heart of the CityRecherchen zum Stadttheater der Zukunft Herausgegeben von Josef Mackert, Barbara Mundel und Heiner Goebbels | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Thomas Thieme?von Gunnar Decker und Thomas Thieme |
Etel Adnan
Kostas Annoussis
Michael Bartsch
Elske Brault
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Friedrich Dieckmann
Anja Dürrschmidt
Gerwig Epkes
Michael Helbing
Stefan Hilterhaus
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