Heft 10/2010
Abschied
Erinnerungen an Christoph Schlingensief
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Schlingensiefs Tod setzt eine Zäsur. Es gibt Leute im Theater, für die ist nicht Mittwoch oder Donnerstag, sondern der soundsovielte Tag nach dem „Verschwinden“ (Elfriede Jelinek) des „Christophoros“ (Bazon Brock). Das ist umso erstaunlicher, je mehr die Beobachtung von Elfriede Jelinek zutrifft: „Ich sah und sehe Christoph ja als bildenden Künstler, seine Theaterarbeit ist immer mehr in diese Richtung gegangen, in Richtung von etwas Prozessualem, das im Fortgang etwas entstehen läßt, das sich zwar immer auf dem Theater realisieren ließ, aber Theater nicht war, sondern etwas anderes.“ Elfriede Jelinek, Bazon Brock, Bernhard Schütz und Henning Nass, Oskar Roehler und Thomas Meinecke – sie alle lassen ihre Erinnerungen an den grandiosen Selbstdarsteller noch einmal Revue passieren.
Wenn Elfriede Jelinek dabei die Nähe von Theater und bildender Kunst in unserer Zeit anspricht, so ergibt sich diese Anziehung aus der gegenwärtigen Anstrengung des Performativen, die Stigmata des bloß Repräsentativen abzustreifen. Die Begegnung der zwei künstlerischen Kräfte verändert das traditionelle Schema vom Theater selbst. So lassen sich beispielsweise die drei Entwürfe, die Weltkünstler Jannis Kounellis für die Aufführungen von „Der gefesselte Prometheus“ in der Regie von Theodoros Terzopoulos in Athen, Istanbul und Essen kreierte, kaum mehr in die Rubrik Bühnenbild zwingen. Kounellis-Kenner Eduard Winklhofer führt durch die gesamteuropäische Installation, in der sich wohl erstmals in der Theatergeschichte eine einzige Inszenierung durch drei völlig unterschiedliche Kunsträume erfahren lässt. Dorte Lena Eilers befragt Prometheus-Darsteller Götz Argus nach den Klippen des interkulturellen Theaters, wozu jemand, der regelmäßig im japanischen Theater gastiert und im Land der aufgehenden Sonne Starcharakter besitzt, einiges zu sagen hat.
Während Götz Argus etliche Drangsal erfuhr, als er die DDR in den achtziger Jahren verlassen wollte, hat sich eine Generation zuvor Peter Hacks freiwillig dorthin begeben. Das Deutsche Theater in Berlin bringt nun sein Stück „Die Sorgen und die Macht“ aufs Tapet, und Gunnar Decker weist unter dem Titel „Sozialistisches Biedermeier“ darauf hin, dass ausgerechnet FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher den Autor – „Nicht wir haben versagt, die KPdSU hat versagt“ – in hohen Tönen pries. In den Genuss ganz anderer Larven aus dem Gebiet des Arbeiter-und-Bauern-Staates kommt Gunnar Decker auf Schloss Neuhardenberg: „Wolfgang Utzts Masken sind Prismen“, konstatiert er und macht Lust, schleunigst die Ausstellung, die noch bis zum 7. November geöffnet ist, zu besuchen.
Frank Raddatz versammelt die wichtigsten Häupter der Leipziger Kultur, Ann-Elisabeth
Wolff, Sebastian Hartmann, Martin Heering und Peter Konwitschny, an einem Tisch, um nach dem Motto „Das Ganze ist mehr als seine Teile!“ ein Profil der Heldenstadt zusammenzusetzen. Entborgen wird eine zerrissene Stadtgesellschaft, es klemmt enorm zwischen einer nicht nur ästhetischen Zukunftsgewandtheit und den provinziellen Gegenkräften. Ein schwerer Kampf, der dort zu fechten ist und sich wenig auf westliche Erfahrungen übertragen lässt.
Noch weniger wahrscheinlich auf die Schweiz, wo das Konsensprinzip das oberste Gebot
ist, um die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften zusammenzuhalten. Das Theaterhaus
Gessnerallee in Zürich feiert dieses Jahr sein 20-jähriges Bestehen und bildet mit 350 Veranstaltungen pro Jahr eine feste Größe im Bereich der europäischen Off-off-Szene. Auch der Blick zum Geburtstagskind nach Basel lässt hoffen. „In ihrem dreißigsten Jahr kann die Kaserne mit Zuversicht in die Zukunft blicken“, befindet unser Autor Dominique Spirgi und lässt keinen Zweifel, wem diese Entwicklung zu verdanken ist: Carena Schlewitt, die dort seit zweieinhalb Jahren das Ruder führt. Von der Schweiz geht es weiter nach Argentinien, dem Theaterwunderland in Südamerika. Doch lesen Sie selbst.
Die Redaktion
PS: Noch ein kleiner Nachtrag zu Schlingensief: Bleiben muss die Erinnerung an einen, der im Gegensatz zu uns vielen anderen immer auch das gelebt hat, wofür er nicht nur auf der Bühne brannte.
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Künstlerinsert | Seite 2 |
Bühnen von Jannis Kounellis zum „Gefesselten Prometheus“ in Athen, Istanbul und Essenvon Jannis Kounellis | |
Porträt | Seite 8 |
Die Fesseln der Beiläufigkeit aufbrechenFür die gewohnheitsträge Theatermaschine ist der Künstler Jannis Kounellis eine willkommene Katastrophevon Eduard Winklhofer | |
Rollenporträt | Seite 10 |
In den Augen ZeusWie der Schauspieler Götz Argus als Prometheus die Kunst des Widerstands lehrtvon Dorte Lena Eilers | |
Abschied | |
Erinnerungen an Christoph SchlingensiefAssistent des Verschwindensvon Elfriede Jelinek | Seite 12 |
Erinnerungen an Christoph SchlingensiefAnstelle eines Songs - im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers und Thomas Meinecke | Seite 16 |
Erinnerungen an Christoph SchlingensiefEiner ihrer stärksten Kämpfervon Oskar Roehler | Seite 18 |
Erinnerungen an Christoph SchlingensiefDer Lappen muss hochvon Henning Nass und Bernhard Schütz | Seite 19 |
Erinnerungen an Christoph SchlingensiefChristophoros, der Krampf geht weiter!von Bazon Brock | Seite 20 |
Debatte | Seite 22 |
Streitfall Leipzig – Visionen für eine zerrissene StadtFrank M. Raddatz im Gespräch mit Sebastian Hartmann, Martin Heering, Peter Konwitschny und Ann-Elisabeth Wolffvon Frank M. Raddatz, Sebastian Hartmann, Peter Konwitschny, Ann-Elisabeth Wolff und Martin Heering | |
Aktuelle Inszenierung | Seite 29 |
Sozialistisches BiedermeierZwischen Braunkohleinterieur und Goethes Kunstsalon – Tom Kühnel und Jürgen Kuttner inszenieren am Deutschen Theater in Berlin „Die Sorgen und die Macht“ von Peter Hacksvon Gunnar Decker | |
TdZ entdeckt | |
Look Out [7]: The Power of PoliticsDie Performancegruppe Fräulein Wunder AG betreibt Theater als politische Praxisvon Esther Boldt | Seite 30 |
Look Out [7]: Heulen und SchießenDer niederländische Performer Ilay den Boer spürt anhand seiner Familiengeschichte seinem Geburtsland Israels nachvon Jörg Vorhaben | Seite 31 |
Hausporträt | |
An Unverrückbarem rüttelnDas Theaterhaus Gessnerallee in Zürich feiert seinen 20. Geburtstagvon Elisabeth Feller | Seite 32 |
Als die Königin eine Blutbuche pflanzte30 Miniproduktionen zum 30. Geburtstag – Mit einer fünfstündigen Zeitreise und viel Unterstützung aus der freien Szene startet die Kaserne Basel ins Jubeljahrvon Dominique Spirgi | Seite 34 |
Ausland | Seite 36 |
KellerkinderWie sich Theatermacher in Buenos Aires in Wohnzimmern, Garagen und Kellern von der freien Szene befreien und so politischen Widerstand leistenvon Anne Phillips-Krug | |
Auftritt | |
Dresden: Das Mädchen, das Mensch, das TierStaatsschauspiel Dresden: „tier. man wird doch bitte unterschicht“ (UA) von Ewald Palmetshofer. Regie Simone Blattner, Bühne Simeon Meier, Kostüme Nadine Grellingervon Lena Schneider | Seite 40 |
Berlin: Das schöne deutsche Wort VernunftBallhaus Naunynstraße: „Verrücktes Blut“ (UA) von Nurkan Erpulat nach einem Film von Jean-Paul Lilienfeld. Regie Nurkan Erpulat, Ausstattung Magda Willivon Lena Schneider | Seite 41 |
Salzburg: Sophokles im EnergiesparmodusSalzburger Festspiele: „Tod in Theben“ (DSE) von Jon Fosse. Regie Angela Richter, Bühne Katrin Brack, Kostüme Steffi Bruhnvon Christoph Leibold | Seite 42 |
Paris: Ein Stern für die SchiffbrüchigenThéâtre du Soleil: „Les Naufragés du Fol Espoir (Aurores)“. Textfassung: Hélène Cixous. Regie Ariane Mnouchkine, Ausstattung Ariane Mnouchkine und Ensemble, Musik Jean-Jacques Lemêtrevon Maurice Taszman | Seite 43 |
Bremen: Krieg ist nicht netttheaterlabor bremen: „Mütter“ von Einar Schleef und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Regie Patrick Schimanski, Bühne Sonia Vilbonnet, Kostüme Angela Straubevon Anna Teuwen | Seite 44 |
Neuhardenberg: Die MondsüchtigenSchloss Neuhardenberg: „Fräulein Julie“ von August Strindberg. Regie Armin Holz, Bühne Armin Holz, Matthias Weischervon Gunnar Decker | Seite 45 |
Lesarten | Seite 46 |
Richard Wagner: „Parsifal“gelesen von Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch | |
Kolumne | Seite 47 |
Knorriger Historismusvon Thomas Thieme | |
Autorengespräch | Seite 48 |
Träume vom Ende der WeltDie argentinische Autorin, Regisseurin und Performerin Lola Arias im Gespräch mit Patrick Wildermannvon Patrick Wildermann und Lola Arias | |
Stück | Seite 49 |
Traum mit Revolvervon Lola Arias | |
Magazin | |
Identität auf ZeitEine bemerkenswerte Ausstellung im Schloss Neuhardenberg zeigt die Theatermasken von Wolfgang Utztvon Gunnar Decker | Seite 58 |
Die Ängste der AnderenImport-Export I: Das Maltafestival im polnischen Poznan sucht die Anbindung an den europäischen Festivalreigenvon Patrick Wildermann | Seite 60 |
Made in SingapurImport-Export II: Laboratorium für traditionelle asiatische Kunst – Der neue Kurs des Singapore Arts Festivalvon Robert Quitta | Seite 61 |
Die Räuber von GöttingenNach der Insolvenz sucht das Junge Theater Göttingen vorsichtig einen Weg aus der Krisevon Georg Feitscher | Seite 62 |
Miriam Drewes: Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenztranscript Verlag, Bielefeld 2010, 456 S., 33,80 EUR, ISBN 978-3-8376- 1206-6.von Sebastian Kirsch | Seite 63 |
etc. | Seite 64 |
etc.von Sebastian Kirsch | |
RandplatzSchmeißt das Geld weg!von Gunnar Decker | Seite 64 |
aufgelesenvon Sebastian Kirsch | Seite 65 |
Radiovorschau | Seite 66 |
Hingehörtvon Gerwig Epkes | |
Linzers Eck | Seite 67 |
(28) Der letzte Mohikaner oder Warum ein fünfzigster Geburtstag wichtiger sein kann als ein zwanzigsterEin Kalenderblatt für R. M. Schernikau (1960–1991)von Martin Linzer | |
Aus den Korrespondentenbüros | Seite 68 |
Hamburg: Intendant Friedrich Schirmer schmeißt sein Amt hinvon Klaus Witzeling | |
Dresden: Fiasko bei Theaterbauplänenvon Michael Bartsch | |
Meldungen | Seite 69 |
Premierenkalender | Seite 72 |
Oktober 2010 | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Kommentar | Seite 80 |
Theatermuseum BEvon Gunnar Decker | |
Vorschau | Seite 80 |
Lola Arias
Michael Bartsch
Esther Boldt
Bazon Brock
Gunnar Decker
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Georg Feitscher
Elisabeth Feller
Sebastian Hartmann
Martin Heering
Elfriede Jelinek
Sebastian Kirsch
Peter Konwitschny
Jannis Kounellis
Christoph Leibold
Martin Linzer
Thomas Meinecke
Henning Nass
Anne Phillips-Krug
Robert Quitta
Frank M. Raddatz
Oskar Roehler
Lena Schneider
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