!Stadttheater Greifswald Theaterstadt?
100 Jahre Theater Greifswald
von Thomas Wieck
Hardcover mit 144 Seiten, Format: 230 x 270 mm
ISBN 978-3-95749-053-7, Mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Originalpreis: € 15,00
- Mit einer Fotoserie von Holger Herschel
Was dachten sich die Greifswalder Stadtherren wohl, als sie vor 100 Jahren für ihr Städtchen von tatsächlich 23 000 Einwohnern ein stattliches Theater mit 750 Plätzen aus dem Boden stampften, einen Intendanten bestellten und nun ein ordentlich florierendes Stadttheater – mit Schauspiel, Oper und Ballett ganz aus eigenen Kräften gestaltet – erwarteten? Die Stadt Greifswald und ihre Bürger leisteten sich das, was sich für eine deutsche Stadt schickte, die etwas auf sich hielt und zudem noch Universitäts- und Garnissonstadt war: ein properes Stadttheater. Alle schienen beseelt vom Traum, den ihnen Emanuel Voß nimmermüd eingeredet hatte, hier im fernen Pommern dem Heros Richard Wagner, der großen Oper überhaupt, eine würdige Heimstatt zu weihen. Wie sich dieser Traum erfüllte und zerplatzte, durch theatralische Visionen ganz anderer Art abgelöst wurde und wie die Gelder immer knapper flossen, die Zuschauerplätze immer mehr minimiert wurden, obgleich die Stadt wuchs – und vor allem, wie es denen erging, die das künstlerische Hauptgeschäft des Theaters betrieben, die Schauspieler, Sänger, Musiker und Tänzer – und was sie leisteten und wie ihnen dabei das Publikum folgte oder nicht, das ist zu beschreiben. Ob es ein Plädoyer pro oder contra des Phänomens Deutsches Stadttheater wird, möge der Leser entscheiden.
Einleitung
Wenn man von einer fröhlichen Unternehmung spricht, die gar jämmerlich endet, dann sagt man in Pommern: „Das ging aus wie das Spiel zu Banen.“ („Dat geit tau as dat Späl tom Bahn.“) Banen, heute Banie, ist ein südlich von Stettin gelegenes ehemaliges Städtchen mit einer reichen mittelalterlichen Vergangenheit. Dort fand im Jahr 1497, wie schon jahrelang vorher üblich, ein christliches Passionsspiel statt. In diesem Jahr 1497 – oder war es doch 1498? – ging das erbauliche Spiel anders als gedacht und vorgesehen aus. Und das lag daran, dass die Spielenden miteinander auf den Tod verfeindet waren, vor allem der Darsteller des Jesus mit dem Darsteller des Longinus, dem Soldaten, der dem gekreuzigten Jesus den Speer in die Seite stößt. Unser Chronist berichtet: Und wie nun der Darsteller des Longinus mit seinem Speer die Blutblase, die der Darsteller des Jesus bei sich führte, durchstechen sollte, stieß er ihm mitten durch sein Herz, sodass er sogleich starb, vom Kreuz herab auf die Darstellerin der Maria stürzte und diese unglücklicherweise erschlug. Der Darsteller des Johannes, befreundet mit den beiden Toten, stürzte sich auf den Darsteller des Longinus und erwürgte ihn auf der Stelle. Als man nun den Mörder ergreifen wollte, entfloh dieser. Gejagt und verfolgt sprang er von einer Mauer, brach sich einen Oberschenkel, wurde erfasst, verurteilt und auf das Rad geflochten, auf dem er verstarb. „Und nach dem tage wurt keine passion mehr zu Banen gespylet.“
Ob gut erfunden oder wahrheitsgemäß berichtet, die Geschichte verweist auf die enormen Schwierigkeiten, denen sich jahrhundertelang theatralisches Handeln in Pommern gegenübersah. Diese Provinz hatte eine nur sehr gering entwickelte Theater- und Spieltradition und Theater blieb immer das Fremde im Nordosten Deutschlands. Zwar hatte Stettin schon seit 1849 ein großes Stadttheater, aber erst deutlich später als in den meisten übrigen preußischen Städten erbauten und gründeten die Bürger in den zwei vorpommerschen Städten Stralsund und Greifswald ihr Stadttheater mit festen ortsansässigen Spielensembles für Schauspiel, Oper und Operetten und theatereigenen Orchestern. Am Ende des seit 1890 herrschenden Theaterbaubooms in Deutschland stehen die beiden Stadttheater in Greifswald und Stralsund, gegründet aus der Überzeugung immerwährender bürgerlicher Prosperität und ungebremsten kommunalen Aufschwungs. Dieser Irrglaube dokumentiert sich besonders im Greifswalder Theater und seinem überdimensionierten Platzangebot von 750 Plätzen für eine städtische Bevölkerung von zur Zeit des Baus rund 24 000 Menschen.
In Greifswald weht ein scharfer Wind
Was hat die Greifswalder Bürger bewogen, sich ein solches Theater zu gönnen? War es überbordende Theaterbegeisterung? Schwerlich, die folgende Theatergeschichte Greifswalds lässt eine derartige Leidenschaft nicht erkennen. Die Gründe waren einfacher, konventioneller Art. Die Stadt Greifswald und ihre Bürger leisteten sich das, was sich für eine deutsche Stadt, die auf sich hielt und zudem noch Universitäts- und Garnisonstadt war, schickte: ein properes Stadttheater. Dieser Entschluss fiel der Stadtverwaltung einerseits finanziell nicht gar so schwer, war doch die Stadt zum einen eine aufblühende Dienstleistungszentrale für die umliegenden Wirtschaften des großagrarischen Landadels – selbst die Stadt war Großgrundbesitzer – und zum anderen waren die Bürger theaterstolz und betucht genug, um durch Anleihekäufe den Bau mitzufinanzieren. Plan und Bau des Stadttheaters waren Ausweis der finanziellen Kraft und des bürgerlichen Geselligkeitswillens, nicht Ausdruck eines theaterkünstlerischen Wollens. Einladend mutet der Bau – außerhalb der Altstadt gelegen – keineswegs an. Hier öffnen sich keine Tore, durch die die Bürger freudig strömen in Erwartung eines ihnen Unbekannten, eines Neuen, das ansichtig zu werden, sie hier zusammengekommen sind. Der Bau beflügelt keine Fantasie, verspricht keine Wunder. Der Bau ähnelt vielmehr einer bürgerlichen Trutzburg, in der sich die Eintretenden sicher vor fremden Blicken, ihren ureigenen Unterhaltungen und Vergnügungen hingeben. Der ursprüngliche Bauplan sah bezeichnenderweise gar kein eigenständiges Theatergebäude vor, geplant war ein großes Volkshaus, auf dessen Bühne auch Theatervorstellungen stattfinden sollten. Damit knüpfte der Entwurf funktional an das 1912 abgebrannte „Konzerthaus“ in der Kuhstraße an, in dem auch Theatervorstellungen veranstaltet wurden. Doch dieser Plan musste neuen feuerschutzpolizeilichen Regelungen gemäß geändert werden und führte zu der baulichen Auftrennung von separater Stadthalle und eigenständigem Theaterbau. Die Eröffnung der Stadthalle ging der Fertigstellung des Theaters um ein dreiviertel Jahr voraus und in der Eröffnungsansprache für die Stadthalle ist bemerkenswerterweise von Theater keine Rede, wohl aber davon, dass die Stadthalle allen kulturellen Erwartungen der Bürger Rechnung tragen werde. „An dem heutigen Tag, an dem die Stadthalle eröffnet wird, gebe ich dem Wunsch Ausdruck, daß sie in reichem Maße allen Zwecken dienen möge, für die wir sie erschaffen haben. Sie werde zum Lieblingsheim unserer Einwohner und biete ihnen Freude und Erholung. Sie sei ein Versammlungsort für alle größeren Veranstaltungen, ein Mittelpunkt zur Pflege von Kunst und Wissenschaft, ein Haus der Stärkung und Erbauung, eine Kulturstätte ersten Ranges.“ (Bürgermeister Willy Gerding am 12. Dezember 1914) Es ist davon auszugehen, dass die Bürgerschaft nicht ahnte, was sie tat, als sie dem Bau eines selbstständigen Theaters zugestimmt hatte. Sie konnte sich lediglich zugutehalten, dass sie diesen folgenreich-fatalen Entschluss nur unter dem Diktat der Bauaufsicht getroffen hatte, keineswegs dem eigenen Willen folgend, der ja gerade kein selbstständiges Theater vorsah. Ab und an einmal etwas Theater, nun gut, darauf konnte man sich einrichten, aber mindestens sechs Monate im Winterhalbjahr mehr als dreimal wöchentlich Theater – warum? Wie es bisher war, so hätte es zweifellos ohne große Aufregung weitergehen können. Wie es war, das beschreibt Gustav Donalies im Jahr 1919 mit milder Ironie:
Das gesellige Leben dieser Stadt ist das – im guten und schlechten Sinne – übliche; durch die Beteiligung des Großgrundbesitzes bekommt es eine besondere Note, wie auch das Völkchen der Schnitter zum sozialen Bild seine Linie beiträgt. Das geistige Leben hat seinen Mittelpunkt in der Universität; die Studenten stellen zu den Konsumenten aller geistigen Produktion ein starkes Kontingent, wie sie auch mit dem ökonomischen Leben der Stadt untrennbar verwachsen sind und dem Straßenbild ein gut Teil seiner Farbe und seines Rhythmus geben. Das politische Parteileben schlägt seine trüben Wogen, Vorträge werden gehalten und angehört, einige gute musikalische Aufführungen populären Charakters werden veranstaltet, reisende und autochthone Virtuosen und solche, die es werden wollen, geben Konzerte, mehr oder weniger alte Herren schreiben und veröffentlichen ihre „Erinnerungen“, humanistische und sonstige Bildung wird gelehrt und – wieder vergessen. Vortragsmeister, „Telepathen“, Zauberkünstler, Sänger zur Laute, Dialektdichter und Rezitatoren suchen und finden ihr Publikum, zuweilen verunglückt der Versuch einer Gemäldeausstellung, ein junger Philologe versammelt solche, die hören mögen, um ihnen moderne und modernste Lyrik zu vermitteln, seit kurzem gibt’s auch – Hallelujah! – eine Kleinkunstbühne, in drei Kinos findet man angenehme Finsternis, Grausen, Spannung, Heiterkeit und Aufklärung, in einigen Lokalen ist Musik, man trinkt und tanzt und liebt; wie anderswo … Und ein Theater ist natürlich auch da. Draußen am Rande der Stadt, wo Straßen und Häuser neuer werden, wo unter hohen schönen Kastanien die Chaussee anfängt, die zum Meer hinausführt, da steht es. Der recht stattliche Bau mit seiner Bühne, die allerhand „technischen Anforderungen“ genügen kann, seinem hübschen und angenehmen Zuschauerraum, ist noch ziemlich jung. (Donalies, 1919, S. 5 f.)
Die ungewollte Fehlplanung erzwang – sollten auch nur die simpelsten kaufmännischen Rentabilitätsgrundsätze geltend gemacht werden, und sie wurden es von der Stadtverwaltung – die kunstfeindliche Ausbeutung der Darsteller unter dem Diktat einer im Akkord herzustellenden und im Expressverkauf zu verschleudernden Theaterware. Da galt es sogenannte sichere Stücke im Schock auf die Greifswalder Bühne zu kippen. Dramaturgie hieß hier, ununterbrochenes Studium der aktuellen Aufführungszahlen und der dabei erzielten Reingewinne der Berliner Novitäten und mit dem vermutlichen Tageswert älterer Erfolgsstücke an der Geschmacksbörse zu spekulieren. Regie bestand darin, die ausgewählten gewinnversprechenden Texte so zurechtzustutzen und zu skelettieren, dass sie in die immer wieder hervorgekramten Prospekte und Möbelage gepresst werden konnten, auf dass die Kasse klingelte. Dieses Theater war ein Stücke, Sänger und Schauspieler verschlingender Moloch. Dramaturgie mutierte zur Arithmetik: Jede Premiere derartiger Massenware musste mindestens fünf Nachfolgeaufführungen mit einem zu zwei Dritteln gefüllten Zuschauerraum garantieren. Um „nebenher“ einen dem sogenannten Kulturauftrag des Stadttheaters verpflichteten Spielplan klassischer und gegenwärtiger dichterisch gehobener Texte und Werke der ernsten, großen Oper, die es kaum über drei Aufführungen pro Inszenierung brachten, zu ermöglichen, brauchte es pro Spielzeit bestimmt zwanzig Stücke dramatischer Wegwerfware, da auch hier mit Fehlgriffen gerechnet werden musste. Allein auf dieser Berechnungsgrundlage sind die enorm anmutenden Inszenierungszahlen von vierzig bis fünfzig Inszenierungen in einer etwa dreißig Wochen langen Spielzeit zu begreifen. Künstlerische Erwartungen sind hier fehl am Platze, sind hier nicht zu erfüllen – und auch nicht zu hegen. Ab und an mochte eine einzelne Inszenierung, eine einzelne sängerische oder schauspielerische Leistung überraschen und aufmerken lassen; im Großen und Ganzen produzierte das Theater aus dem reinen Produktionszwang heraus, der ihm per Gründung auferlegt worden war. Für die Stadt gehörte es sich, ein Theater zu haben, und es gehörte sich auch, dass es spielte, und selbst diesen Luxus konnte sich die Stadt – eine Zeit lang – leisten, ein Theater so vor sich hin spielen zu lassen, ohne es zu besuchen. Solange sich Käufer und Verkäufer darüber einig waren, von welcher Qualität die so produzierte und konsumierte Ware war, und solange, aus welchen Gründen auch immer, eine so gefertigte Ware ihren Käufer fand, nicht reklamiert oder gar schnöde zurückgewiesen wurde, solange konnte unter Ächzen und Stöhnen der schmal subventionierte Theaterbetrieb aufrechterhalten werden.
29 Jahre Intendant –
die Spur von Emanuel Voß in Greifswald
Der Mann, der das Stadttheater auf diesen Kurs trimmte und hielt, war Emanuel Voß, Wagnersänger und Theaterunternehmer, eine für das deutsche Stadttheatergeschäft beispielhafte Person. Beispielhaft im Geschäftsgebaren und der politischen Wandlungsfähigkeit: Er war kurze Zeit Pächter und Direktor, später lange Zeit Intendant eines Theaters, das erst am Hohenzollernplatz, dann am Platz der SA lag. Und Emanuel Voß war auch vier Jahre lang Intendant des dann am Platz der Freiheit gelegenen Stadttheaters. Irgendwann soll der Platz sogar Theaterplatz geheißen haben, aber das war wohl doch zu viel der Aufmerksamkeit für das randständige Unternehmen.
Voß hat versucht, das Theater aus der Zeit zu halten – er verstand sich als ein über den Zeitläufen und politischen Niederungen agierender, reiner Kunstdiener – nur, die Kunst wurde unter seinen Händen hinfällig, war sein Kunstideal doch extrem zeitverhaftet und künstlerisch längst verdorrt, die inhaltliche Armseligkeit des gründerzeitlichen Symbolismus von deutscher Art und deutschem Wesen. 1915 eröffnete er das neugebaute Theater allen Ernstes mit einem der ehedem im 19. Jahrhundert beliebten „lebenden Bilder“ – auf dem Theater seiner Zeit längst undenkbar geworden, seitdem die Schauspielkunst zum handelnd-bewegten Menschen zurückgefunden und den in der erhabenen Pose zum Bild erstarrten Darsteller in die fotografischen Ateliers verabschiedet hatte. Die Attitüden der Charlotte Wolter waren nur noch als Postkartenmotive denkbar oder als Vorlage für die schamhaft-eindeutige, also schmierige Darstellung halb oder ganz entblößter Körper, der letzten Erscheinungsform der „lebenden Bilder“ auf den Unterhaltungsbühnen der Großstädte.
Voß versprach Kaiserreich, bot die gute alte Zeit zumindest auf dem Theater feil und hielt sie frisch für den Wandel und Wechsel abholden Greifswalder Bürger. Die tatsächliche, theaterhistorisch nicht unerhebliche Leistung von Voß ist der Erhalt der materiellen Hülle „Theater“ unter schwierigsten äußeren Bedingungen, nicht aber die Pflege und Entwicklung des Spiels in ihr.
Die von ihm geleiteten und veranlassten Spiele verharren, allein schon unter dem Aspekt ihres Entstehens und ihrer materiellen Präsentation betrachtet, auf vor - naturalistischem Niveau, sind unbeirrtes gründerzeitliches Geschäftstheater mit einem standardisierten Dekorationsvorrat, mit einem historisierenden Kostümfundus, mit der Verpflichtung der Schauspieler, moderne Bühnenkostüme selbst zu stellen, mit einem formal strikt nach Fachrollen aufgestellten Ensemble, das aber in Wirklichkeit weitgehend von Anfängern bestückt war. So kamen altersmäßig ganz unsinnige Besetzungen zustande, die nun wiederum den Perückenfundus und den Schminkkasten beanspruchten und ein gnädig darüber hinwegsehendes Publikum erheischten, das sich abschließend an diversen Hosenrollen delektieren durfte, die aber wohl eher zum Vergnügen der mit einem Sonderpreis ins Theater gelockten Offiziere der Garnison dienten. Nur drei Bahnstunden (damals wie heute) von Greifswald entfernt, war das naturalistische Theater bereits konventionell, hatte die neuromantische Belebung der Szene ihren Höhepunkt überschritten, war die Ausstattungskunst ein Feld erster Künstler, wurde geprobt und experimentiert fern aller Schablonen.
Dem Dutzendregisseur, der – sei es aus Dünkel, Faulheit oder aus einer dunklen Ahnung seiner eigenen Unfähigkeit – alles ablehnt, was anders ist, als er es gelernt hat, als „man“ es macht, der an Inszenierungsmethoden glaubt und überhaupt das Theater und dessen Usus als das Feststehende ansieht, nicht das Werk – dieser weitverbreitete, „gewiegte, erfahrene, geniale“ Dutzendregisseur, der nicht weiß, daß jedes Kunstwerk die Gesetze seiner Inszenierung in sich trägt, lähmt den bildenden Künstler vollständig. Aber Reinhardts kraftvergeuderische, unmechanische Art zu arbeiten, sein Eifer, dem Werke selbst die Weise, in der es gebracht werden muß, abzulauschen, seine jugendliche Tatkraft, die eigentlich am liebsten für jedes einzelne Werk, das er in die Hand nimmt, eine ganz neue, diesem allein gemäße Art Theater zu spielen entdecken möchte. (Roller, S. 70)
Von einem solchen Typus Regisseur hatte Emanuel Voß keine Vorstellung, noch hatte ein solcher im Geschäftstheater des Emanuel Voß etwas verloren. Das ist jedoch nicht Emanuel Voß vorzuhalten. Er machte ein Theater, das weiten Kreisen der kulturbestimmenden Bürgerschichten zusagte und ihnen keine schlaflosen Nächte bereitete, das sie getrost schnell und gründlich vergessen konnten. Im behaglichen Bewusstsein ein ruhiges Theater im friedlich ruhenden Städtchen zu beherbergen, bedurfte es nicht einmal des Theaterbesuchs, um seiner kulturellen Pflicht zu genügen.
Entscheidend geprägt wurde dieses städtische Klima, in dem das Theater gedeihen musste, durch die typische preußische Allianz aus einem grundkonservativen, monarchistisch verpflichteten Beamtentum, dem wirtschaftlich und sozial die Landschaft bestimmenden Landadel und einer konservativen, staatsnahen evangelischen Kirche. Diesem Milieu passte sich die Mehrheit der Universitätsprofessoren an und keinesfalls eine Minderheit der in Greifswald verkehrenden Studenten pflegte gerade dieses Klimas wegen – und des Bieres und der gutgeführten Bordelle wegen – in Greifswald zu studieren. Hier war man unter sich, deutsch und national:
Was sind wir Erben unseren gefallenen Kommilitonen schuldig? Als erstes fordern wir den Generalangriff der deutschen Jugend gegen die niederträchtige Kriegsschuldlüge. Immer wieder ist uns gesagt worden, der Augenblick dafür sei noch nicht gekommen, wir wollen uns aber nicht länger hinhalten lassen, bis etwa die innere Zermürbung so weit fortgeschritten ist, daß der Kampf unmöglich wird. Weiter fordern wir den ständigen Kampf gegen das schändliche Versailler Friedensdiktat, den grausamsten Friedensschluß, den die Weltgeschichte seit Karthagos Ende kennt. Je mehr die Unterweisung der Jugend in der Schule versagte, desto entschiedener wollen wir den Kampf gegen Versailles betreiben. Vor allem aber fordern wir eine innere Mobilmachung an Seele, Geist und Willen […]. Kehrt zurück zu den besten und tiefsten Gedanken und Kräften des deutschen Volkstums: zur Innerlichkeit, Wahrhaftigkeit, zur Gefolgschaftstreue und deutschen Gläubigkeit, zur völligen Hingabe an unser Volk. Das oft zitierte Wort „Die Völker sterben am Liberalismus“, ist viel wahrer, als wir gemeinhin denken; denn der zersetzende Geist der Aufklärung nagt und frißt am Leben der Völker, auch unseres deutschen Volkes. Auf die Gewissensfrage: wer bist du, daß du aus dem Kriegsgeschehen übrig geblieben bist? wollen wir nur die eine Antwort kennen: Du gehörst dir nicht mehr selbst an, du gehörst nach dem Willen des Ewigen nur deinem Volk mit allen deinen Kräften an. (Deißner, S. 16)
So sprach Prof. D. Kurt Deißner, der Rektor der Universität Greifswald am Totensonntag 1931 vor der Studentenschaft im Angedenken und zu Ehren der Toten von Langemarck. Aber selbst die Universität fremdelte in der Ackerbürger- und Beamtenstadt:
Die Universität in einer kleinen, ländlichen und abgelegenen Stadt brachte als kulturelle Eigenheit eine große Nähe der Professorenschaft untereinander, aber auch von Stadt und Universität mit sich. Die hausbesitzenden Mittelständler lebten von der Studentenkundschaft, an die sie Zimmer vermieteten oder Brot und Bier verkauften. Es war unmöglich, einander aus dem Weg zu gehen, und jeder wusste genau von dem, was der andere tat oder ließ. In dieser engen und bisweilen stickigen Atmosphäre gediehen Klatsch und Gerüchte besonders gut. Soziale Kontrolle auch in politischen Dingen war eine Folge der Überschaubarkeit. An sich waren das gute Bedingungen für ein sozialmoralisches Milieu. Die soziale Teilung der Gesellschaft hob die Enge jedoch in wichtigen Bereichen wieder auf, die unterschiedlichen Gruppen der Stadt achteten bei ihren Kontakten auf Abstand. Die räumliche Nähe führte nicht dazu, dass Akademiker, Beamte und alter Mittelstand Verbindungen pflegten. Sie lebten in der gleichen Kleinstadt, jedoch in weitgehend unabhängigen Verkehrskreisen, die sich nach dem sozialen Status unterteilten. (Matthiesen, 2000 a, S. 41)
Im Theater bestand die Gefahr des unausweichlichen Aufeinandertreffens beider bildungsbürgerlicher Eliten. So ging man möglichst nicht oder zumindest selten ins Theater und sich damit gegenseitig aus dem Weg. Das Theater lag quer zu den beiden bildungsbürgerlichen Gruppierungen. Vereinigen in einem rationalen Diskurs konnte das Theater sie nicht, dazu fehlte ihm die intellektuelle Kraft. Doch ohne diese beiden kulturtragenden Gruppen an das Theater zu binden, konnte die Existenz des Theaters in dieser kleinen Stadt kaum legitimiert werden, denn in den letzten Jahren der ersten deutschen Republik wurde die gesellschaftliche Funktion des Theaters vom überwiegenden Teil des Bürgertums in seiner den realen Klassenkampf ausblendenden, die sozialen Konflikte verunklärenden deutschtümlichen Sendung gesehen.
„Außer der Kirche sind Hochschule und Theater die Hocherziehungsinstitute des Volkes zur Veredelung von Geist, Charakter und Seele, und es ist daher die Aufgabe aller Kulturinstanzen der deutschen Nation, den Weg zur Volkwerdung möglichst abzukürzen, was nur dadurch geschehen kann, daß sie sich der Werte und Kräfte bewußt werden, die in diesen Einrichtungen der Nation enthalten sind, und daß sie vor allem die unvergänglichen Werte in rechter Weise nutzen und fördern, die die künstlerischschöpferischen Persönlichkeiten eines Volkstums ihrem Volke darbringen.“ (Ziegler, S. 32) Mit dieser Funktionsbestimmung begann der gleitende Übergang zur nationalsozialistischen Indienstnahme des deutschen Theatersystems, propagandistisch vorbereitet vom Kampfbund für deutsche Kultur und von der mitgliederstarken Zuschauerorganisation Bühnenvolksbund willig akklamiert.
Diesem Grundgedanken völkisch-nationaler Theaterarbeit musste sich der Intendant Voß nicht anzupassen versuchen, denn ähnliche Gedanken unterlagen seinem theatralen Lebensziel schon längst. Dieses Ziel war ein zweites: sein Bayreuth aufzubauen. Mit jener Obsession hatte er den goldenen Schlüssel in der Hand, um seine kulturpolitische Reputation ein für allemal zu sichern, die städtischen Kassen zu öffnen und fallweise die beiden kulturellen und finanzstarken Eliten im Theater zu vereinen. Greifswald und Voß schossen im deutschnationalen Rausch des Wagnerkultes zusammen. So konnte er sein theatrales Lebensziel verwirklichen. Die Bedingungen waren für das Vorhaben von Voß, mithilfe des Betriebs eines Stadttheaters seine Wagnerobsession alimentieren zu lassen, günstig und die Zeitumstände ihm wohlgesinnt und er wusste das für sich und „seinen“ Wagner glücklich zu nutzen. Richard Wagner war der Gott, dem die deutschnationalen und konservativen, einem verklärten Wilhelminismus nachhängenden Greifswalder Bürger und die deutschnational eingefärbten Universitätsangehörigen, aufgerufen vom Zeremonienmeister Voß, gemeinsam huldigen konnten im zum temporären Festspielhaus verwandelten Greifswalder Stadttheater. 1935 pries er sich und sein gelungenes Werk:
Alle Welt weiß, daß ich ein Wagner-Spezialist bin als Spielleiter. […] Meine hiesigen großen Wagner- Aufführungen sind von berühmten gastierenden Künstlern geradezu bewundert worden und haben unserem Theater den guten Ruf in der Theaterwelt verschafft, den es überall genießt. Die fünf Parsifal- Aufführungen in einer einzigen Woche (1921) haben viele führende Zeitungen als eine künstlerische Tat allerersten Ranges gepriesen. Dadurch erst ist das vorher fast unbekannte Theater mit einem Schlage in ganz Deutschland bekannt und angesehen. Insgesamt habe ich das hehre Werk dreimal einstudiert, 21, 23 und 29, so daß Greifswald den Parsifal schon achtmal gehört hat und immer in guten würdigen Aufführungen. Ebensogut waren meine anderen Wagneraufführungen. Ich habe selbst weit über 400 Wagner-Opernabende gesungen, kenne das ganze Lebenswerk des größten Meisters des Musikdramas in- und auswendig. Wagners wunderbare, echt deutsche Kunst, ist für mich etwas Heiliges! […] Die noch zu schreibende Theatergeschichte unserer Stadt wird meine, einer unerhörten Kunstbegeisterung und fanatischen Liebe zu Richard Wagners herrlichen Musikdramen entsprungene Tat [die dreimalige Inszenierung des „Parsifal“ mit der Parsifal-Woche 1921 im Zentrum; Th. W.] gebührend würdigen und auch die anderen ebenso gutgelungenen Aufführungen der Werke Rich. Wagners auf unserer Bühne nicht zu vermerken vergessen. (Voß, 1935, Blatt 168 bis 170)
Der Effekt dieser Wagneradoration, die das Kernstück der Greifswalder Dramaturgie genannt werden kann, war nicht gering zu schätzen, denn Greifswald war Teil einer Theaterlandschaft, in der es sich erkennbar aufstellen musste, vordringlich deshalb, um überregionale Aufmerksamkeit zu erregen. Denn das war ein Kapital, mit dem es zu wuchern galt, benötigten Stadt und Theater doch bis 1932 Zuschüsse aus der Provinzialkasse in Stettin und nach 1933 Reichszuschüsse aus Berlin. Mit Wagner ist in allen Deutschlands seit 1871 immer ein Geschäft zu machen, kein deutscher Staat, der nicht auf seine Weise Wagners Werk missbraucht. Vielleicht ist eine der rühmenswerten Leistungen der späteren Opernregisseure nach 1973, Dieter Reuscher, Arnold Schrem, Manfred Hinz und Peter Wittig, dass sie, bewusst oder unbewusst, ihr Opernrepertoire dem Werk Wagners verschlossen.
Umso wichtiger und denkwürdiger ist der Entschluss der Theaterleitung im Jahr 2013 doch wieder einen „großen“ Wagner zu produzieren. Das Besondere dieser Inszenierung ist ihr Entstehen, sie ist eine Koproduktion mit der polnischen Oper in Stettin. Wenn dies ein erster Schritt zu einer künftig kontinuierlichen transnationalen künstlerischen Gemeinschaftsarbeit im alten Kulturland Pommern zwischen den beiden Völkern, die seine Gegenwart bestimmen, gewesen sein sollte, dann könnten sich zumindest für die Musikkulturen diesseits und jenseits der Oder völlig neue Perspektiven ergeben. Die europäische Oper ist seit jeher eine grenzüberschreitende und Sprachbarrieren souverän überwindende Kunstleistung und Kulturinstitution. Die kurze Phase der sogenannten Nationaloper in Werkgestalt, Aufführungspraxis und Opernbetrieb ist eine zwar wichtige, aber längst historisch gewordene Episode der Musiktheaterentwicklung des 19. Jahrhunderts. Die Internationalisierung des Opernbetriebs zielbewusst in der Zusam - menarbeit der Musiktheaterensembles des Theaters Vorpommern und der Stadt Stettin zu nutzen, ist eine dringliche, lohnende und vor allem eine neue Aufgabe.
Aufrüstung von Kultur und Militär Hand in Hand
Ab 1926 lavierte das Stadttheater immer am finanziellen Zusammenbruch entlang, den schrumpfenden Finanzhaushalt der Stadt zuweilen über Gebühr belastend. Für die nationalsozialistische Kulturpolitik war es deshalb ein leichtes Spiel die Theaterleute, sowohl mittels propagandistisch initiierter und ausgenutzter sozialer Wohltaten wie eines lauthalsen Versicherns ihrer völkischen Sendung, für sich einzunehmen und das Theater finanziell durch ministerielle Zuwendungen über Wasser zu halten. Das Stadttheater hing seit 1932/33 am Tropf außerstädtischer Geldgeber. Gemäß der Politik der technologischen Aufrüstung, militärisch wie zivil, wurde während der nationalsozialistischen Herrschaft mit der dringend erforderlichen bühnentechnischen Erneuerung des Theaters begonnen, wurden die Arbeitsbedingungen für das künstlerische Personal durchgreifend verbessert, wurde eine offensive Theaterpropaganda betrieben, die weidlich ausgelaugten Kostüme und Prospekte noch aus dem Anfang des Jahrhunderts stammend ausrangiert und durch eigens für die Inszenierungen nach künstlerischen Erwägungen gestaltete und hergestellte Kostüme und Dekorationen aus eigenen Theaterwerkstätten ersetzt. Das Stadttheater Greifswald ist ein Beispiel für den Modernisierungsschub, der in den 1930er Jahren einsetzte und von der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik gestützt und partiell forciert wurde. Diesem Modernisierungsschub musste auch Voß Tribut zollen. Finanziell fürstlich abgefunden, verließ er 1936 zwischenzeitlich das Theater, weiterhin wohlgelitten und staatlicher Achtung sicher. Eine selbstgestrickte Greifswalder Legende besagt, er sei entlassen worden, weil er sich standhaft geweigert hätte, der NSDAP beizutreten. Das klingt gut, ist hübsch erfunden. Die Akten sprechen eine andere und sehr eindeutige Sprache. Sie liegen jedermann einsichtig im Stadtarchiv. Sie wurden auch nachweislich eingesehen, aber ihr Inhalt wurde verschwiegen. Die Wiedereinstellung von Voß nach der unvorhergesehenen Berufung des Intendanten Claus-Dietrich Koch nach Erfurt durch Oberbürgermeister Pg. Dr. Johann Rickels ist ein anrüchiges Geschäft zwischen zwei gleich gewieften Geschäftsleuten. Der Auf-, Um- und Abbau der viel populäreren „Petershagen- Legende“, die Geschichte vom letzten Kampfkommandanten der Stadt und seines Anteils an der kampflosen Übergabe der Stadt im April 1945 an die Rote Armee ist ein vergleichbarer Greifswalder Vorgang. Kleine Städte sind anfällig für Legenden …
Parallel zur technischen Erneuerung des Theaters 1936 wurden die militärischen Anlagen in Greifswald aufgerüstet, in Greifswald selbst entstanden rings um die Stadt große Kasernenkomplexe, Flakkasernen und Infanteriekasernen an mehreren Standorten und die umfang - reichen Anlagen des Fliegerhorstes Ladebow bei Wieck im Nordosten der Stadt. „Das Bild der Straßen Greifswalds wurde bald mehr von Soldaten als von Studenten bestimmt.“ (Erdmann und Biederstedt, S. 150)
Trotz allen Mühen und sanftem Zwang der nationalsozialistischen Zuschauerorganisationen wurde auch nach 1933 das Theater seines Publikums nicht froh. War das Theaterinteresse von vornherein in dieser Stadt beschränkt, so sank das Interesse nach 1933 noch mehr, fielen doch viele erfolgreiche musikalische Lustspiele, Operetten und Schauspiele der Verbotspraxis der nationalsozialistischen Reichstheaterkammer zum Opfer.
Sozialistische Kulturrevolution und bürgerliches Stadttheater – ein verlorenes Zwischenspiel
Die staatliche Neuordnung nach 1949 rief wieder die Grundfrage der neueren vorpommerschen Theatergeschichte zwischen Putbus und Anklam auf den Plan: Fusion ja, Fusion nein; Oper hie, Schauspiel da. Beide Optionen wurden probiert und wieder verworfen, virulent blieb die Problematik immer. Und doch: Die sozialismuseigenen Theaterverhältnisse ermöglichten es erstmals, eine künstlerische Elle an die Inszenierungen anzulegen. Die Theater waren in ihrer Gesamtheit weitgehend ökonomischen Zwängen enthoben, stattdessen jedoch ideologischer Aufsicht und verschiedensten Zensurmaßnahmen unterworfen bis hin zu Anweisungen und Reglementierungen, die unmittelbar in den künstlerischen Prozess einzugreifen versuchten. Die Funktionäre wollten alles im Griff haben und überall mitmischen. Im Theaterbereich diente ihnen der zum Popanz verunstaltete Konstantin Stanislawski als Fährtenhund. Aber – und das wurde zum entscheidenden Entwicklungsmoment des künstlerischen Aufschwungs der Theater in der DDR – die Theatermethode und -ästhetik Bertolt Brechts konnte sich, aufgrund ihrer originären und substantiellen marxistischen Grundierung mit Mühen und Verzögerungen zwar, jedoch grundsätzlich und letztlich umfassend in den DDR-Theatern durchsetzen und musste dort grollend von der Kulturbürokratie geduldet werden. Mit dieser Methodik, die aufführungspraktisch, schauspielpädagogisch, dramaturgisch-analytisch und dramenästhetisch durchschlagend verändernd wirkte, hatte das Theater in der DDR jahrzehntelang ein theatralisches Arbeitsverfahren zur Hand, das national wie international die zeitgenössische Theaterkunst mitbestimmte, zuweilen dominierte. Das Greifswalder Schauspiel formierte sich von 1960 bis 1964 unter dem Einfluss und der bewussten Handhabung der Methoden des epischen Theaters zu einer landesweit beachteten Truppe, wobei ihr steigendes ästhetisches Selbstbewusstsein und künstlerisches Vermögen, das tiefe Misstrauen der gläubigen Stanislawski- Adepten innerhalb und außerhalb des Theaters und – unglaublicherweise – ein zunehmendes Desinteresse der auf Lustspiel geeichten Greifswalder Zuschauer hervorrief.
Aber nicht nur deshalb verfing das Theaterspiel nach 1949 in der Stadt nur selten. Das Theater blieb für das ansässige, evangelisch gebundene Bürgertum immer eine staatlich alimentierte, außengelenkte, parteioffizieller Doktrin unterworfene Institution, die angeblich keinen Vergleich mit hauptstädtischer Theaterkunst standzuhalten vermochte. Das Theater war zu ignorieren, es drängte sich für diese Bevölkerungsschichten nicht auf. Das Bürgertum hatte seine eigene, alle Kräfte bindende und freisetzende, jährlich wiederkehrende Begegnungsund Erlebnisstätte, die Greifswalder Bachwochen.
Die Greifswalder Bachwoche war das tief im bürgerlichen Milieu verankerte, von ihm selbst seit 1946 aktiv mitgestaltete und bekenntnishaft empfundene und begangene kulturelle Ereignis, dem alle Sorgfalt und Teilnahme galt. Kirchlich organisiert und geistlich ausgerichtet, die Gemeinde zur Feier Gottes und des Bachschen Genius im Bündnis gegen den atheistischen Staat und seine Kultureinrichtungen vereinigend, war die Bach - woche, stets gesamtdeutsch konzipiert und durchgeführt, die Kraft der Kirchenmusik beweisend, religiöse Feier mit ästhetischem Genuss verbindend, dem Theater in der Zusammenführung eines bewussten Publikums weit überlegen.
Die Chance einer zweiten Greifswalder Dramaturgie verspielt
Für einen kurzen Augenblick gab es die Gelegenheit, eine zweite Greifswalder Dramaturgie, diesmal eine vorwärtsgewandte im Zusammenspiel von Universität und Theater, zu entwerfen. Diesen Augenblick zu nutzen, war für das Theater deshalb von höchster Dringlichkeit, war es doch unmittelbar zuvor in den Jahren 1950 bis 1952 Experimentiermasse der sozialistischen Kulturrevolution gewesen. Das Stadttheater war eingegliedert worden in den Verband der mecklenburgischen Landestheater, deren staatlich verordnete Aufgabe darin bestand, die kulturrevolutionäre Losung „Kultur auf das Land“ umzusetzen. Das Stadttheater, nun ein Landestheater mit über 18 Abstecherorten, war den Bürgern entwunden – dass sie es sich leichthin haben entwinden lassen, steht auf einem anderen Blatt –, aber es gab zu dieser Zeit für den Bürger wahrlich Wichtigeres zu bewahren: den seine besondere soziale Existenz ermöglichenden Privatbesitz an Produktionsmitteln. Die Enteignungswelle, die Sozialisierung hob an und griff tief in das stadtbürgerliche kulturelle Selbstverständnis ein. Aus diesem historischen Umfeld heraus ist die überragende Rolle der Greifswalder Bachwoche zu verstehen, aber auch der relative Aufschwung, den das Theater nahm, als es mit der Landmission ein Ende hatte und in den Jahren 1954 bis 1956, den kulturpolitisch liberalsten Jahren in der DDR vor 1961, das Theater wieder in städtische Hände zurückgegeben wurde und nun als Theater der Universitätsstadt firmierte. Dieser Titel hätte Programm werden können. Die Bedingungen waren günstig. In der Universität hatte sich eine erstaunliche Öffnung des Lehrbereichs Neuere deutsche Literatur und der sich ihm zugehörig fühlenden Germanistikstudenten hin zum lebendigen Theater und speziell zur Praxis und Theorie des epischen Theaters vollzogen. Professor Bruno Markwardt und seine Studenten näherten sich dem Werk des Marxisten Brecht von historisch geläuterten, bürgerlich-humanistischen Wertvorstellungen aus an und, was entscheidend für ein wirkliches Verständnis der Brechtschen Ästhetik ist, sie akzeptierten nicht nur seine politische Botschaft, sondern erkannten in dieser gesellschafspolitischen Position Brechts den tiefsten Grund für seine dichterischen und theaterpraktischen Leistungen. Sehr verknappt ist die Position Markwardts und, so ist anzunehmen, die seiner Studenten in einem Manuskript zur Ausarbeitung der Laudatio anlässlich der geplanten Ehrenpromotion Brechts am 16. Oktober 1956 zur 500-Jahrfeier der Universität dargelegt:
Nicht nur die ideologische Grundlage, auch die gestalterische Durchführung rechtfertigt den Anspruch nahe der Wissenschaft ein „wissenschaftliches“ Theater neu aufzurichten, gleichsam als „wissenschaftliche Anstalt“ und nicht nur als „moralische Anstalt“ im Sinne Schillers. […] Und die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Dramentheorie früheren Gepräges eröffnet wegen ihrer unerbittlichen Konsequenz und der Scharfsichtigkeit ihrer Folgerungen eine neue Bahn, deren kunsttechnische Verwirklichung B. Brecht selber in Werken wie „Mutter Courage“, „Kaukasischer Kreidekreis“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ verwirklicht hat, aber auch in Inszenierungen wie der von Johannes R. Bechers „Winterschlacht“. Auch die zeitgemäße Umsetzung früherer Stoffvorlagen wie etwa bei der „Dreigroschenoper“ oder „Pauken und Trompeten“ bekundet die hohe Fähigkeit, das Rückwärtige mit dem Zukünftigen in eine ideologisch überzeugende und gestalterisch wirksame Einheit zu bringen. […] B. Brecht besitzt einen untrüglichen Instinkt für das, was sich in unserer Gegenwart zunächst einmal dramentheoretisch beweisen und dramenschaffend verwirklichen läßt. (Markwardt, S. 10)
Die Ehrenpromotion kam zu spät; Bertolt Brecht starb am 14. August 1956. Die von der Universität vorgesehene Ehrung Brechts war keine staatlich abgeforderte oder gar erzwungene Unterwerfung einer noch unverwandt dem bürgerlichen Selbstverständnis universitären Forschens und Lehrens gehorchenden Universität unter die Prinzipien sozialistischer Kulturpolitik. Diese Ehrung resultierte aus einer mehrjährigen intensiven Beschäftigung mit Brecht und seinem Werk an der Greifswalder Universität. Hans-Joachim Bunge, ein Promovend bei Bruno Markwardt – 1957 verteidigt er seine Dissertation über die „Antigone“-Bearbeitung von Brecht –, beschreibt 1954 die Arbeit des literaturwissenschaftlichen Seminars und der Studentenbühne in Greifswald, die von anderen Promovenden und Assistenten Markwardts und auch von Bunge selbst geleitet wurde:
Mit dem Ausscheiden des Inspirators kommt oft – mindestens vorübergehend – die Arbeit [der Studentenbühne] zum Stillstand. […] Die alte Theatergruppe der Universität Greifswald unter Walter Feustel entging diesem Schicksal trotz ihrer früheren beachtlichen Leistungen nicht. Es war deshalb ein großer Gewinn, als einige Semester später der Student Gustav Erdmann nicht nur die Studiobühne wieder aufbaute, sondern gleichzeitig ihre Aufnahme in die Hochschulgruppe des Kulturbundes vermittelte. Die ideelle und materielle Unterstützung dieser Organisation ermöglichte eine stetige Arbeit und schuf wertvolle Beziehungen außerhalb des Universitätslebens zu maßgeblichen Theaterleuten. Das beginnt bei Vorträgen, beispielsweise von Wolfgang Langhoff, Eduard von Winterstein und Herbert Ihering im Rahmen der Kulturbundveranstaltungen und fand seinen Höhepunkt in der vom „Berliner Ensemble“ unterstützten Inszenierung von Bertolt Brechts „Die Gewehre der Frau Carrar“ [im Mai 1952; Th. W.] durch die Studiobühne. Ruth Berlau, die langjährige Mitarbeiterin Brechts, leitete selbst einige der Proben […]. Daneben entstand eine enge Zusammenarbeit mit dem Theater der Stadt Greifswald. Der erfreulichste Tatbestand ist, daß die Arbeit nicht sporadisch blieb. Immer noch von der Hochschulgruppe des Kulturbundes betreut, hat die Studiobühne ihren fachlichen und künstlerischen Leiter in Universitätsprofessor Dr. Markwardt gefunden. Mehrere Theaterexkursionen nach Berlin führten […] zu mehreren Diskussionen mit Bertolt Brecht und seinen Mitarbeitern und mit Mitgliedern des Deutschen Theaters. (Bunge, S. 37 ff.)
Das Gespräch mit Brecht hat Eingang in den Korpus der Brechtschriften gefunden, die „Carrar“-Inszenierung ist mit einigen – leider wenig aussagefähigen, zudem unerklärten Fotos von Ruth Berlau – in der Modellmappe „Die Gewehre der Frau Carrar“ schmal dokumentiert. Unbekannt sind die in unserem Zusammenhang besonders interessanten Dokumente der Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Greifswald. Wie dem auch sei, hier hätte sich eine systematische trilaterale Arbeit an einem neuen Theater „in alten Gemäuern“ zwischen Universität, Stadttheater und Berliner Ensemble entwickeln können; hier bot sich die Möglichkeit einer den Namen verdienenden kulturrevolutionären Tat. Das Theater schien bereit – das beweisen die Brecht-Inszenierungen in den Jahren 1957 bis 1959 –, die Studiobühne und Markwardt erst recht. Am Berliner Ensemble wäre das Projekt nicht gescheitert, schon weil Bunge dort als Regieassistent tätig war. Warum geschah trotzdem nichts weiter Nennenswertes?
Der Dozent an der Greifswalder Universität für Neuere und Neueste deutsche Literaturgeschichte Hans Jürgen Geerdts wird 1958 Jahr zum Professor mit Lehrauftrag berufen. Kurze Zeit darauf ist er damit beschäftigt, „den sozialistischen Aufbau der Germanistik in Greifswald in Angriff“ zu nehmen. „Sozialistischer Aufbau“ musste zwangsläufig Abriss der nichtsozialistischen Germanistik heißen. Es ging also nicht um die Germanistik, es ging einfach um die Verdrängung bürgerlicher Wissenschaftler: ganz aus der Universität oder in den Hintergrund derselben, es ging um den Personalwechsel. Warum Geerdts nicht vom Aufbau einer dialektisch-materialistisch fundierten germanistischen Forschung und Lehre spricht – das Gespräch, aus dem ich zitiere, fand 1983 statt –, sondern ganz stalinistisch vom sozialistischen Aufbau redet, ist leicht erklärlich: Die Germanistik kann in seinem Verständnis nur sozialistisch oder gar nicht sein. Ein Mann dieses Denkens war kein Partner für das Theater und wenn doch, dann unterwegs in kulturrevolutionär ausgetretene Sackgassen. (vgl. Hillich, S. 46 ff.) Die einmalige Chance, unter gleichsam laborartigen Verhältnissen eine neuartige Zusammenarbeit zwischen Theater und Universität zu erproben, war durch den Rückfall in den nachstalinistischen Dogmatismus und die damit verbundene restriktive Personalpolitik vertan. Alles, was folgte, waren Einzelinitiativen, zufällig und verstreut, für die einzelne Inszenierung möglicherweise interessant und nützlich. Manche Theaterkritik, in der Universität geschrieben, war vielleicht hilfreich und ermunternder als manch unbedarfte Nachricht über eine stattgefundene Premiere, die sich als Rezension ausgab.
An der Universität Greifswald bildete sich unter diesen bewusst geschaffenen Voraussetzungen, der Installation einer verkarsteten sozialistisch-provinziellen Literaturwissenschaft keine kulturkritisch aufgeschlossene Studenten- und Professorenschaft. Wiederum hatte sich wie zuletzt in den 1930er Jahren die Universität in einer ihrer wichtigsten wissenschaftlichen Disziplinen vollständig blamiert, sich der Fremdbeauftragung gebeugt. Germanistische Freibeuter enterten den wehrlosen Lehrstuhl für deutsche Philologie und die Germanistik wurde, schlechte historische Beispiele bedenkenlos nachahmend, zur Legitimationswissenschaft sozialistischer Art und deutschen Wesens, zur Unwissenschaft heruntergewirtschaftet.
Von 1960 bis 1969 ist das Stadttheater ein reines Einspartentheater. Das Schauspielensemble ist alleiniger Herr im Hause und ist klug und aktiv genug, um unter der Leitung von Werner Eisenblätter und Gertrud-Elisabeth Zillmer, die im Gegensatz zum sonstigen Dreisparten- Provinztheater nahezu paradiesisch anmutenden Produktionsbedingungen voll auszunutzen. In drei Spielzeiten schwingt sich das Ensemble zu einer in Greifswald noch nicht gesehenen und erlebten künstlerischen Leistungsfähigkeit auf, die im vierten Jahr, dem sogenannten Shakespeare-Jahr 1964, mit den Inszenierungen „Hamlet“ in der Regie von Adolf Dresen und „Volpone“ in der Inszenierung von B. K. Tragelehn ihren Höhepunkt finden sollte. – Vorbereitet durch eine Reihe anderer Inszenierungen, angefangen von der Modell-Inszenierung der „Antigone“ von Brecht nach Sophokles/Friedrich Hölderlin 1961 in der Regie von Kurt Veth bis hin zu der sich deutlich vom Modell der Inszenierung am Berliner Ensemble entfernenden, nicht aber die epische Spielweise aufgebenden Aufführung von Brechts „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“ von Dresen 1963. Die Erwartungen erfüllten sich: „Hamlet“ wurde zu einem Höhepunkt und läutete zugleich den Sturz der Leitung und die schnelle Zerstörung des Ensembles ein. Einige wenige Telefonate und kurze Gespräche in den Amtsstuben der bezirklichen Behörden müssen ausgereicht haben, um den ideologischen Feldzug gegen die Greifswalder Schauspielarbeit und vorzüglich gegen die „Hamlet“-Aufführung auszurufen.
Die Universität hielt sich vornehm feige zurück. Allein in der selbstverständlich unveröffentlichten Diplomarbeit des Germanistikstudenten Gunnar Müller-Waldeck aus dem Jahr 1966 ist von einem couragierten Eintreten für die Inszenierung zu lesen und darüber hinaus enthält sie einige einprägsame und genaue Beschreibungen einer Inszenierung, die fotografisch auffällig schlecht dokumentiert ist. Einige Autoren glauben, die Negative der Theaterfotografin Eva Gathen seien von der Stasi konfisziert worden. Meine Recherchen in der Bezirksdirektion Rostock der BStU konnten diese Behauptung weder bestätigen noch widerlegen. Solange haben die Bilder als verschollen zu gelten. In der Zentralintendanz des Theaterverbundes bei Georg Roth und seinen Getreuen zog wieder – erschreckt von der eigenen Courage und fürchtend um die frisch gewonnene Macht als freischaltender Intendant über alle drei Häuser, über Stralsund, Greifswald und Putbus – der immer beruhigend wirkende, da jede Spontaneität verdammende und alle Kreativität einschläfernde Dogmatismus ein. Zwei der Hauptfeinde sozialistisch korrekten Verhaltens wurden jetzt zielstrebig im Greifswalder Theater eliminiert. Nach der „Hamlet“-Inszenierung 1964, erzählt Jürgen Holtz, gab es eine Parteiversammlung. In dieser Versammlung stellte der Intendant Roth, der, wie gesagt, die Herrschaft über die drei Bühnen Stralsund, Greifswald und Putbus übernommen hatte, die infame Frage: „Genosse Dresen, bist du für die DDR oder gegen sie?“ Was macht man da? Schweigen. Dann stand Dresen auf und sagte: „Na, ich bin nicht gegen die DDR. – Ich bin nicht für die DDR. – Ich bin in der DDR.“ Riesengelächter. Die Versammlung löste sich in Rauch auf. Holtz betonte im Gespräch, dass trotz des rhetorischen Triumphs Dresens die Zeit für ihn und seine Kombattanten abgelaufen war und damit das Greifswalder Experiment, fern der Metropole Berlin, ein lustbetontes spielerisches Theater der Wahrheit zu wagen und ansatzweise zu realisieren, vor seiner Vollendung gescheitert war. Vollendung hätte bedeutet, eine personelle Kontinuität für diese Art Theater zu sichern, eine Stafettenübergabe zu ermöglichen. Nichts dergleichen. Spaß verstand im Bezirk Rostock nie jemand: Es musste pariert werden. Wer nicht wollte, musste gehen. Das wussten Dresen und Genossen, deshalb kamen sie weiteren Repressalien zuvor und gingen von allein. Sie stiegen auf, sie fielen nicht. Berlin tickte anders zu dieser Zeit. Jahre später sollte es besser sein, in der Provinz zu inszenieren und zu spielen als unter der Aufsicht des immer unberechenbareren an seiner eigenen Größe nahezu erstickenden Konrad Naumann und der ihm nachfolgenden, ähnlich düsteren Figuren in Bezirksleitung und Magistrat der Hauptstadt der DDR. (vgl. Holtz, 2015, S. 72)
Der ewige Kampf um künstlerische Selbstbestimmung und ihre neuen, alten Grenzen
Unverdrossen setzten die Theaterleute ihre Arbeit fort, jahrelang ohne erkennbaren ästhetischen Ehrgeiz, lustgebremst, einschläfernd, sich selbst wie die Zuschauer betrügend, mit dem sauren und süßen sozialistischen Kitsch von „Aula“ bis zu „Bürgermeisterin Anna“, von „Steine im Weg“ bis zu „Dissonanzen“, von der „Sekundenoper“ bis zu „Es waren zwei Königskinder“, mit dem einmaligen Höhepunkt, dem Tiefpunkt allen dramatischen Schreibens, Paul Herbert Freyers Text „Nachbarn“.
Erst Mitte der 1970er Jahre begann das Schauspielensemble sich eigener Leistungen der Vergangenheit neu zu besinnen. Die Schauspieler und Schauspielerinnen ahnten, dass sie ihre Spiele nicht mehr platt nach dem vermuteten Lokalgeschmack ausrichten durften, sondern dass sie ihre Sicht der Dinge, ihre Empfindungen und Überzeugungen kräftig ins Spiel bringen mussten. Sich befreiend von der opportunistischen Last der Zuschauerakzeptanz, fanden sie Kraft und Lust für ihre Profession wieder, entwickelten sie ihre Künste weiter, begannen sie aufzuatmen. Das Opernensemble hatte sich schon vorher auf diesen Weg gemacht. In den frühen 1970er Jahren begann eine bis 1994 reichende kontinuierliche Entwicklung eines kleinen, aber leistungsstarken musikalischen Solistenensembles unter der Leitung ambitionierter junger Regisseure und Dirigenten, den Prinzipien realistischen Musiktheaters in der Nachfolge Walter Felsensteins verpflichtet. Mit der Intendanz von Alfred Nicolaus öffnete sich endlich mit Beginn der 1980er Jahre auch das Schauspiel den vielfältigen neuen Spielweisen und Dramaturgien, die in den Theatern der DDR langsam Fuß fass ten, aber in Greifswald unter der rigoros beschneidenden Aufsicht der Rostocker Kulturbeamten und des sich allgewaltig dünkenden Rostocker Generalintendanten Hanns Anselm Perten bisher nicht möglich gewesen waren. Die von Manfred Dietrich, dem selbstlosen Oberspielleiter, eingeladenen Gastregisseure sorgten dafür und das Ensemble spielte bereitwillig und inspiriert mit. Herbert Königs legendäre „Nachtasyl“-Inszenierung 1980/81 markiert den Point of no Return: „Du kamst bei ihm auf die Probe und mit dem ersten Satz – von dir oder von ihm, egal –, du hast dich in einem absolut geschützten Raum gefühlt, in dem für dich als Schauspieler alles erlaubt war. Du warst nach außen geschützt, aufgehoben. Vertrauen. Ich meine nicht ‚wohlfühlen‘, das mein ich nicht, ich meine ‚geborgen‘. Nicht unbedingt vom Ergebnis her, aber auf der Probe. Es ging um uns und da kam das Gefühl auf, dass ein ernsthaftes Spiel erst ermöglichte, das bin ja ich. Das ist der Befreiungspunkt gewesen.“ (Rainer Etzenberg im Gespräch mit Thomas Wieck am 15. Januar 2013)
Das ging oftmals scharf am Publikum vorbei. Eine sehr merkwürdige Rolle spielte in diesem Abschnitt der Greifswalder Theatergeschichte, dem zweiten Zeitabschnitt, in dem überhaupt von zeitgemäßer und ästhetisch überzeugender Kunst auf dem Greifswalder Theater rechtens gesprochen werden kann, die lokale und regionale Theaterkritik. Kassandragleich orakelte sie mit besonderer Vorliebe darüber, wie und warum auch diese und jene Inszenierung wiederum kein Publikum finden werde, obwohl sie von durchaus anerkennenswerter künstlerischer Kraft, Geschlossenheit usw. zeuge. Hilfreich war das nicht, eher schon eine Form des höheren Opportunismus. Dem Theater signalisierte der Kritiker, dass sie oder er das Theater wohl verstünde. Da aber der journalistische Auftrag eines DDR-Kritikers die Vertretung vermuteter Zuschauerinteressen war – in Wirklichkeit waren es die Forderungen der jeweiligen führenden Parteifunktionäre, die als Volkes Meinung und Wunsch kaschiert in den Kritiken auftauchten –, musste der Kritiker in vielen fremden Namen, nicht für sich sprechen und deshalb etwas umständlich, aber deutlich vom Besuch der gelobten Inszenierung abraten. Selbstverständlich kann man die kritischen Eiertänze auch, nun von der Seite der bedrängten Kritiker aus gesehen, anders bewerten, nämlich als ein Ausweichen vor der eigentlich kulturpolitisch geforderten rüden Verurteilung solcher Inszenierungen, die kein Theaterpublikum finden sollten, die es nicht verdient hatten, überhaupt das Licht der sozialistischen Öffentlichkeit erblickt zu haben, vor deren Verbot jedoch die territorialen Leitungen aus den verschiedensten taktischen Überlegungen zu den verschiedenen Zeiten zurückschreckten. Es gab kein ehrliches Sprechen über das und mit dem Theater – und das Theater sprach zunehmend weniger, zeigte aber im szenischen Bild, im körperlich beredten Spiel umso mehr. Dies erschwerte objektiv eine ernsthafte Kommunikation mit einem Publikum, das sehr stark in seinen Rezeptionsgewohnheiten durch Wort und Klang auf der Bühne geprägt war und diese Rezeptionsangebote nur schwer handhaben konnte. Die 1970er Jahre mit ihrer völlig erneuerten metaphernreichen Theatersprache waren im Greifswalder Theater regelrecht verschlafen worden. Der berüchtigte „Greifswalder Schlaf“ (Ernst Moritz Arndt) hatte das Theater – vorzüglich im Schauspiel – gelähmt.
An eine radikale Modernisierung des Spielplans war indes auch bis Mitte der 1980er Jahre noch nicht zu denken: Geplante Stücke wie Hacksens „Die Binsen“ – die Uraufführungsrechte hatte Peter Hacks dem Theater Greifswald zugesprochen – und Volker Brauns „Großer Frieden“ wurden von der bezirklichen Spielplankommission zurückgewiesen. Diese rigide, wenngleich kaum selbstverschuldete Beschränkung des Spielplans, mag einer der Gründe gewesen sein, aus denen das Theater ignoriert wurde durch die kleinen, doch meinungsstarken Gruppen selbstdenkerischer Studenten und anderer junger Greifswalder, die sich in der evangelischen Studentengemeinde und in den informellen Kreisen um Lutz Wohlrab, Robert Conrad und Thomas Frick zusammengefunden hatten. Das Theater gehörte in ihren Augen zum offiziellen Kultur- und Kunstsystem und verfiel deshalb ihrer – ungerechtfertigten – Verachtung. Provinzieller Hochmut spielte dabei auch mit. Dieser Hochmut speist sich aus einem eigenartigen, eben provinziellen Gemenge von Ignoranz, Selbstüberschätzung und habituellen Minderwertigkeitsgefühlen. Ein besonderer, das Theater unmittelbar treffender Ausdruck dieses provinziell verzerrten Bewusstseins ist die ostentative Abscheu gegenüber allen von Fremden in dieser Provinz erbrachten Leistungen. Diese Leistungen sind zu ignorieren, weil sie – wenn es wesentliche Leistungen wären – ja nicht hier in der Provinz erbracht worden wären, erstickt doch die Provinz jegliche Kreativität, weshalb sie, die so Urteilenden, geistig nicht in dieser Provinz verkehren, obgleich sie in ihr zeitweilig-zwanghaft wohnen. Sie sind doch immer die Fremden schlechthin, die minderwertige Vertreter ihrer Profession sein müssen, denn wären sie sonst hier, in dieser schrecklichen Provinz angespült worden? Diese Geschmackspolizei ist das tatsächliche Signum der Provinz, worunter die Theaterleute sehr zu leiden haben.
Erst in den letzten zwei Jahren der DDR konnten Texte von Heiner Müller, Ulrich Plenzdorf und Georg Seidel gespielt werden. Diese Jahre standen aber für das Greifswalder Theater unter dem Unstern der dilettantischen Sanierung des Theaterbaus. Die notwendige Übersiedlung in das problematische Kreiskulturhaus und eine Reihe anderer Ersatzspielstätten bremste weiteren Aufschwung, verhinderte jedoch nicht, dass weiterhin widerspenstige Regisseure wie Martin Meltke, Thomas Roth und Stephan Suschke, kurzzeitig als Dramaturgen engagiert, den erreichten Inszenierungsstandard hielten. Die Rekonstruktion drohte, endlos zu werden. Nahm sie überhaupt jemand ernst oder war das schon die unausgesprochene Lösung, die Ultima Ratio der Theaterfrage? Vielleicht, auf jeden Fall war in den Herbststürmen 1989 das Theater geschlossen. Erst im November kommen die ersten Premieren der Spielzeit zur Aufführung. Sie sind verspätet, da für einen überholten gesellschaftlichen Zusammenhang und für eine überwundene politische Situation konzipiert. Das Theater hinkte unverschuldet der Zeit hinterher und verlor weitere Zuschauer, schlimmer noch: Reputation in einer erwachenden Stadt.
1990 hoffte die Oper nun endlich aus dem vollen Klang schöpfen und das Publikum wieder gewinnen zu können, wogegen das Schauspiel keinen fixen ästhetischen Punkt fand und ungeleitet zwischen szenisch drapierten Textrepetitionen einerseits und bedeutsam gehäuften Bilderrätseln andererseits ins Schlingern geriet. Doch schon im Jahr 1993 verfügte das Schweriner Kultusministerium aus schnöden haushaltstechnischen Erwägungen die zweite Fusion der Stadttheater Greifswald, Stralsund und Putbus, dem das Greifswalder Ballett zum Opfer fiel. Eine selbstständige achtzigjährige Greifswalder Theaterarbeit wurde mit der Gründung des Theaters Vorpommern im September 1994 voraussichtlich für immer beendet.
Die Gründungsphase des Theaters Vorpommern ist weniger der Aufbau eines neuen Theaters als vielmehr ein unbarmherziger Verschleiß aller noch vorhandenen künstlerischen Potenzen, ein Ausverkauf bisheriger Erfahrungen, ein Selbstzerstörungsprozess umfänglicher Art. Ob es ein Akt der schöpferischen Zerstörung wurde oder die Wiederkunft im seligen bürgerlich-konservativen Stadttheatertrott, jetzt nur poppiger aufgemacht, vorbereitete – das zu entscheiden, liegt außerhalb eines historisch orientierten Überblicks über die Geschichte des Stadttheaters Greifswald. Die Geschichte des Stadttheaters ist, streng genommen, die Geschichte eines Untergangs. Das Stadttheater Greifswald ist spätestens in der ersten Spielzeit des Gründungsintendanten Florian Zwipf an den unsinnigen Bestimmungen des Fusionsvertrages zerschellt. 1993 standen zwei Optionen offen, die Option auf eine große Lösung, das wäre die Gründung einer Landesbühne Vorpommern unter Einschluss der Theater in Greifswald, Anklam und des mecklenburgischen Neustrelitz/ Neubrandenburg gewesen. Ekkehard Klemm hat 1992 diese Lösung ins Gespräch gebracht. Die zweite Option wäre eine Zusammenarbeit zwischen Greifswald mit Stralsund/Putbus gewesen, wie sie in den Jahren 1960 bis 1964 mit eindeutigem Gewinn für die künstlerische Qualität beider Theater praktiziert wurde, also die Spezialisierung der Theater mit der Schauspielbühne Greifswald und der Opernbühne Stralsund. Diese zweite Lösung wurde ideologisch verdächtigt, durch das unsinnige Wort vom „Kombinat“ verfemt und in den sozialistischen Orkus verbannt. Ein unbelasteter theaterökonomischer und theatergeschichtlicher Blick auf diese Konstruktion hätte ihre reale und bewiesene Produktivität erkennen lassen. Gewählt wurde 1993 eine Zwischenlösung, die nur zerstörerisch wirken konnte, da die einzige künstlerische Integrationsfigur vor Ort, das war Ekkehard Klemm, mit seinem Projekt eines der Gegenwart verpflichteten Musizierens allein stand und weil das neu zu bildende Schauspielensemble für die kleinmütigen Weltschmerz - attitüden seiner unerfahrenen Leiter herhalten musste. Die personellen Bedingungen für die faktische Neugründung eines Theaters waren nicht gegeben. Das focht aber keiner der beteiligten Entscheidungsträger in Schwerin, Stralsund und Greifswald, deren Theaterkompetenz traditionell minimal war, an. Der Ansatzpunkt der Kultur - bürokraten war falsch. Er war dem deutschen Intendantenprinzip verpflichtet, dem Prinzip, dass Kunst verwaltet werden muss und deshalb alles davon abhängt, einen neuen treuen Verwalter zu küren, das andere, die Kunst, werde sich dann schon einstellen. Keimzelle eines neuen Theaters künstlerischer – nicht kulturpolitischer Provenienz – wird stets ein künstlerischer Plan sein, den eine Person, ein kleines Team entwirft, vorstellt und mit diesem um die Gunst vieler wirbt. So entsteht ein neues Theater aus der Kraft der künstlerischen Ensembles, die sich freiwillig für ein Konzept, ein Programm entscheiden. Das Theater Vorpommern hätte als eine Neugründung verstanden werden müssen, die es auch war, und nicht behandelt werden dürfen, als ob es das Theater letztlich schon gäbe und es nur einer rechten Intendantenkür bedürfe, um den Schlussstein in den grundschief am grünen Tisch entworfenen Theaterbau einsetzen zu können. Am Ende dieser unglücklichen Zwischenzeit steht Ekkehard Klemms offener Brief. Bewirkt hat er wenig. Alles deutet daraufhin, dass die alten Fehler wiederholt werden. Ich verhehle meine Befürchtung nicht, dass ein zweites Baniner Spiel aufgeführt wird. Jedoch – welch Trost – nicht einmal der letale Ausgang dieses Spiels konnte jemals verhindern, dass in der alten Universitätsstadt immer wieder – in vielleicht zu großen Abständen und zuweilen auf sehr unvollkommene Weise – der Spielteufel erwachte. In dieser lebenswerten Stadt ist, wenn sie ihre gleichsam mediterrane Seite zeigt – und die hat sie – oder dann, wenn die Linden blühen, Theater aller Orten und auch am Platz der Einheit leicht vorstellbar, unvorstellbar hingegen, dass es kein künstlerisch anspruchsvolles Theaterspiel hier mehr geben soll. Ich hoffe noch immer auf ein Greifswalder Theater, das sich wagemutig in ästhetisches Neuland vortastet und zugleich die besten künstlerischen Traditionen seiner Geschichte bewahrt. Was das bedeutet? Das bedeutet eine strenge und präzise spielerische Erkundung der Gefährdungen und Chancen selbstbewussten Lebens in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der menschlichen Gesellschaft und das heißt, die Verhältnisse auf der Bühne zum Tanzen zu bringen, und das heißt, die Verhältnisse müssen vom Schauspieler radikal, bei der Wurzel, beim Menschen in seinem Spiel so gepackt werden, dass der Zuschauer gerührt, erheitert, erschaudernd erkennt, dass hier und jetzt seine ureigene Sache verhandelt wird.
Danksagung
Mein Dank gebührt meinen geduldigen und aufrichtigen Gesprächspartnern:
Jörg Krüger und Gabriele Püttner, Manfred Dietrich, Thomas Fehrle, Matthias Nagatis, den Gebrüdern Bernhard und Christoph Singelnstein, Dr. Lutz Wohlrab, Dr. Annette Hofmann, Dr. Ulrich Rose und Alexander Weigel. Den Herren Dr. Christian Donalies, Ekkehard Klemm, Ernst-Frieder Kratochwil, Arnold Schrem und Prof. Gunnar Müller-Waldeck danke ich ausdrücklich für die großzügige Bereitstellung rarer Archivalien und persönlicher Aufzeichnungen.
Den Damen des Archivs der Stadt Greifswald gilt mein herzlicher Dank für Umsicht, Geduld und Freundlichkeit. Für die ermutigende Anteilnahme am Unternehmen danke ich Dr. Sascha Löschner.
Ich gedenke Karin Dewald und Alfred Nicolaus.
Thomas Wieck
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Grußwortvon Angela Merkel | Seite 9 |
Grußwortvon Arthur König | Seite 10 |
damals in greifswaldvon Peter Konwitschny | Seite 11 |
!Stadttheater Greifswald Theaterstadt?von Thomas Wieck | Seite 12 |
EinleitungDanksagungvon Thomas Wieck | Seite 15 |
100 Jahre Theater Greifswaldvon Thomas Wieck | Seite 29 |
Der Bau und die Gründung des Stadttheaters Greifswald1912 – 1915von Thomas Wieck | Seite 30 |
Das Theater Greifswald: ein unternehmerisches Wagnis1915 – 1920von Thomas Wieck | Seite 34 |
Das Stadttheater in der deutschen Republik: eine ständige finanzielle Baustelle1920 – 1933von Thomas Wieck | Seite 38 |
Das Stadttheater im nationalsozialistischen Staat1933 – 1944von Thomas Wieck | Seite 49 |
Das Stadttheater Greifswald in der Sowjetischen Besatzungszone1945 – 1949von Thomas Wieck | Seite 69 |
Sozialistische Theaterexperimente in Mecklenburg und im Bezirk Rostock1949 – 1971von Thomas Wieck | Seite 72 |
Stagnation im Schauspiel, Aufschwung im Musiktheater – Die verschlafene Intendanz1971 – 1979von Thomas Wieck | Seite 90 |
Ein ehrgeiziger Intendant und seine inszenierenden Gäste1979 – 1987von Thomas Wieck | Seite 97 |
Die Kunst durch Rekonstruktion ein Theater zu zerstören1987 – 1989von Thomas Wieck | Seite 110 |
Die Auflösung der DDR und die Ratlosigkeit der Theaterleute1989 – 1990von Thomas Wieck | Seite 112 |
Die ersten gesamtdeutschen Spielzeiten1990 – 1994von Thomas Wieck | Seite 118 |
Eine theaterpolitische Notgeburt: Das Theater Vorpommernseit 1994von Thomas Wieck | Seite 126 |
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Gestalt und Wirkung
Brechts Shen Te in Berlin und Karl-Marx-Stadt
QUERBRECHT
Oder Papas Theater
Bibliographie
Beiträge von Thomas Wieck finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 03/2023
Neue Dramatik
Heft 01/2023
Bühne & Film
Superstar aus Neustrelitz
Heft 11/2022
Publikumskrise
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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