Arbeitsbuch 9
Animation fremder Körper
Puppen-, Figuren- und Objekttheater
Herausgegeben von Silvia Brendenal
Paperback mit 137 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISBN 978-3-934344-04-4, Originalpreis: € 12,70
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Der erwiderte Blick Auf der leeren Bühne eine Frau allein. Ein Seil hält, bindet sie, gibt ihr Flügel, raubt ihr die Federn. Immer zwanghafter, marionettenhafter geraten ihre Bewegungen, jeder Schritt in die Freiheit endet im Bewusstsein der Abhängigkeit - bis sie sich von dem bezwingenden Band befreit und langsam, tastend, zu laufen beginnt. Schritt für Schritt ...
Ein Mann, unlösbar mit einem Stuhl verbunden. Egal, ob man ihn umstößt oder wie nebenbei aufrichtet, er kann und will den ihm zugewiesenen Platz nicht verlassen ...
Der Schatten des standhaften Zinnsoldaten kommt für einen Augenblick dem der geliebten Tänzerin so nahe, dass er glaubt, ihn berühren zu können. Doch das Schattenreich löst sich auf und lässt ihn in der Wirklichkeit versinken ...
Pulcinella haut nach allen Regeln seiner Kunst um sich und weiss trotzdem die Welt zu retten - durch seine Lust am Spiel ...
Bilder aus Aufführungen des Festivals UNIMA 2000, entliehen dem Tanztheater, dem Schauspiel, dem Puppentheater und dem traditionellen Puppenspiel, die unterschiedlicher in der Wahl der künstlerischen Mittel nicht sein können und sich dennoch begegnen in dem Versuch, die "Grenze zwischen dem 'Wesen' der Körper und dem 'Wesen' der Dinge spielerisch zu überschreiten." (Christoph Lepschy) Gleich dem Weltfestival, dessen Programm sich nicht an der formalen, wohl aber der gedanklichen Spezifik des Puppenspiels orientierte, stellt auch dieses Arbeitsbuch Momentaufnahmen aus der Vielfalt der theatralischen Ausdrucksformen des Theaters der Puppen, der Objekte, der Dinge vor. Streifzüge in die Geschichte, die jüngste Vergangenheit, die beschworene Zukunft dieser Theaterform stehen neben Aufsätzen über die Beziehungen des Theaters der Puppen zu der bildenden Kunst, der Performance, dem Tanztheater, dem Schauspiel und der virtuellen Medienwelt. Darsteller, Regisseure, Szenografen, Wissenschaftler und Veranstalter setzen sich in ihren Beiträgen mit dem auseinander, was für sie das Vokabular der Dinge ausmacht, und belegen auch hier, dass sich dieses Theater - wie kein anderes - aus der Frage nach der Differenz speist.
Es ist kein Zufall, dass das Arbeitsbuch gerade jetzt erscheint, treibt es doch mit im Strom erwachter künstlerischer und publizistischer Aufmerksamkeit für das Phänomen Puppenspiel - auf bedeutenden, internationalen Theaterfestivals gastieren Puppentheater, im Feuilleton nehmen Rezensionen von Puppentheaterinszenierungen einen auffallend gewichtigen Platz ein. Das Arbeitsbuch versucht allerdings, die Wahrnehmung für ein Theater zu schärfen, dessen Beurteilung sich oft im Vagen verliert, will ein Instrumentarium der Kriterien an die Hand geben, das jenen wachen und offenen Blick zulässt, der um das "Unterwegssein" (Cordon Craig) der Puppenspiel-Kunst weiß. Auf diese Weise nutzt es seine Chance, für einen Moment dem Strom entgegenzusteuern; es lässt das Boot der theatralischen Attraktionen vorbeifahren und setzt auf leises, kundiges Entdecken.
"Die gegenwärtige Theaterszene scheint von einem Gespenst heimgesucht zu werden: dem Gespenst der Puppe" (Brunella Eruli). Diese "Heimsuchung" ist offensichtlich mit einem Potenzial an Veränderung und künstlerischer Entwicklung für die Theaterszene verbunden, mit einer inspirierenden Kraft, die da ist, sich durchsetzt, (be)wirkt.
Sie nehmen ihren Platz auf den Bühnen des zeitgenössischen Theaters ein: die Puppen, die Dinge, die Objekte, und sie erzwingen einen Diskurs der sich mit ihnen verändernden ästhetischen Ausdrucksformen. Dieser Diskurs macht einer emotionalen und metaphorischen Sprache Platz, wagt sich weit über den der "reinen Darstellung" hinaus und befragt u. a. die Rolle des Schauspielers aus Fleisch und Blut neben der des Spielers aus Holz oder Pappmaché. Wer animiert welchen fremden Körper?
Es ist auch kein Zufall, dass sich das Theater immer in Zeiten der Suche nach Erneuerung dem Theater der Dinge zuwandte, denn in ihm begegnen sich die darstellenden und bildenden Künste, lassen sich mögliche künstlerische Barrieren überwinden, die die Kunst- und Darstellungsformen voneinander trennen. So entsteht ein Freiraum an Kreativität, eine Werkstatt für das Infragestellen dessen, was gilt, aber nicht gelten muss, ein geschütztes Territorium für die Suche nach der eigenen (künstlerischen) Identität. Einer Identität, die das Wissen um die Formenvielfalt, die der Anarchie (im positiven Sinne) oder der ästhetischen Belanglosigkeit die Tür öffnen kann, ebenso miteinschließt wie jenes um die kulturellen Wurzeln, die rituellen, religiösen oder mythologischen Ursprünge. Im Bunde mit diesem Wissen ist es möglich, eine Brücke zu schlagen zu den philosophisch-theatralischen Dimensionen einer Kunst, die das Verhältnis zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Ding-Welt, zwischen dem Geist und der Materie als eigenständig definiert, die das Entstehen und Vergehen, Beleben und Sterben, Beseelen und Verdinglichen zu ihrem Inhalt gemacht hat. "Das Theater der Dinge ... thematisiert die Synergie von Geist und Materie, indem es sie als Spiel, als menschliche Tätigkeit vorführt", die "den Wahrnehmenden, den 'Zuschauer' in seiner Phantasie fordert, denn in seinem Geist wirkt das Leben der Dinge als Erlebnis und Utopie zugleich", so Konstanza Kavrakova-Lorenz in ihrem Aufsatz "Geist und Materie". Sie nimmt Bezug auf die von Walter Benjamin formulierte Sehnsucht eines jeden nach dem "erwiderten Blick". In bestimmten Momenten der Geschichte widmet der Mensch den Dingen seine Aufmerksamkeit in Erwartung ihrer Erwiderung. Er sehnt sich nach dem "erwiderten Blick", nach der "auratischen Erfahrung", in der ihn umgebenden Realität, und er schafft Kunst aus der Sehnsucht heraus, diesen Blick oder diese Erfahrung festzuhalten. Dieser Moment sei oft der "Augenblick einer Gefahr", in dem gleichwohl die Zeichen des Verfalls, aber auch der Rettung zu spüren sind.
Nimmt man also diesen "Augenblick der Gefahr" als den heute erkannten, den "erwiderten Blick" als den tatsächlich ersehnten an, scheint es auch kein Zufall zu sein, dass das Theater der Dinge immer tiefer in das künstlerische und somit menschliche Interesse rückt, zumal es mit einer Form von Wahrnehmung verbunden ist, die das "vergessene Menschliche" an den Dingen (Puppen und Objekten) ebenso meint wie die Bereitschaft, das Puppentheater als jenen Ort des "Dazwischen" zu akzeptieren. Als den Ort zwischen Leben und Tod, zwischen Lebendigem und Toten, zwischen Heiligem und Profanen, zwischen Göttern und Menschen, zwischen dir und mir.
Silvia Brendenal
Kapitel | Seite |
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I Kunst und Ritual | |
Gebrauchsformen des Puppenspiels in | Seite 8 |
Bilderzauber und Trauerzeremonievon Gerd Taube | Seite 10 |
Aus dem Reich der Totenvon Olenka Darkowska-Nidzgorski | Seite 14 |
Licht und Schattenseitevon Louis-Vincent Thomas | Seite 16 |
Haut und Seidevon Ulrike Hatzer | Seite 18 |
Der langwierige Weg des Sängers Luanzhouvon Liu Quingfeng | Seite 22 |
Dieb eines Berufsvon Bruno Leone | Seite 24 |
Hineingeboren in eine Puppenspielerfamilievon Roswitha Dombrowsky und Kurt Dombrowsky | Seite 26 |
II Das Theater der Dinge | |
Puppen und Objekte in der zeitgenössischen Bühnenkunst | Seite 28 |
Träger unbekannten Lebensvon Brunella Eruli | Seite 30 |
Sinnes-Wandelvon Christoph Lepschy | Seite 34 |
Ein Brief an Carlos Canelasvon Gyula Molnàr | Seite 38 |
Drei Viereckevon Anke Meyer | Seite 40 |
On est pareil mais différent?von Jacques Templeraud | Seite 44 |
Chapitre XIVvon Christian Carrignon | Seite 48 |
Das Ding, das Objekt, das Spielvon Peter Ketturkat | Seite 54 |
Die Stille der Puppenvon Hoichi Okamoto | Seite 58 |
Ich mache Vorschlägevon Agnès Limbos | Seite 60 |
Poesie des Vergänglichenvon Katja Spiess | Seite 64 |
Über das Hoffbare hinausvon Christiane Zanger | |
II Das Theater der Dinge | Seite 70 |
Das Theaterspiel der Dingevon Konstanza Kavrakova-Lorenz | |
III Spielräume | |
Das Puppentheater im Diskurs mit der bildenden Kunst, dem Tanztheater, den neuen Medien und dem Schauspiel | Seite 80 |
Entgrenzungenvon Enno Podehl | Seite 82 |
Ein Wald aus Zeichenvon Jean-Pierre Larroche | Seite 88 |
Tanz mit der Puppevon Nicole Mossoux und Patrick Bonté | Seite 90 |
Bildermaschinen und Medienkörpervon Meike Wagner | Seite 92 |
Die Kasperbühne und der Fernsehervon Hamster Damm | Seite 98 |
Über die letzten Dingevon Jarg Pataki | Seite 102 |
Der doppelte Körper beginnt sich zu teilenvon Sabine Leucht | Seite 108 |
Es ist Theater. Welttheatervon Marie Zimmermann | Seite 112 |
Abstraktion und Synthesevon Andrea Schmidt | Seite 117 |
IV Aus-Bildung | |
Berichte aus Stuttgart, Berlin und Charleville-Mézières | Seite 121 |
Die Dinge, die einem passierenvon Michael Vogel | Seite 122 |
Zwischen Spiel-Wunsch und Wunsch-Spielvon Evelyn Arndt | Seite 126 |
Vom Zufall zur Faszinationvon Cyril Bourgois | Seite 130 |
Tohu-Bohu bedeutet, das Chaos zu akzeptierenvon Gilbert Meyer | Seite 134 |
Zur Herausgeberin
Silvia Brendenal
Weitere Beiträge von Silvia Brendenal
Briefe über die Rezension von Matthias Thalheim zur Inszenierung »Der nackte König« (TdZ 10/1988)
»Bilanz im Vorwärtsgehen«
Schauspieler zur Gegenwartsdramatik (7)
Gespräch von Silvia Brendenal und Aufzeichnung von Ingeborg Pietzsch
Erlesenes
Eindrücke von der Internationalen Festwoche des Figurentheaters in Stuttgart
Staatliches Puppentheater Dresden
Die hüpfende Prinzessin von Ladislav Dvorsky. Regie: Hella Müller a. G., Ausstattung: Petra Zille
Bibliographie
Beiträge von Silvia Brendenal finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 09/2022
BRACK IMPERieT
„Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo
double 44
Regie? Zwischen Autor*innenschaft und Außenblick
Ensemble in Bewegung
Wie sich das Puppentheater Magdeburg stetig neu erfindet
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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