Müller macht Theater
Zehn Inszenierungen und ein Epilog
von Stephan Suschke
Herausgegeben von Stephan Suschke
Hardcover mit 280 Seiten, Format: 235 x 285 mm
ISBN 978-3-934344-31-0, Originalpreis: € 34,00
Dieses Buch ist leider vergriffen
"Heiner Müller war kein Regisseur, der mit der Peitsche auf der Probe saß. Seine Forderungen waren ganz anderer Art, es waren die Forderungen des Dichters. Und diese Forderungen sind viel intensiver als jene Hundeabrichtung, die sonst auf der Bühne stattfindet." Ginka Tscholakowa
Angstfreie Räume
Als ich Mitte der Siebzigerjahre als Siebzehnjähriger aus der thüringischen Provinz kommend, nach Berlin fuhr, um ins Theater zu gehen, gab es ein Theater, in das ich immer wieder ging, weil die Inszenierungen mich gleichermaßen erschreckten und faszinierten. Sie hatten nichts mit dem zu tun, was ich aus dem Weimarer Nationaltheater kannte: Es war die Volksbühne am Luxemburgplatz, wo ich das erste Mal Stücke von Heiner Müller sah, in Inszenierungen von Karge/Langhoff - SCHLACHT/ TRAKTOR - und Fritz Marquardt - DIE BAUERN.
1982 begann ich in Berlin zu studieren. Meine ersten Theaterbesuche galten wiederum Stücken Müllers, diesmal von ihm selbst inszeniert: DER AUFTRAG und MACBETH. An einem lauen Frühlingstag des Jahres 1987 begegnete ich ihm das erste Mal, weil ich Assistent für seine Inszenierung DER LOHNDRÜCKER werden wollte. Er war viel unkomplizierter, als ich gedacht hatte - die Hände, die zu Anfang schwitzend die Müllers gedrückt hatten, kühlten schnell auf Normaltemperatur herunter. Das erste Gespräch prägte einen Eindruck, der typisch für seine Theaterarbeit sein sollte: die Fähigkeit Müllers, angstfreie Räume zu schaffen.
Seit jenem Frühlingstag war ich bis zu seinem Tod an seinen Inszenierungen beteiligt. Angeregt durch die Schauspielerin Angelika Waller, begann ich vor zwei Jahren Material für dieses Buch zu sammeln. Bei derArbeit an diesem Buch kam mir die Kenntnis seiner Inszenierungen ebenso entgegen wie meine Vergesslichkeit, die einen neuen und fremden Blick auf die Arbeit ermöglichte.
Dieses Buch ist der Versuch, eine Arbeitsweise zu beschreiben, die von großem intellektuellem Aufwand geprägt war, der selten geworden ist in einem auf Verwertung zielenden, oberflächlichen Theaterbetrieb.
Zugleich spiegeln sich in der Theaterarbeit Müllers die politischen Veränderungen. In der DDR erzeugte sie Reibung, die ihre gesellschaftliche Relevanz zu bestätigen schien, während sie im vereinigten Deutschland zu singulären Kunstprodukten wurde. Es ging mir darum, diese Erfahrungen, die auch die Erfahrungen eines Epochewechsels sind, zusammen mit dem Wissen über Arbeitsweisen aufzubewahren, weil sie einen utopischen Kern enthalten.
Hintergrund dieses Buches ist auch das Nachdenken eines Regisseurs über die Arbeit eines anderen, über die intellektuellen und die artifiziellen Mittel, die er benutzte, die sehr spezielle Arbeit mit den Schauspielern. Ich kann nicht verhehlen, dass mich bestimmte Arbeitsweisen geprägt haben, auch nicht, dass einige davon illusorisch sind, weil sie durch Müllers biografischen und künstlerischen Hintergrund bestimmt waren. Müllers Reputation als Dichter ermöglichte komplizierte Arbeitsvorgänge im relativ starren Theaterapparat. Sie eröffnete ein heute utopisch erscheinendes Zeitreservoir, schützte Personen, und erzeugte so ein Klima kollektiver Kreativität.
Dieses Buch versucht, die Wege, vor allem aber das Denken Heiner Müllers und dessen praktische Umsetzung zu beschreiben. Es dokumentiert die manchmal schmerzlich langen Arbeitsphasen, die vom Misstrauen gegen schnelle Lösungen und oberflächliche Wirkungen geprägt waren.
Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln
Müller begann mit 51 Jahren als Regisseur zu arbeiten, das Gros seiner Inszenierungen entstand, als der Dramatiker Heiner Müller faktisch aufgehört hatte zu existieren - mit einer Ausnahme: WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE, die fünfteilige Geschichte vom blutigen Weg der Panzer durch das Jahrhundert der Revolutionen. GERMANIA 3 - GESPENSTER AM TOTEN MANN, geschrieben in seinem letzten Lebensjahr, blieb unbewältigtes Fragment, das er während der Inszenierung »fertig schreiben« wollte.
Als Anfang der Achtzigerjahre spürbar wurde, dass die Struktur DDR nicht zu halten war - das faktische Ende der Verwirklichungsmöglichkeit einer Utopie -, wurde Müller praktisch. Er begann zu inszenieren, wechselte in ein schneller wirkendes, aber auch schneller obsolet werdendes Medium, vielleicht ein letzter Versuch, operativ Einfluss zu nehmen, politische Wirkung zu erzielen. Es war die Sehnsucht, nach dem Kontakt, der nach Brecht auch der Faustschlag sein konnte, zugleich eine Hoffnung, Reibung zu erzeugen, die »Verhältnisse zum Tanzen« zu bringen.
Müllers Inszenierungen waren die »Fortsetzung des Schreibens mit anderen Mitteln«. Sein Ansatz war - wie beim Schreiben - am besten für mich zu fassen mit einer Denkfigur Deleuze/Guattaris - dem Rhizom: ein sich immer weiter verzweigender Wurzelstock. Das Verwenden von Motiven und Textteilen, das Überschreiben, Übermalen über einen Zeitraum von Jahren, Jahrzehnten hinweg, fand seine Entsprechung in den Inszenierungen, die von der Montage, der Konstruktion lebten, die immer der entstehenden Linie folgte, die manchmal vorgezeichnet war, sich manchmal durch das Schreiben/Inszenieren veränderte.
Er hat immer wieder betont, dass der Prozess ihn mehr interessiere als das Resultat, obwohl er überaus sensibel darauf reagierte, wie die Ergebnisse der Arbeit aufgenommen wurden.
Krieg ohne Schlacht
Heiner Müllers Biografie war eng verknüpft mit den politischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Stücke beschreiben die Utopien und blutigen Irrtümer, die im vergangenen Jahrhundert nicht ihren Anfang nahmen, aber ihr zumindest vorläufiges Ende fanden - Müller hätte Ibsen zitiert: Der Tod im Embryo. Als er 1980 zum ersten Mal inszenierte, schien es so, als würde sich der Status quo in Europa als faule Balance zwischen den Großmächten erhalten: Der kalte Krieg mündete in das forcierte Wettrüsten auf Kosten der Dritten Welt und einer immer illusorischer werdenden Zukunft des Sozialismus. Der wirtschaftliche Niedergang des »sozialistischen Lagers« ging einher mit ideologischen Erosionen. Nach der Biermann-Ausbürgerung, dem folgenden Künstler-Exodus, Charta 77 und Solidarnosc, den Menschenrechts-Diskussionen infolge der Schlussakte von Helsinki herrschte eine resignative Unruhe unter den unabhängigen intellektuellen Linken der DDR. Vor diesem Hintergrund inszenierte Müller DER AUFTRAG in der Atmosphäre eines Off-Theaters, versuchte die Deutungsmacht über seine Texte zu erlangen, ihnen mit den Mitteln des Theaters zu politischer Wirkung zu verhelfen. Der Stoff, scheinbar fern, im Nicht-Ort der Kariben spielend, fragte nach dem Preis der Revolution mit einer verschreckenden Notiz den beginnenden Abgesang skandierend: »umsonst gekämpftund nicht gelebt/umsonst gelebt«. Diese Fragestellung sollte die folgenden Arbeiten begleiten, die Frage nach dem Preis der Opfer, die zugleich der Versuch war, durch die Schonungslosigkeit des Blickes auf die eigene Geschichte und die eigenen Verhaltensweisen Erfahrungen für die Zukunft zu produzieren.
1989/90 begleitete HAMLET|MASCHINE Agonie und Ende der Deutschen Demokratischen Republik, einer politischen Struktur, ausgeblutet von der Dummheit der Funktionäre, dem stillschweigenden Einverständnis zwischen Bevölkerung und Staatsmacht, die sich gegenseitig Fleiß und Erfolg in die Tasche logen.
Unter dem ökonomischen Druck und der Faszination, die das Schaufenster BRD ausübte, wurde eine Woche vor der Premiere von HAMLET|MASCHINE die DDR abgewählt, die Bevölkerung flüchtete vor ihrer Emanzipation in die D-Mark. Die utopische Alternative »Kommunismus oder Barbarei«, pervertiert und ausgesogen durch den real existierenden Sozialismus, wurde zugunsten der Realie »Kapitalismus und Barbarei« aufgegeben. Am Tag des Mauerfalls sagte Müller, mit Hamlets Worten, was zum Zeitpunkt der Premiere das Wichtigste sein würde: »Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft.«
Mit dem Verschwinden der DDR war auch für Müllers Theaterarbeit eine neue Situation entstanden, auf die er mit MAUSER und DUELL TRAKTOR FATZER reagierte und die er als »Versuchsbohrungen« bezeichnete. Es war sowohl der Versuch, der endlos sich ausdehnenden Gegenwart Bilder von Geschichte entgegenzusetzen, als auch die Suche nach neuen Mitteln gegenüber einem neuen Publikum.
Plötzlich war Theater, wie Literatur, nicht mehr Surrogat für eine pervertierte Öffentlichkeit, sondern Bestandteil eines breit gefächerten auf »repressiver Toleranz« (Herbert Marcuse) beruhenden Kulturbetriebs, in dem politische Wirkung von Kunst schwieriger zu erzeugen war. Die gemeinsame soziale Erfahrung von Publikum und Schauspielern war nicht mehr länger Basis der Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum, die durch das »Neue Deutschland« provozierte kompakte Gegen-Öffentlichkeit war aufgespalten in viele partikuläre; Gruppen- spalteten sich in Einzelinteressen.
Müller verunsicherten die von ihm als Niederlage empfundenen Inszenierungen, und er inszenierte als Fluchtpunkt mit QUARTETT und DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI zwei Theatererfolge, die auch vom ökonomischen Druck durch die Situation des Berliner Ensemble bestimmt waren. Dabei war Müllers letzte Inszenierung die mit dem geringsten konzeptionellen und dramaturgischen Aufwand betriebene, die am schlechtesten vorbereitete, gleichzeitig die erfolgreichste. Das hing auch mit der Geschwindigkeit zusammen, in der sie entstand, parallel zur sich rapide verkürzenden Lebenszeit. Den Zwang, zum ersten Mal die alleinige Verantwortung als Intendant für ein Haus zu haben, setzte er routiniert in einen Erfolg um.
GERMANIA 3 - GESPENSTER AM TOTEN MANN sollte UI relativieren, was durch seinen Tod verhindert wurde.
Theater als Diskurs über Geschichte, Philosophie und Kunst
Müllers Stücke wie auch deren Inszenierungen sind Reflex auf die Veränderungen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, sie begleiteten sie in die Welt, in der wir jetzt leben.
Müller nutzte das Theater in seinen Texten und Inszenierungen als Raum für einen großen Diskurs über Geschichte, Philosophie und Kunst, in dem die Gegenwart Bezugspunkt war. Jenseits dessen gab es immer auch vitale Impulse, die bis in den privaten Bereich hineinragten, der bei Müller kaum von dem der Arbeit getrennt war. Wesentlich für alle Inszenierungen, bis auf QUARTETT und DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI, waren die intensiven Vorarbeiten. Es fand eine umfangreiche soziologische und dramaturgische Feldarbeit statt, die sowohl der Verantwortung gegenüber dem Gegenstand, zu DDR-Zeiten aber vor allem der erhofften politischen Wirkung sowie einem anderen Gefühl von Zeit geschuldet war. Die Zukunftsoption, die die Gesellschaft zu haben schien, schuf eine Zeitreserve.
Müller operierte wie ein Archäologe, trug die Gesteinsschichten, die sich auf den Texten abgelagert hatten, Schicht für Schicht ab, versuchte neue Bezugspunkte zu entdecken, dabei die kollektive Arbeit anregend und aus ihr Anregungen beziehend. Obwohl gesellschaftliche Realität immer Hauptbezugspunkt der Arbeit war, erschien sie in den Inszenierungen niemals vordergründig. Meist zitierte er in solchen Momenten Robert Wilson: »too obvious«.
Das intellektuelle Niveau dieser Arbeit war durch Müller gesetzt, der »angstfreie Raum« ermöglichte es jedem, seinen Beitrag zu leisten. Ausgangspunkt einer nie streng zielorientierten Arbeit - erinnert sei an die mäandernde Form des Rhizoms - waren großräumige, aufnahmefähige Konzepte, die von Müller ausgingen, offene Strukturen, kurz vor dem Zerfall, sich aber dadurch erhaltend. Die geistige Klarheit Müllers ermöglichte es ihm auch, Fehler stabilisierend in das offene System einzubauen. Er besaß die instinktive Fähigkeit, Menschen und Gegenstände, Texte und Gedanken so zu ordnen, dass die Arbeitsmaschinerie noch in Phasen der Hilflosigkeit produktiv war, gerade weil er diese zu einem Moment von Arbeit erklärte, von Erfahrung, die gemacht werden musste, um sich auf die Höhe der Gegenstände/ Stoffe/Texte zu begeben. Er erzeugte dadurch sowohl während der Vorarbeit wie auch auf den Proben eine intellektuelle Spannung und Aufmerksamkeit, die allein durch seine Belesenheit, sein außergewöhnliches Gedächtnis nicht hinlänglich erklärt ist.
Sein Interesse für kunstferne Bereiche ermöglichte ihm einen anderen Blick auf seine Texte - etwa die sich anbahnende Klimakatastrophe, die er als Grundeinfall für HAMLET|MASCHINE nutzbar machte, aber auch künstlerisch-philosophische Fragestellungen/Themen, wie das Feuer, das er in DER LOHNDRÜCKER als Schlüssel für die Inszenierung benutzte. Sämtliche Entdeckungen, die entweder von seinem Umfeld oder ihm selbst gemacht wurden, bildeten ein riesiges Wirklichkeitsreservoir, das in ein jederzeit bewegliches System eingebaut werden konnte.
Er zitierte gern Wagner über Shakespeare, wenn er über seine eigenen Inszenierungen sprach: »Improvisation im vorgegebenen Grundriss.« Das hatte seine Entsprechung in einem Witz, den er im bayrischen Dialekt erzählte: »Mir brauchen eine Anarchie.« - »Ja. Aber mit einem starken Anarchen.«
Bild - Räume
Den Rahmen für Müllers Inszenierungen bildeten sehr spezifische Bühnenräume. Es ist kein Zufall, dass er ausnahmslos mit Bühnenbildnern gearbeitet hat, die sich auch als Maler verstehen. Müller, dessen Texte von Bildern leben, hatte ein außergewöhnliches Interesse und Gespür für die Bildende Kunst, was sich in seinen Arbeiten widerspiegelt. Neben dem direkten Verwenden von Bild-Zitaten in Der LOHNDRÜCKER, HAMLET, DER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI finden sich in der Bild-Sprache Müllers eine Unmenge von Verweisen. Es gibt wenig Arrangements, die man als »realistisch« beschreiben könnte - wesentliches Mittel ist für ihn das großflächige Tableau. Man wird immer wieder Figurenkonstellationen finden, die scheinbar beziehungslos sind, bloß über Bildspannungen gehalten in den Bühnenräumen stehen. Müller griff auf erprobte und funktionierende Gestaltungsprinzipien der Bildenden Kunst zurück und benutzte sie für bildmächtige Arrangements. Dabei veränderten die unterschiedlichen Bühnenbildner auch sein Ausdrucksvokabular. Interessierte ihn an Hans-Joachim Schlieker der intellektuelle, von surrealen Einflüssen und Sprüngen faszinierte Maler, war Erich Wonder für ihn wesentlich, weil er ihm durch das filmische Übersetzen von Situationen einen Teil der Inszenierungsarbeit ersparte - die Räume erzeugten eigene Bewegungsmomente. Jannis Kounellis brachte die singuläre Konkretheit von Materialien ein, während Mark Lammerts Räume für Müller wegen ihres hohen Abstraktionsgrades wichtig waren, eine spezielle Herausforderung bedeuteten.
Betrachtet man, in welcher Folge er mit den Bühnenbildnern gearbeitet hat, wird deutlich, dass er immer wieder versuchte, die Mittel zu wechseln, immer wieder hoffte, sowohl neue Impulse zu gewinnen als auch Erfolgsrezepte nicht endlos zu perpetuieren.
Müller nahm selten Einfluss auf das Entstehen der Räume, sondern benutzte sie als eine Vorraussetzung/Herausforderung, der er sich stellte. Er setzte erzählende Arrangements, die aus dem Theater Brechts kamen, in Spannung zu surrealen Bildfindungen.
Der Regisseur als Spielverderber
Müllers Haltung gegenüber Schauspielern war von Respekt und Achtung geprägt. Der Umgang mit ihnen war ungewöhnlich: Müller war vollkommen uninteressiert am »schauspielerischen Weg zur Rolle«. Er hasste die Attitüde des Dompteurs - er zitierte gern Brecht: Talent ist Interesse. Das war auch Müllers Fähigkeit im Umgang mit Schauspielern - er interessierte sich für sie, dafür, was ihnen einfiel. Den artifiziellen Rahmen hatte er durch das Bühnenbild, durch die Struktur der Texte, durch die Grund-Arrangements gebaut. Der Rest war für ihn abhängig vom Schauspieler. Es war die Sehnsucht nach einer gemeinsamen Reise, bei der man eine Ahnung hatte, wo das Ziel lag, aber weder die Route noch die Mittel klar waren.
Obwohl er auch Angst davor hatte, interessierte ihn der Widerstand des Schauspielers gegen seine Vorstellungen, seine Überlegungen, seine Texte. Dabei setzte er nicht ohne Kalkül seine Unwissenheit in schauspielpraktischen Fragen ein, weil er hoffte und darauf vertrauen konnte, dass er dadurch eine andere Energie, eine andere Fantasie bei den Schauspielern auslösen würde. Müller störte auf diese Weise die gewohnten Wege, die Schauspieler bei der Erarbeitung einer Figur beschreiten. Als er sich in einem Interview als Dilettant bezeichnete, war das nicht nur kokett. Mit dieser Haltung stellte er - wie in seinen Texten - die arbeitsteilige Organisation des Theater mit ihren Hierarchien in Frage, die überkommene Machtstrukturen in der Gesellschaft abbilden. Es war auch der Versuch, in dem relativ angstfreien Raum des Theaters Zukunft zu schaffen, »Apparate« in Frage zu stellen. Das fand niemals über den offenen Konflikt statt, etwa wie bei Einar Schleef, sondern - typisch für Müllers Sozialisation - durch schleichende Unterwanderung, verblüffende Störung.
Die Besetzungstechniken wandelten sich mit der Zeit. Arbeitete er zu Anfang vor allem mit Schauspielern zusammen, die er kannte, deren Spiel- und Arbeitsweise er vertrauen konnte, waren mit wachsender Sicherheit die Besetzungsüberlegungen von der Sehnsucht nach Herausforderungen bzw. nach Widerstand geprägt. Mit seinen letzten drei Inszenierungen am Berliner Ensemble setzte er sein Theater der Biografien in Gang, in dem die Schauspieler mit Jahrhundertbiografien, wie Marianne Hoppe, Erwin Geschonnek und Bernhard Minetti, eine andere Authentizität in sein Theater der Geschichte einbrachten.
Müllers Texte sind sowohl in ihrer Gesamtstruktur als auch im Bedeutungsgehalt der Sätze und Teilsätze polyvalent, es gibt, wie bei allen guten Dichtern, eine Unmenge von Deutungsmöglichkeiten - sie sind Reflexions- und Diskussionsangebote. Im Moment einer Theater-Inszenierung werden sie über den Schauspieler zwangsläufig mit einer konkreten, zumeist emotionalen Haltung aufgeladen. Gleichzeitig wird die Vielschichtigkeit der Texte nivelliert. Diese Vereindeutigung mochte Müller nicht, daraus ergab sich sein Versuch, auf den »reinen Text« zu kommen - wesentliches Mittel war »Reduktion«. Dies hing mit einem fast religiösen Verhältnis zu Sprache zusammen, dem Hölderlins vergleichbar, der »mit Sprache die Welt retten« wollte. Dabei kam Müller vor allem bei seinen Inszenierungen in der DDR die Fixierung und Sensibilität des Publikums für Texte entgegen.
Müllers Arbeit an der Sprache war genau, geprägt von Musikalität, er hasste didaktische Expressionen. Dabei sprach er kaum Texte vor, sondern lieferte zumeist mit Geschichten, Vergleichen, Witzen die Untertexte bzw. Haltungen, die die Schauspieler für sich übersetzen konnten. Er hasste es, wenn Schauspieler den Text als Privateigentum betrachteten, ihn sofort mit ihren eigenen Attitüden, Kunstfertigkeiten besetzten.
Die Figurenzeichnung war scharfkantig, von der Individualität des Schauspielers war abhängig, wie groß ihr Spielraum war. Müller arbeitete mit großer Genauigkeit an Vorgängen. Dabei interessierte ihn die soziale Motivation mehr als die psychologische Befindlichkeit der Figuren.
Theater als soziale Anstalt
Müllers Weg zur praktischen Theaterarbeit war auch gekennzeichnet von der Lust und Neugier auf soziale Kommunikation, gegen die Einsamkeit des Schreibtisches. Er formulierte in einem Gespräch: »Theater kann man nur mit Freunden machen.« Gemeint war das engmaschige Umfeld, die sozialen Kontakte. Müller brauchte die Gruppe, er erzeugte in ihr eine offene Arbeitsatmosphäre. Dass es sowohl unter den Schauspielern als auch im Regieteam immer wieder zu Verletzungen kam, war oft schmerzvoll - Müller hielt sich aus den Kämpfen heraus, ihn interessierte nur das produktive Moment von Arbeit, manchmal der produktive Aspekt von Verletzungen. Er war unwirsch, wenn Kritik ohne Gegenvorschlag geäußert wurde, großzügig auch gegemanchmal schwachsinnige Vorschläge. Theaterarbeit mit ihm war angstfreies, kollektives Denken über Kunst und Gesellschaft, Politik und Alltag. Sie ging darin auf - das war ihre Qualität, die sie für Zukunft beispielhaft macht.
Diesen Ansatz nimmt das Buch auf, um Müllers Theaterarbeit im Spannungsfeld von geschichtlicher Authentizität und aus dem Rückblick für die Zukunft zu beschreiben. Dabei benutze ich sowohl die Dokumente, Notate und Äußerungen, die im Kontext der Inszenierungen entstanden sind, als auch Gespräche, die ich in den vergangenen zwei Jahren mit vielen Beteiligten geführt habe, die über die Arbeit mit Heiner Müller bereitwillig Auskunft gaben. Die Gespräche wurden für dieses Buch bearbeitet, die Widersprüchlichkeiten in der Bewertung thematisiert. Der subjektiven Erfahrung der Beteiligten wurde Vorrang gegeben vor meinem Referieren. Die Theater-Arbeit Heiner Müllers soll sich durch die Beschreibung, die Dokumente, die Fotos, und durch deren Montage erzählen. Die Einführungen zu den Stücken und zu den Hintergründen der Inszenierungen sollen auch dem Leser die Chance zu einem Einstieg ermöglichen, der die Texte bzw. Inszenierungen Müllers nicht oder nur zum Teil kennt. Die Brüche, Schwierigkeiten und die Ratlosigkeit waren wichtiger als das geschlossene, in sich funktionierende System. Die Arbeit mit Heiner Müller war immer brüchiger, widersprüchlicher, als es nach außen schien - oder wie er formulierte: »Die Form entsteht aus dem Maskieren.«
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Der erste AuftragDER AUFTRAG. ERINNERUNG AN EINE REVOLUTION 1980 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 12 |
Revolution hinter SichtblendenDER AUFTRAG. ERINNERUNG AN EINE REVOLUTION 1982 Bochumvon Stephan Suschke | Seite 30 |
Im Sog der BilderMacbeth 1982 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 46 |
Diagnose eines GeburtsfehlersDer Lohndrücker 1988 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 74 |
Requiem für einen StaatHamlet | Maschine 1990 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 106 |
Vorwärts in die VergangenheitMAUSER 1991 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 144 |
Etwas Neues aus den TrümmernDUELL TRAKTOR FATZER 1993 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 162 |
Skandal und OvationenTRISTAN UND ISOLDE 1993 Bayreuthvon Stephan Suschke | Seite 198 |
Fluchtpunkt ErfolgQUARTETT 1994 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 218 |
Welterfolg statt WirkungDER AUFHALTSAME AUFSTIEG DES ARTURO UI 1995 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 238 |
EpilogGERMANIA 3 - GESPENSTER AM TOTEN MANN 1995 Berlinvon Stephan Suschke | Seite 254 |
Anhang | |
Quellenvon Stephan Suschke | Seite 274 |
Personenverzeichnisvon Stephan Suschke | Seite 276 |
Registervon Stephan Suschke | Seite 278 |
„"Eine chronologisch geordnete Theatergeschichte, deren elf Kapitel durch eine Einführung und Aussagen Beteiligter ergänzt werden."“Freitag
„"Notate ohne jede besserwisserische Tätlichkeit. Spezialistentum ohne jede Abgrenzungs-Arroganz. Also: fesselnde Lektüre."“Neues Deutschland
„Herausragend“taz
Zum Herausgeber
Stephan Suschke
Weitere Beiträge von Stephan Suschke
Ohne Hoffnung ist man erledigt
Der Dramatiker Lothar Trolle im Gespräch mit Stephan Suschke
„Eine Marionette – das ist Scheiße“
Zum Tod der Schauspielerin Ruth Glöss
Geniales Kind im Mörderhaus
Zum Tod des Schauspielers Ekkehard Schall
Was ich war, weiß ich nicht
Aus Gesprächen mit Horst Sagert
Personenverzeichnis
Bibliographie
Beiträge von Stephan Suschke finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 01/2022
Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“
Heft 04/2016
Hamburgische Dramaturgien
Amelie Deuflhard und Karin Beier
Heft 12/2015
Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon
Umwege zum Realismus
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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