Heft 12/2015
Alexander Kluge: Tschukowskis Telefon
Umwege zum Realismus
Broschur mit 88 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Inkl. Stückabdruck FEAR von Falk Richter
Wieder beginnt ein Editorial in diesem Heft mit einem großen Unbehagen. Wieder fallen die Wörter Paris und Terror. Und wieder fühlt man sich den Ereignissen sehr nah. Bei den Attentaten am 13. November 2015 wurden Menschen getötet, die im Konzert waren, zum Sport gingen, im Café saßen, so wie man eben auch ins Theater geht, in die Oper, ins Tanzhaus. Die Auswirkungen der Anschläge lassen sich täglich aus den Medien ablesen: Ausnahmezustand in Frankreich, erhöhte Alarmbereitschaft in Europa, Terroralarm in Hannover, der französische Präsident François Hollande spricht von Krieg.
Den Pegida-Demonstranten in Dresden brachten die furchtbaren Ereignisse in Paris zunächst keinen neuen Zulauf – anders als nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo Anfang dieses Jahr. Dennoch steht Falk Richters Stück „FEAR“, das wir in diesem Heft abdrucken, wie eine schrille Warnung in diesem Kontext. Das Stück über Phobien, Hassprediger und die „neue Rechte“ in Deutschland, das an der Schaubühne Berlin zur Uraufführung kam, wurde kontrovers diskutiert; es gab Anfeindungen und Drohungen gegen Autor und Theater.
Begleitet wird dieser Stückabdruck von zwei Porträts: Renate Klett hat mit dem kongolesischen Tänzer und Choreografen Faustin Linyekula gesprochen; Dorte Lena Eilers war am Theater an der Ruhr in Mülheim zu Gast. Zwei Beispiele für Kunst, die es schafft, Leitungen zu legen über die hohen Mauern, mit denen sich Europa zunehmend abschottet. Es sind Leitungen, die in die Welt gehen: in den Kongo während und nach der Diktatur Mobutus, nach Algerien (und Frankreich) während des Unabhängigkeitskriegs, um Geschichte, Mechanismen und Geopolitik zu verstehen, die das Zusammenleben der Kulturen gefährden.
„Es gibt nicht nur den Engel der Geschichte, (…) der mit Blick auf die Schrecken der Vergangenheit rückwärts in die Zukunft geweht wird, sondern in den Vereinigten Vergangenheiten stecken so viele Kräfte, (…) dass wir unterhalb der Schwelle unseres Bewusstseins klüger sind, als es der Verstand erlaubt.“ Solche Sätze nimmt man nur wenigen ab. Alexander Kluge ist einer davon. Der Filmemacher und Schriftsteller legt in einem langen Gespräch mit Nicole Gronemeyer in unserer Reihe Neuer Realismus dar, welche Umwege ihn als eigentlichen Illusionisten zum Realismus führen. „Die Fähigkeit, Realist zu sein, heißt, dass ich gewissermaßen in dem Moment, in dem der Kasperle falsch läuft, ihm das Richtige zurufe.“
Darin trifft sich Kluge mit einem weiteren Jahrhundertkünstler in diesem Heft: Der große Dramatiker Tankred Dorst feiert am 19. Dezember seinen 90. Geburtstag. Ralph Hammerthaler hat ihn und seine Ehefrau Ursula Ehler in ihrer Berliner Wohnung besucht – auch um einen erneuten Versuch zu starten, in ihren Apothekerschrank zu schauen, der voll ist mit „Notizen, Zeitungsschnipsel( n), Fundstücke(n), jede Schublade ein mögliches Projekt. Genau betrachtet ist es ein Schrank der Utopien, was man sich am besten auf der Zunge zergehen lässt, denn Tankreds Werk erzählt vom Scheitern aller Zukunftsentwürfe.“ In Graz wurde zum Auftakt der Intendanz von Iris Laufenberg Tankred Dorsts „Merlin“ gespielt. Christoph Leibold berichtet darüber.
Gunnar Decker und Thomas Oberender porträtieren mit der Schauspielerin Inga Wolff und dem Regietrio Bianca van der Schoot, Suzan Boogaerdt und Susanne Kennedy in diesem Heft Künstlerinnen, die eigenwillig ihre ästhetischen Entwürfe auf die Bühne bringen: Wolff als Schauspielerin am Volkstheater Rostock, van der Schoot/Boogaerdt/Kennedy als Regisseurinnen enigmatischer Installationen. Im Künstlerinsert zeigen wir ihre Produktion „Hideous (wo)men“, die sich in einem „Akt abenteuerlicher Forschung in jenem Grenzland der neuen Fusionen (aus Natur und Künstlichem) bewegt, wo andere Daseinsformen entstehen (…), welche wir der Ökonomie und Politik wieder entwenden müssen, da sie grundsätzlich auch aus alten Fesseln hinausführen können“.
Kommen Sie gut ins neue Jahr. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
„Hideous (wo)men“von Susanne Kennedy, Bianca van der Shoot und Suzan Boogaerdt | Seite 4 |
Zwischen Cyborg und Darling„Hideous (wo)men“, ein Kunstwerk des digitalen Zeitalters, von Bianca van der Schoot, Suzan Boogaerdt und Susanne Kennedyvon Thomas Oberender | Seite 8 |
Realismus | Seite 14 |
Tschukowskis TelefonUmwege zum Realismus. Alexander Kluge im Gespräch mit Nicole Gronemeyervon Nicole Gronemeyer und Alexander Kluge | |
Protagonisten | |
Die ReifeprüfungAls die Schauspielerin Inga Wolff nach Rostock kam, war klar: Dies ist der seltene Fall, da das Natürliche auf besondere Weise artistisch wirktvon Gunnar Decker | Seite 19 |
Die Fragmente des LebensUtopie & Ernüchterung: Am 19. Dezember 2015 feiert Tankred Dorst seinen 90. Geburtstagvon Ralph Hammerthaler | Seite 22 |
Artus’ ApokalypseMit einem Fokus auf neuer Dramatik widmet sich Neu-Intendantin Iris Laufenberg am Schauspielhaus Graz dem wüsten Leben einer entwurzelten Menschheitvon Christoph Leibold | Seite 26 |
Kolumne | Seite 29 |
Eine Nacht für Onetti (ist nicht genug)Der Suhrkamp Verlag feiert lateinamerikanische Literaturvon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | |
Stimmen der WüsteDas Theater an der Ruhr in Mülheim war schon immer ein Kreuzungspunkt der Kulturen – nun wird es wichtiger denn jevon Dorte Lena Eilers | Seite 30 |
Mehr, mehr … Zukunft!Was in der Realität noch warten muss, kann in der Kunst des kongolesischen Tänzers und Choreografen Faustin Linyekula schon mal erträumt werdenvon Renate Klett | Seite 33 |
Viele Splitter WahrheitDas interdisziplinäre Festival SummerWorks in Toronto feiert Kunst als Raum des Miteinandersvon Mehdi Moradpour | Seite 36 |
Look Out | |
Unter eiskaltem StromGroßer Junge und diabolischer Verführer: Der Potsdamer Schauspieler Holger Bülowvon Lena Schneider | Seite 38 |
Ernste LoreleyDie Weimarer Schauspielerin Nora Quest sucht nach widerständigen Figuren voller Fragen ans Lebenvon Gunnar Decker | Seite 39 |
Auftritt | |
Augsburg: Apocalypse wow!Theater Augsburg: „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz. Regie Michael von zur Mühlen, Ausstattung Christoph Ernstvon Christoph Leibold | Seite 41 |
Berlin: Prinzip NadrywVolksbühne: „Die Brüder Karamasow“ nach Fjodor M. Dostojewski. Regie Frank Castorf, Ausstattung Bert Neumannvon Thomas Irmer | Seite 41 |
Heidelberg: Der Tanz um den weißen GrillTheater Heidelberg: „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury. Regie Viktor Bodó, Bühne Juli Balázs, Kostüme Fruzsina Nagyvon Dorte Lena Eilers | Seite 43 |
Landshut: Die SpaßguerillasKleines Theater Kammerspiele: „Demut vor deinen Taten Baby“ von Laura Naumann. Regie und Bühne Jochen Strodthoff, Kostüme Luci Hofmüllervon Christoph Leibold | Seite 44 |
Linz: Leblose WeltLandestheater Linz: „Familienfeste (1+2+3). Gespenster & Mrs. Dalloway & Viktoria und ihr Husar“ von Henrik Ibsen, Virginia Woolf und Paul Abraham. Regie Armin Holz, Ausstattung Armin Holz und Michaelvon Margarete Affenzeller | Seite 45 |
Mannheim: Der Duft von ArmutNationaltheater Mannheim: „Phantom (Ein Spiel)“ (UA) von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Regie Tim Egloff, Ausstattung Thea Hoffmann-Axthelmvon Ralf-Carl Langhals | Seite 46 |
Oberhausen: Die AbgereistenTheater Oberhausen: „Taxigeschichten“ von Amir Reza Koohestani nach Naser Ghiasi. Regie Amir Reza Koohestani, Ausstattung Mitra Nadjmabadivon Martin Krumbholz | Seite 47 |
Wuppertal: Krabbensalat und KonsortenTheater am Engelsgarten: „Engels & Friends“ von Michael Wallner. Regie Michael Wallner, Bühne Heinz Hauser, Kostüme Tanja Liebermannvon Martin Krumbholz | Seite 49 |
Stück | |
Psychogramm des UnbehagensDer Autor Falk Richter über Rechtspopulismus, Gesellschaftsängste und sein aktuelles Stück „FEAR“ im Gespräch mit Daniel Richtervon Falk Richter und Daniel Richter | Seite 50 |
FEARvon Falk Richter | Seite 52 |
Magazin | |
Zurück in die ZukunftDas Grazer Festival steirischer herbst reibt sich an der Retromanievon Hermann Goetz | Seite 69 |
Gute Manieren, böse GedankenDas Dialog-Festival, letztmals kuratiert von Krystyna Meissner, versammelt Altmeister und Avantgarde im polnischen Wroc³awvon Renate Klett | Seite 70 |
Insel der SeligenDas Mezinárodní Festival Divadlo feiert Pilsen als Kulturhauptstadt Europas 2015 – die Mobile Academy schleust eine Woche später noch die Natur ins Programmvon Kerstin Car | Seite 72 |
Theatrales SightseeingDie Gruppe kainkollektiv nimmt es in „Burn Out City“ mit der polnischen Nachkriegsgeschichte auf – und verliertvon Marcin Kościelniak | Seite 74 |
Popband oder Flashmob?Der Berliner LAFT – Landesverband freie darstellende Künste e.V. beweist beim 3. Branchentreff seine Qualitäten als Netzwerkvon Tom Mustroph | Seite 75 |
Puppen der MächtigenDas 20. Internationale Theaterfestival Belaja Wescha im weißrussischen Brest. Ein Reisetagebuchvon Peter Krüger | Seite 76 |
kirschs kontexte: Von der Kraft der SubtraktionNomadentum, zwanzig Jahre nach Deleuzevon Sebastian Kirsch | Seite 77 |
Ein Fuß im Schnee, der andere im SandZum Tod von Henning Mankellvon Otto Paul Burkhardt | Seite 78 |
Lob der LangsamkeitDer Dramaturg Alexander Weigel wird achtzigvon Stephan Suschke | Seite 79 |
Nach vorn, nach hintenGabriele Klein (Hg.): Choreografischer Baukasten. Das Buch. transcript Verlag, Bielefeld 2015, 280 S., 29,99 EURvon Maria Vogel | Seite 80 |
Der VollstrickerJakob Nolte: „ALFF“, Matthes & Seitz, Berlin 2015, 277 S., 18 EUR.von Mirka Döring | Seite 80 |
Danke schön!Christoph Schlingensief Edition (2015)von Thomas Irmer | Seite 81 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 82 |
PremierenDezember 2015 | Seite 84 |
TdZ on Tour | Seite 86 |
TdZ on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 87 |
Autoren Dezember 2015/Vorschau | |
Gespräch | Seite 88 |
Was macht das Theater, Eyüp Yildiz?von Dorte Lena Eilers und Eyüp Yildiz |
Margarete Affenzeller
Suzan Boogaerdt
Otto Paul Burkhardt
Kerstin Car
Gunnar Decker
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Hermann Goetz
Nicole Gronemeyer
Ralph Hammerthaler
Thomas Irmer
Susanne Kennedy
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Alexander Kluge
Marcin Kościelniak
Peter Krüger
Martin Krumbholz
Ralf-Carl Langhals
Christoph Leibold
Mehdi Moradpour
Tom Mustroph
Thomas Oberender
Daniel Richter
Falk Richter
Lena Schneider
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