Arbeitsbuch 21
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Arbeitsbuch zum HAU Berlin
Herausgegeben von Kirsten Hehmeyer und Matthias Pees
Paperback mit 180 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISBN 978-3-942449-40-3, Mit zahlreichen Abbildungen, Originalpreis: € 18,00
Wer hinauswill in die Welt, muss als Erstes und vor allem mal vor die Haustüre treten. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die freie deutsche Theaterszene und ihre Zuschauer nicht nur international profiliert und vernetzt, sondern durch zugespitzte künstlerische Auseinandersetzungen mit ökonomischer Realität und sozialen Umfeldern, Stadt- und Lebensraum auch neue Theater- und Interventionsformate entwickelt.
Eine Schlüsselrolle bei diesen Entwicklungen fällt dem Berliner HAU zu, denn das Hybrid theater in Berlin-Kreuzberg mit dem schlagkräftigen Namen widmet sich nicht den literarischen Theatertraditionen und gutbürgerlichen Bildungsaufträgen. Das 2003 aus drei benachbarten Häusern hervorgegangene HAU - dem vormaligen Hebbel-Theater, dem Theater am Halleschen Ufer und dem Theater am Ufer - hat unter der künstlerischen Leitung von Matthias Lilienthal die Räume mit einem Theater der Themen derart überfüllt, dass selbst die umliegenden Straßen und Bezirke noch in den Kunstraum einbezogen und bespielt wurden. Stadt und Welt, Wirklichkeit und Fake, Diskurs und Entgrenzung, Beat und Bildung fanden auf ganz undidaktische, ereignishafte Weise im HAU zu einer Verortung, wie es sie vorher nicht gab in der deutschen Theaterlandschaft.
Nach neun Jahren im Produktionsrausch verlassen im Sommer 2012 Lilienthal und sein Team das HAU: Anlass für ein Arbeitsbuch, das sich den Phänomenen und Konzepten, den Themen und Formaten des HAU wie auch anderer zeitgenössischer Produktionshäuser widmet.
Theater der Themen und Formate. Zum Beispiel das HAU: Mittlerweile winken sie einem ja aus vielen Ecken entgegen, die internationalen Festivals fürs Zeitgenössische in Performance, Theater, Tanz und Design. Mehr noch: Ein ganzes Netzwerk aus Produktionshäusern und Plattformen hat sich gespannt, die freiem Theater aus dem In- und Ausland, verschiedensten Performanceund Diskursformaten, Interventionen im öffentlichen Raum, In stallationen aus den Schnittmengen der Kunstgenres, dokumentarischem, partizipatorischem und postmigrantischem Theater eine Heimat geben. Zugegeben: Im Verhältnis zur Opulenz und Massivität der Institutionen von Repräsentations- und Hochkultur mag dieses Netz noch sehr klein und aus dünnen Fäden gesponnen sein, und seine Knotenpunkte sind bislang fragil und prekär geblieben, was die finanzielle Ausstattung von Programm- und Produktionsarbeit und die soziale Ab sicherung der Künstler angeht. Doch die Stigmatisierung und Peripherisierung als „freie Szene“ haben fast alle außerhalb der Stadttheaterstruktur tätigen Künstler hinter sich gelassen. Die ästhetischen Grenzen sind durchlässiger geworden. Die Frage nach dem Wo und Wie der Produktion, der Recherchen, Proben und Aufführungen ist mittlerweile eine fallweise, keine Grundsatzfrage mehr oder gar ein ideologisches Problem. Ob in einem Produktionshaus oder am Stadttheater, in „freier Wildbahn“, im geregelten öffentlichen Raum oder auch an einem Goethe-Institut irgendwo draußen in der Welt gearbeitet wird; ob mit einem festen Produktionsetat, Fehlbetragsfördermitteln oder zu frei ausgehandelten Regiegagen; ob mit freiberuflichen oder „festen“ Akteuren, Bürgern, Laien oder „Experten des Alltags“ – die sehr deutsch(sprachig)e Kategorie eines „freien Theaters“ wird langsam überwunden, die freie Szene ist selten nur noch ein Kampfbegriff.
Heute verhandeln wir ein Theater der Themen und der neuen Formate, das sich wie ein Pilz oder Virus subversiv hineinfrisst in vorhandene Strukturen und
Kunstapparate, der Programmmacher und Künstler aller Kategorien infiziert – und dem doch eindeutige Ansteckungsquellen zuzuordnen sind: zum Beispiel das HAU. Dieses begann in der jetzigen Form vor neun Jahren bereits selbst als Hybrid, als die Berliner Senatskulturverwaltung für den neu zu berufenden künstlerischen Leiter Matthias Lilienthal die drei Kreuzberger (Off-)Spielstätten Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer und Theater am Ufer zu einem Theaterkombinat zusammenlegte. Ohne die kontinuierliche Unterstützung der damals noch recht jungen kulturellen Projektförderinstitutionen des Bundes und des Landes Berlin wäre das Vorhaben nicht realisierbar gewesen. Das HAU wurde zum besonderen Ort dieser Weiterentwicklung und Umorientierung des deutschen und internationalen Theaters, begünstigt auch durch verschiedene äußere Faktoren: durch seine besondere Lage in Berlin, die Anziehungskraft der Stadt und seine oft überregionale Wahrnehmung; durch ein überdurchschnittlich zahlreiches interkulturelles Publikum, die vielen Subkulturen und internationalen (Künstler-)Communitys; durch das Vorhandensein eines Hauptstadtkulturfonds und den Ausbau der Basisförderungen des Berliner Senats und vieles mehr. So wurde das HAU zur Speerspitze und zum Identifikationspol dieses neuen Theaters der Themen und Formate; für manche Zeitgenossen gar zum Sehnsuchts- und Zufluchtsort. Oder schlicht: zum Kult. So wie er in den neunziger Jahren kein Buch über postdramatische Theaterformen ohne das Frankfurter
TAT und Tom Stromberg hätte schreiben können, sagt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, so könne man heute kaum einen richtigen Blick auf die Entwicklungsdynamik der Theatersprachen gewinnen ohne das HAU und Matthias Lilienthal.
Matthias Lilienthal ist ein exponierter deutscher Theatermacher, ein Trüffelschwein und ein Platzhirsch, ein Polemiker und unbedingter Realist. Ihm ist die Vision oder zumindest die Ahnung, was das HAU im Besonderen und Theater morgen im Allgemeinen vielleicht einmal sein könnte, durchaus persönlich in die Schuhe zu schieben; die Lust auf das Risiko und das Neue, Andere, Unausprobierte ebenso wie die Freude am Feixen, Polemisieren und Polarisieren. Sein vermeintlich simples Credo hat zwei Ausrufezeichen: „Keine Kunstkacke! Nur Realitätskacke!“ Eins ist Matthias Lilienthal dabei jedoch sicher nicht: ein Einzelkämpfer. „Sein“ HAU war Teamarbeit, sein Team selbst ein hierarchisch extrem flaches, eitelkeitstechnisch unaufgeregtes und in der Breite und Tiefe sehr kompetentes Netzwerk aus festangestellten Kollaborateuren, freien Kuratoren und Dramaturgen, Denkern, Scouts und institutionellen Partnern. Dass dabei „inhaltliches“ Arbeiten in den Bereichen Programm und Öffentlichkeit nicht als „höherwertig“, unabhängiger und freier angesehen wurde denn technisches oder administratives, spürte jeder, der mit dem HAU zu tun bekam: Hier arbeiten selbst in der Verwaltung schlicht die coolsten Leute, die Autonomie und Selbstorganisation der Technik der drei HAU-Häuser (plus all der projektweisen Außenspielorte) ist legendär. Und dass es kaum eine Aufgabe gibt, für die die ProduktionsleiterInnen des HAU nicht eine Lösung „heranarbeiten“ könnten – zwischen Visumsbeschaffung, Heuschreckenzucht und Teleshopping-Kundenbetreuung –, hat jedes Regieteam zu schätzen gewusst.
Natürlich aber wäre dieses HAU nichts ohne die Künstler, die hier gelegentlich, immer wieder oder dauerhaft arbeiten, unabhängig von der Frage ihrer ästhetischen und nationalen Herkunft. Viele von ihnen nutzen das HAU als „Brutstätte“ oder zur Weiterentwicklung ihrer Methoden und künstlerischen Arbeitsweisen; anderen ist es ein wichtiger, vertrauter und windgeschützter Hafen und dennoch relevanter „Umschlagplatz“ auf dem internationalen Performing-Arts-Markt, und manche produzieren von hier aus, in eigenen Büros und mit Unterstützung der HAU-eigenen Infrastruktur. Künstler, Dramaturgen, Denker und beobachtende Begleiter des HAU kommen deshalb in diesem Arbeitsbuch zu Wort, und gerade weil sie in ihren Äußerungen oft ins Unreine sprechen, ist dieses Arbeitsbuch zum HAU eben kein Rückschauheft geworden, sondern tatsächlich eine Art Handbuch und Sammelband über die Arbeitsweisen, Strategien und Problematiken, Glücks- und Zufälle eines zeitgenössischen Theaters der Themen und neuen Formate, ein Panorama von heutigem und zukünftigem Schaffen und (Er-)Finden, Programmieren und Ermöglichen. Zum Beispiel am HAU.
Viel Spaß beim Lesen wünschen die Herausgeber und die Redaktion
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Theater der Themen und FormateZum Beispiel das HAUvon Matthias Pees, Kirsten Hehmeyer und Katrin Dod | Seite 6 |
Themen findenvon Carolin Emcke | Seite 8 |
Hoffnung auf Ereignishaftes in der ErwartungserfüllungsanstaltÜber die Performance als Vergrößerungsglas für den unsinnigen Ablauf von Hauptversammlungen und den Schritt von der Ostpolemik in den Neunzigern zu einer Umwidmung des Globalisierungsbegriffsvon Matthias Lilienthal, Dirk Baecker und Tobi Müller | Seite 11 |
Was tun | |
Unser launisches, trashiges DorfDas HAU wäre nichts ohne seine Künstler. Was aber bedeutet es, hier zu arbeiten? Fünf Fragen an Gesine Danckwart, Hans-Werner Kroesinger, Rimini Protokoll und She She Pop von Stefanie Wennervon Hans-Werner Kroesinger, , Stefan Kaegi, She She Pop, Rimini Protokoll, Gesine Danckwart und Stefanie Wenner | Seite 22 |
Im Hier und JetztGedanken über das Verhältnis von Tanz und gesellschaftlichem Kontextvon Pirkko Husemann | Seite 28 |
Oberspezialisten für die türkische HerkunftOder: Warum ich gerne Kleist inszenieren würde. Aufgezeichnet von Michaela Schlagenwerthvon Neco Çelik und Michaela Schlagenwerth | Seite 48 |
Macht mich doch kaputt!Die Philosophin Alice Lagaay und die Jugendprogramm-Dramaturgin Mijke Harmsen im Gespräch über das Nichttun, das Seinlassen und das Flaschen- und Farbbeutel werfen im Houseclubvon Alice Lagaay und Mijke Harmsen | Seite 52 |
Die Welt und Königs WusterhausenPostkolonial, postmigrantisch, postdramatisch: ... Eine interkulturelle Chimäre? Ein Gesprächvon Matthias Pees, Kirsten Hehmeyer, Dorothee Wenner und Christine Regus | Seite 58 |
DurchlaufJenseits der Genregrenzen von bildender Kunst und Theatervon Dominic Eichler | Seite 66 |
ExtraraumThomas Meinecke und Christoph Gurk im Gespräch über Musik im Theatervon Thomas Meinecke und Christoph Gurk | Seite 72 |
Kontexte | |
Der schnelle BrüterEin Gespräch über Dauerpremieren, Geschwindigkeitsrausch und die Ethik der Trägheitvon Matthias Lilienthal, Joseph Vogl und Barbara Gronau | Seite 82 |
Kritik ist das Sofakissen der BourgeoisieEin Gespräch von HAU-Kuratorin Stefanie Wenner mit der Slawistin Sylvia Sasse über Kunst und Verbrechen von 2003 bis heutevon Stefanie Wenner und Sylvia Sasse | Seite 90 |
Im postkolonialen RaumÜberlegungen zum politischen Kuratierenvon Stefanie Carp | Seite 96 |
Polski ExpressEin Streifzug durch Geschichte und Gegenwart des polnischen Theatersvon Carena Schlewitt | Seite 100 |
Öffentlichkeit | |
Wie kann ich erklären, was heute Abend dem deutschen Publikum widerfuhr?Über einen Streit mit einem wütenden Zuschauervon Rabih Mroué | Seite 110 |
Bin ich weiß, weiblich, bürgerlich und feige?Über „X Wohnungen“ in Istanbulvon Ayhan Sönmez | Seite 128 |
Unwahrscheinliche AnsprachenWenn sich das Theater an Öffentlichkeiten wendet, die es noch nicht gibtvon Sibylle Peters | Seite 130 |
Ausblick | |
Gratiskoks für alleMatthias Lilienthal, Philippe Quesne und Guido Graf im Gespräch mit Tobi Müller über den 24-Stunden-Marathon „Unendlicher Spaß“von Matthias Lilienthal, Philippe Quesne, Tobi Müller und Guido Graf | Seite 136 |
Better City, Better LifeBenjamin Foerster-Baldenius und Matthias Rick von raumlaborberlin sprechen mit Christoph Gurk und Philipp Oswalt über „The World Is Not Fair – Die Große Weltausstellung 2012“von Philipp Oswalt, Christoph Gurk und Matthias Rick | Seite 158 |
Von A bis ZEin subjektives Künstler-ABCvon Hans-Werner Kroesinger, Hans-Thies Lehmann, Eva Meyer-Keller, matthaei & konsorten, She She Pop, Rimini Protokoll, - Showcase Beat Le Mot, Anna Sophie Mahler, Chris Kondek, Angela Richter, , Tamer Yigit, Branca Prlic, Patrick Wengenroth, Gesine Danckwart, Harriet Maria, Peter Meining, Simone Aughterlony, Constanza Macras, Martin Clausen, Boris Nikitin, Stefanie Lorey, Turbo Pascal, Jörg Lukas Matthaei, Jeremy Wade, Ingo Gerlach, Hannah Hofmann, Cheap, Laura Schäfer, Kadir Memis alias Amigo, andcompany&Co., God’s Entertainment und raumlabor | Seite 168 |
„Mit abgedruckten Wissenschaftler-Gesprächen, Künstler-Statements und Dramaturgen-Essays macht das Buch jene Diskussionsdichte und Komplexität sichtbar, die das HAU wie kaum eine andere Institution der Stadt in der letzten Dekade anzettelte.“Berliner Zeitung
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